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Sergey Prokofiev: Klaviersonate Nr. 6 Op. 82 in A-Dur – Neuerscheinungen; zwei komplett unterschiedliche gültige Ansätze Jean Muller: Reflets et symétries – Soupir Editions CD Alexander Melnikov: Prokofiev Klaviersonaten Vol. 1 – harmonia mundi CD

20.12.2016 | cd

Sergey Prokofiev: Klaviersonate Nr. 6 Op. 82 in A-Dur – Neuerscheinungen; zwei komplett unterschiedliche gültige Ansätze

Jean Muller: Reflets et symétries – Soupir Editions CD

Alexander Melnikov: Prokofiev Klaviersonaten Vol. 1 – harmonia mundi CD

Prokofiev hatte an den insgesamt 10 Sätzen seiner drei „Kriegssonaten“ (Nr. 6, 7 und 8) gleichzeitig geschrieben. Aleatorisch und assoziativ mischte sich Tagesverfassung, Atmosphärisches und Zeitumstände in Klangbilder von berauschender rhythmischer Kraft. Glockenschläge, harte Chromatik, Schicksalsmotiv, Glissando-Wellen, Akkorde „con pugno“ (mit der Faust geschlagen) ähnlich der „Eisschlacht“ aus der Kantate „Alexander Newskij), lyrische Einschübe wie aus Cinderella oder Romeo und Julia, Reminiszenzen bis zu einem valzer lentissimo und einem dramatischen Finale bilden die zu interpretierenden musikalischen Bausteine und Gegensätze. Aif jeden Fall hat der große Pianist Prokofiev alle Möglichkeiten des Instruments ausgelotet und bis an die Grenzen weitergetrieben.

Aktuell sind in völlig unterschiedlichem Kontext zwei Neueinspielungen erschienen, beide höchst beachtlich:

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Der luxemburgische Pianist Jean Muller nennt sein neues Album „Reflets et symétries“. Es vereint die erste Klaviersonate von Johannes Brahms aus dem Jahr 1853 mit den Études Nr. 5 und 13 von György Ligeti „Arc-en-Ciel“ (=Regenbogen) und „L‘Escalier du Diable“ (=Teufelsstiege), die für Muller geschriebene Barcarolle Nr. 2 seines Landsmannes Ivan Boumans mit der berühmten sechsten Klaviersonate von Prokofiev. Es ist ein einem Rezital nachempfundenes, klug zusammengestelltes Programm geworden, das den nicht gerade ins Ohr fallenden Symmetrien der Sonaten von Brahms und Prokofiev nachspürt, aber eben auch Prokofiev aus der aktuellen Moderne rückwärtsgewandt interpretiert. Muller transponiert den impressionistischen Duktus und das Sangliche der Barcarolle und von Ligetis „Regenbogenetüde“ hinein in Prokofievs Sonate. Das fokussiert einerseits die Aufmerksamkeit mehr hin auf die Mittelsätze, stärkt die Kontraste und mildert die exzessiven Ostinati und die rhythmische Motorik. Trotz der feinfühlig romantisch interpretierten Brahms-Sonate und der lyrischer ausfallenden Prokofiev Sonate bilden das Herz und den Angelpunkt der CD die zwei Ètüden von Ligeti, gewaltig und majestätisch die dreizehnte, lichtdurchflutet mit Swing die fünfte. Hier kann Muller ganz zeigen, was in ihm steckt, aber auch was ihn  von anderen Interpreten abhebt. Mullers Anschlagskultur, sein Feeling für dynamische und motivische Entwicklungen sind phänomenal. Ebenso ist die Barcarolle von Boumans eine wahre Entdeckung für Freunde anspruchsvoller Klaviermusik.

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Alexander Melnikov, russischer Klaviervirtuose und auch auf Tonträger gut dokumentierter Kammermusikpartner etwa der deutschen Geigerin Isabella Faust, legt mit seinem neuen Album den ersten Teil einer Gesamtaufnahme sämtlicher 10 Klaviersonaten Prokofievs vor. „Der Student und der Meister“ vereint drei Sonaten Prokofievs: Die brillante zweite Sonate (1912), als der Komponist noch Student am St. Petersburger Konservatorium war, die sechste (1939) und die achte (1944). Letztere zeigen den reifen Prokofiev, der eklektisch sein Werk Revue passieren, aber auch Krieg und Diktatur nicht unkommentiert vorbeiziehen lässt. Dennoch ist bei Prokofiev anders als bei Shostakovich der Anteil „absoluten“ Musizierens größer. Melnikov fasziniert schon bei den Karnevalsthemen des ersten Satzes, bewahrt im Lyrischen, den kontrapunktischen Passagen als auch skurril clowensken Motiven stets einen klaren Klang, sein Anschlag ist sachlicher als derjenige Mullers. Das Vivace der zweiten Sonate ist ein virtuoser Parforceritt sondergleichen. Atemberaubend! Melnikov entwickelt  einen starken Vorwärtssog, er schöpft das innere Drama der Sonaten voll aus. Dadurch ist der Gesamteindruck seiner Interpretation moderner, expressiver und härter zugleich. Bei der sechsten Klaviersonate wählt Melnikov (ausgenommen das Allegretto) raschere Tempi im Vergleich zu Muller und bringt eine größere subjektive Note in die Interpretation mit ein. Nach Punkten hat Melnikov bei Prokofiev für mich knapp die Nase voraus. 

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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