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Simon KEENLYSIDE: DON’T GILD THE LILY!

13.06.2017 | Sänger

Simon Keenlyside: Don’t gild the lily!
(= „Vergolde nicht die Lilie“ / Schmücke nichts aus, was bereits perfekt ist!“)

Juni 2017 / Renate Publig

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Simon Keenlyside © Robert Workman

Die Probe zu Debussys Pelléas et Mélisande zu Ende ging gerade zu Ende, in der Garderobe summte Simon Keenlyside zur Überprüfung der Stimmbänder noch ein paar Töne, und schon ging es zum Interview. Keenlyside zeigte sich, ganz britischer Gentleman, als charmanter, gesprächiger Partner, der mühelos zwischen Englisch und Deutsch wechselte. Im Sinne Debussys sprach er sich für einen intuitiven Zugang zu Pelléas et Mélisande aus und dafür, nicht mehr hineinzuinterpretieren, als ohnehin vorgegeben und das Wesen einer Figur, die ohnehin perfekt charakterisiert ist, nicht zu überzeichnen. Oder eben auf Britisch: Don’t gild the lily.

Herr Keenlyside, wie laufen die Proben?

Wunderbar, Marco Marelli ist ein sehr interessanter Mann mit guten Ideen. Eine Oper wie Pelléas zu inszenieren, ist eine Herausforderung. Bei Le Nozze di Figaro zum Beispiel ist genau festgelegt, welche Person wann die Bühne betritt und welche Aktionen stattfinden müssen, damit die Handlung nicht ins Stocken gerät. Bei Pelléas ist gar nichts klar, denn im eigentlichen Sinn passiert ja nichts. Das meiste spielt sich im Inneren der Personen ab. Es ist, als würde man Spinnweben fangen! Marco bietet einen guten Ansatz, er baut Bilder in die Szenen ein, die dem Publikum das Innenleben der Protagonisten ins Bewusstsein bringen.

 In wieweit ist es Ihnen möglich, Ihrer Interpretation einer Figur in einer Neuinszenierung einzubringen?

Generell fahre ich sehr gut damit, zunächst alle Anweisungen des Regisseurs zu befolgen; wenn ich feststelle, dass etwas für mich nicht passt, beginne ich langsam, kleine Veränderungen vorzunehmen, immer noch innerhalb des vorgesteckten Rahmens. Und ich frage, bevor ich etwas verändere! In den meisten Fällen sind die Regisseure einverstanden, wenn man eigene Ideen einbringt. Das funktioniert wunderbar, in einer guten, freundlichen Atmosphäre können sehr kreative Prozesse stattfinden!

Debussy wehrte sich gegen ein Analysieren seiner Oper, er forderte das Publikum auf, das Stück, die Musik „mit dem Herzen“ zu hören!

Bis zu einem gewissen Grad kann der Mensch nicht anders als nachzudenken, zu analysieren, doch gerade bei Pelléas et Mélisande sollte man nicht „in Einzelteile zerlegen“, sondern es um einen Gesamtsinn, um ein intuitives Hören! Für mich hat dieses Stück etwas Pantheistisches, das „Göttliche“ existiert in allen Dingen. Pelléas et Mélisande schildert das Leben, betrachtet durch die Natur, es zeigt das Symbolistische der Natur.

Gleich in der ersten Szene begegnen wir Golaud, der seine erste Frau verloren hat, die näheren Umstände wissen wir nicht, ebenso wenig, wie wir Mélisandes Schicksal kennen.

Zu Beginn sind Mélisande und Golaud wie zwei Ertrinkende, die sich gemeinsam an einen Strohhalm klammern, beide brauchen Hilfe! Um diese Figur zu porträtiert, muss man viele Farben und Stimmungen finden, Golauds Stimmung zu Beginn der Oper empfinde ich wie im Lied „Das Wirtshaus“ in Schuberts Winterreise: „Auf einen Totenacker hat mich mein Weg gebracht … o unbarmherz’ge Schenke, doch weisest du mich ab. Nun weiter denn, nur weiter, du treuer Wanderstab!“ Golaud ist traurig, er muss jedoch seinen Weg fortsetzen. In dieser Inszenierung trägt Golaud eine Waffe, er könnte sich jederzeit selbst töten, doch das will und kann er nicht! Eine zutiefst realistische Figur, wir alle erleben Momente, in denen wir meinen, es ginge nicht weiter, und dennoch gibt man nicht auf. Es braucht nur eine Weile, bis man aus dem Sumpf herausfindet.

Denn dann findet Golaud diese junge schöne Frau, er schöpft er neue Hoffnung. Als er die Krone im Brunnen sieht, denkt er vielleicht darüber nach, ob sie ein Symbol für sein Leben am Hof ist.

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Probenarbeit Pelléas et Mélisande / Marco Arturo Marelli, Simon Keenlyside  © Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

Pelléas wird als die „helle“ Figur beschrieben, Golaud als „dunkel“ – sozusagen zwei Seiten einer Medaille?

Als junger Sänger suchte ich oft nach Hintergründen zu den Figuren, die ich verkörperte. Als ich den Grafen in „Le Nozze di Figaro“ sang, las ich Beaumarchais, höchst interessant. Ich stellte jedoch fest, dass es mich bei der Rollengestaltung nicht weiterbrachte.

Wahrscheinlich war Golaud früher ein anderer Mensch, es ist davon auszugehen, dass er schöne Momente erlebt hat mit seiner ersten Frau, als das erste Kind zur Welt kam. Bis zu einem gewissen Grad ist eine Vorgeschichte wichtig, um die Gefühlswelt einer Person zu verstehen. But you don’t have to gild the lily! (= es bedarf keiner Ausschmückung, wenn etwas bereits perfekt ist). Der Beginn der Oper öffnet eine neue Tür, wir werden mit der Situation konfrontiert, in der sich Golaud derzeit befindet. Es genügt zu erfahren, dass er seine Frau verloren hat, um in seine Welt einzutauchen.

Liebt Golaud Mélisande wirklich?

Auf gewisse Weise schon. Doch man müsste erst „Liebe“ definieren! Von „einander vertrauen“, sich auf den anderen verlassen können bis zum leidenschaftlichen Gefühl ist alles in dem einen Wort enthalten.

Und Mélisande?

Ich weiß nicht, ob sie irgendeinen der beiden Männer liebt. Mélisande tappt in dieser Ehe in eine Falle! Wieder sehr realistisch, betrachtet man die Schicksale vieler Frauen in jener Vergangenheit, als es zur Ehe keine Alternative gab. In der Frauen weder die Möglichkeit zur Arbeit noch zu einer Ausbildung hatten. Sie waren oft gefangen in einer lieblosen Ehe, möglicherweise mit Kindern, die noch mehr verhinderten, dass sie sich aus den Fesseln befreiten. Sie blieben, weil das ihre einzige Sicherheit bedeutete. Mélisande teilt ein ähnliches Schicksal. Sie sagt, dass sie Golaud mag und dass sie bleiben möchte, doch sie ist von einem Gefängnis ins nächste geraten. Wie Golaud selbst!

Beide fassen rasch den Entschluss, einen gemeinsamen Weg zu gehen …

Golaud fühlt sich natürlich von Mélisande angezogen, er ist wahrscheinlich mehr in Mélisande verliebt als umgekehrt. In jedem Fall ist es eine sehr ungesunde Liebesbeziehung. Wie er sie behandelt – er spricht mit ihr wie mit einem Kind, und im Publikum beobachtet man und weiß, dass das nicht gut gehen kann. Man denkt nur: „Oh nein, lehne dich nicht so weit aus dem Fenster, du fällst herunter!“.

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Simon Keenlyside während einer Probe zu Pelléas et Mélisande © Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

Debussy wollte nie als Impressionist bezeichnet zu werden.

Letzte Woche spielte Radu Lupu Tschaikowskis Zyklus „Die Jahreszeiten“. Jedem Satz war ein Gedicht zugeordnet, von Puschkin, Tolstoi und anderen Dichtern. Das eröffnete einen Anker, ein kleines Fenster! Es war nicht unbedingt notwendig, um die Musik genießen zu können, doch in Verbindung mit dem Gedicht konnte man mit einem Mal die Lerche singen oder den Burschen mit den Holzschuhen tanzen hören.

In dieser Oper verhält es sich ähnlich: Debussy bietet er Verbindungen und Symbole, wie in diesen kleinen Gedichten. Die Handlung ist ein Anker, über den er viele Lagen Farben und Stoffen schichtete. Debussy hasste das Wort „Impressionist“! In dieser Oper findet sich jedoch ein hoher Grad an Symbolik. Meiner Meinung nach ist es unsere Aufgabe als Sänger, die Geschichte möglichst geradlinig zu bringen, und die Schichten an Harmonik, Textinformation, Zusammenspiel, Bühnenbild, Kostüme, Implikationen werden darübergelegt. Das Werk muss intuitiv erfassbar sein

Ein anderes Beispiel: Ein Mann trifft auf einer Party eine schöne Frau. Sie tanzen miteinander – und finden heraus, dass beide verheiratet sind. Daraufhin beginnt der Wahnsinn, sie können ihren Gefühlen nicht nachgeben – aber sie können auch nicht voneinander lassen. Das ist nicht Impressionismus, sondern die vielen Möglichkeiten von Realität.

Diesen Möglichkeiten von Wahrheit begegnen wir in Pelléas et Mélisande. Die Handlung von Pelléas ist realistisch, sie zeigt jedoch lediglich eine der Möglichkeiten vom Verlauf der Geschichte! Ich bewahre mir gerne eine Sicht auf die Realität der Menschen, wie sie sich zueinander verhalten – oder nicht zueinander verhalten, wie die Familien in dieser Geschichte. Wenn die Geschichte zu symbolisch, zu abstrakt dargestellt wird, beginne ich mich in der Inszenierung zu verlieren. Zum Beispiel kann eine abstrakte Lichtregie wunderbar anzusehen sein, oft ein Kunstwerk – aber uns Künstlern nimmt es den Boden.

Wie ist es für Sie, in französischer Sprache zu singen?

Ich bin mit der Sprache aufgewachsen, sie ist dem Englischen sicher näher als Deutsch. Wobei es interessanterweise schwieriger ist, Oper auf Französisch zu singen, als Lied! Das scheint eine Spezialität der Oper zu sein, bei Onegin ging es mir ähnlich: Unglaublich, wie viele Worte er innerhalb weniger Takte zu singen hat! Ganz besonders im Schlussduett, wenn er völlig hysterisch und voll des Bedauerns ist und hundert Worte gleichzeitig sagen möchte …

In Ihren Rollengestaltungen scheint mir, dass Sie die Vielschichtigkeit einer Figur zeigen, in dem Sie zwei oder drei eher gegensätzlich Aspekte auswählen, zum Beispiel Don Giovanni als charismatischen Verführer – den gleichzeitig eine Einsamkeit umgibt.

John Cranko meinte, wenn man versucht, zehn verschiedene Seiten zu zeigen, zeigt man gar nichts. Es ist, wie er es drastisch ausdrückte, wie Erbrochenes auf der Bühne. Jede Figur kann nicht mehr als zwei, drei Dinge präsentieren, alles andere übersteigt die Aufnahmefähigkeit der Zuseher. Diesen Rat nahm ich gerne an, man muss sich eine Klarheit der Aussage bewahren, um dem Publikum die Möglichkeit zu geben, das Stück erfassen zu können.

Wenn wir bei Giovanni bleiben, wähle ich Arroganz, Adel – und oft eine Art von sehnsuchtsvoller Einsamkeit. Das ist es, was ihn meiner Ansicht nach antreibt. Im Prinzip ist er von Angst erfüllt, mit sich allein zu sein und sich seinen Gedanken stellen zu müssen. Die dritte Seite von Don Giovanni ist für mich diese animalische Komponente.

Onegin hingegen ist für mich voller Sehnsucht, voller des Bedauerns, besonders gegen Ende hin. Tschaikowsky hat Onegins Verzweiflung komponiert, die Zeit zurückzudrehen und noch einmal von vorne beginnen zu können. Natürlich ist er arrogant – aber meistens wird hinter seinem Rücken über ihn gesprochen, wenn er nicht auf der Bühne ist.

Im Grunde weiß man, wie man seine Rolle anlegen möchte. Es stimmt also, für die Darstellung meiner Figuren beschränke ich mich auf zwei oder drei Aspekte. Doch das Schöne an Oper ist, dass sie insgesamt natürlich aus wesentlich mehr Schichten besteht und man immer wieder neue Aspekte eines Werkes entdeckt!

Vielen Dank für das Gespräch und toi, toi, toi für die Aufführungen!

 Das Gespräch führte Renate Publig am 6.6.2017

 

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