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Serge DORNY / Opéra Lyon: Lassen wir doch die Kunst die Welt verändern

“LASSEN WIR DOCH DIE KUNST DIE WELT VERÄNDERN!” – INTERVIEW MIT SERGE DORNY

 Vor der „Rusalka“ Premiere im Dezember fand Serge Dorny, Generaldirektor der Opéra de Lyon, Zeit für ein Interview für den „Merker“.

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Serge Dorny. Foto: Philippe Pierangeli

 Ich besuche seit vielen Jahren regelmäßig Opernaufführungen in Lyon. Was mir schon immer aufgefallen ist, ist der hohe Anteil an jungem Publikum hier. Ich habe in einem Bericht gelesen, dass 42% der Besucher unter 45 und sogar 25% unter 25 Jahre alt sind. Ich kenne kein anderes Opernhaus, wo man so viele Jugendliche im Publikum sieht. Herr Dorny, wie schaffen Sie es, so viele junge Menschen in die Oper zu bekommen?

 Es gibt kein Wundermittel dafür. Es ist das Ergebnis eines langen Arbeitsprozesses, in dem wir das Image des Hauses verändert haben. Vor meinem Amtsantritt 2003 wurde das Haus hauptsächlich nur von Abonnenten besucht. Der Anteil der Abonnenten lag damals bei ca. 85%. Die Auslastung 2003 lag ungefähr bei 87%, das heißt, mit Ausnahme der Abonnenten haben nur sehr wenige Menschen die Oper besucht. Man hat damals keine Werbung gemacht, da die Kosten für die Werbung in keiner Relation zu dem eventuellen Mehrwert des Ertrags vom Verkauf der restlichen Karten gestanden wären.  Außerdem dachten viele Menschen, die Oper sei eh immer ausverkauft und haben sich gar nicht um Karten bemüht. Ich kam 2003 aus Großbritannien hierher. Ich bin Belgier, aber ich hatte zuvor acht Jahre in Großbritannien gearbeitet. Dort ist die kulturelle Situation eine ganz andere, speziell was die Art der Kulturförderung in Form von öffentlichen Subventionen betrifft. Ich war künstlerischer Leiter des London Philharmonic Orchestra, wir hatten nur 8% Subventionen im Gesamtbudget. Der Anteil an öffentlicher Subvention an der Opéra de Lyon betrug im Jahr 2003 90%! Meine Idee bei Amtsantritt war, dass es nicht sein kann, dass die Oper den 85% Abonnenten gehört, wo doch der Spielbetrieb von allen, die Steuern bezahlen, finanziert wird. Die Oper war so etwas wie ein Privatklub geworden. Das Abonnementpublikum hat sogar Einfluss auf den Spielplan genommen und entschieden, was gespielt wird. Die Abonnenten hatten ja einen sehr konservativen Geschmack und dementsprechend war auch der Spielplan sehr konservativ. Es wurden immer wieder die dreißig gleichen Opernhits gespielt. Ich wollte daher die Oper öffnen für alle Publikumsschichten der Stadt und der Region. Ich habe daher entschieden den Anteil der Abonnenten auf 45% zu reduzieren und alle anderen Karten in den freien Verkauf zu geben. Die Kartenpreise waren 30 bis 60 Euro im Jahr 2003, also sehr eng beieinander. Ich habe dann entschieden die Kartenpreise von 5 Euro bis ca. 100 Euro neu zu staffeln. Ich habe auch die Abonnentenermäßigung gestrichen. Das Abonnement ist eine Garantie eine Karte zu bekommen, das sollte den Besuchern etwas wert sein. Heute ist der Abonnentenanteil nur noch 23%. Aber wir haben eine Auslastung von 96%! Wir sind somit nicht mehr abhängig von den Abonnenten und können daher auch einen viel interessanteren Spielplan anbieten, da wir jetzt für verschiedene Publikumsschichten spielen. Wir haben ein sehr neugieriges Publikum. Die Öffnung des Hauses war mir sehr wichtig. Das geht sogar so weit, dass die Rapper und Breakdancer die Zugangsterrasse der Oper den ganzen Tag benützen dürfen. „Let’s meet at the opera!“ ist ein Begriff unter jungen Menschen. Das heißt noch nicht, dass diese jungen Leute in die Oper kommen, aber die Oper ist auch für sie ein Begriff geworden. Wie haben versucht mit offensiver Pressearbeit unser Haus wieder den Bewohnern der Stadt näherzubringen. Wir sind auch in die Armenviertel von Lyon gegangen, in Schulen, in Sozialzentren und sogar in Kneipen, um das Interesse für Oper bei Menschen zu wecken, die von Oper noch nie etwas gehört haben. Die Oper bekam einen ganz neuen Stellenwert für die Stadt. Sie war nicht mehr ausschließlich ein Kulturbetrieb mit einem künstlerischen Angebot, plötzlich bekam die Oper auch eine soziale und ökonomische Bedeutung. Es hat sich dadurch auch ein großes Vertrauensverhältnis gebildet zwischen der Stadt und der Institution Oper. Das hat uns ermöglicht unser Repertoire zu verbreitern, aber auch neue Publikumsschichten in die Oper zu bekommen. Das ging natürlich nicht von heute auf morgen, das braucht Zeit. Die ersten beiden Spielzeiten waren nicht einfach. Aber jetzt haben wir das Publikum stabilisiert. Wie liegen bei einer Auslastung zwischen 94 und 96%  bei einem zum Teil sehr ausgefallenen Programm wie zum Beispiel in dieser Spielzeit „Sunken Garden“ von Michel van der Aa oder „Die Gezeichneten“ von Franz Schreker. „Romeo und Julia“ von Boris Blacher ist schon Monate vor der Premiere ausverkauft! Bei einer Publikumsumfrage haben 80% der Befragten angegeben, sie kommen zu uns, weil sie in der Oper gefordert werden. Und das ist Kunst, das Publikum zu fordern und zu bilden sowie die Gedanken des Publikums zu stimulieren. Kunst ist nicht etwas, das beruhigt, das nicht stört. Plato sagte, dass Musik eine kosmische Kraft hat, die Welt ändern kann. Lassen wir doch die Kunst die Welt verändern! In London hatte ich ein ähnliches Problem. Als ich in London ankam, hatten die Konzerte des London Philharmonic Orchestra eine Auslastung von nur 45% und wir hatten ein Defizit von 3 Millionen Pfund. Ich wollte diesem Orchester wieder eine unverwechselbare Identität geben. Dadurch wollte ich aufzeigen, wie sich unser Orchester vom London Symphony Orchestra oder vom Philharmonia Orchestra unterscheidet. Wenn man in London fünf große Orchester hat, wo stehen wir dann? Und meine Arbeit dort hat sich gelohnt. Als ich 2003 London verlassen habe, hatten die Konzerte des London Philharmonic Orchestra eine Auslastung von 87% in einer Halle von mehr als 3000 Plätzen! Und man sieht: eine künstlerische Identität kann man vermitteln. Und was auch interessant ist: Leute, die musikalisch nicht vorgebildet sind, sind sehr neugierig; die haben keinen schlechten Geschmack. Man sollte diese Leute nicht unterschätzen, sie sind in Gedanken oft viel offener als Fundamentalisten. Kunst überlebt keinen Fundamentalismus. Fundamentalismus stimuliert nicht. Man ist nur überzeugt von dem, was man macht. Man sollte niemals überzeugt sein von dem, was man macht; das gibt Kraft, das bringt uns zu den Fragen „Was machen wir? Für wen? Warum?“ Diese Fragen muss man sich ständig stellen. Und das sind auch die Fragen, die ich meinen Mitarbeitern stelle. Die Sichtweise auf Kunst hat sich bei den Mitarbeitern des Hauses geändert. Und die Mitarbeiter sind natürlich die besten Botschafter des Hauses.

Ich habe aber auch andere Maßnahmen gesetzt um junges Publikum in die Oper zu bekommen. Ich habe die Regionalverwaltung davon überzeugen können, für Schüler der Lycées (das sind die Oberstufengymnasien mit den 14-18 Jährigen) jährlich 3000 Karten zu kaufen. Also z.B. für jede Vorstellung der „Gezeichneten“ gibt es 25 Karten pro Vorstellung, alle Schulen der Region haben die Möglichkeit sich um die Karten zu bewerben. Die Karten werden nicht einfach verteilt, die Schulklassen müssen sich mit einem Projekt dafür bewerben. Das Projekt muss sich mit der Oper befassen, die die Klasse besuchen will. Eine Kommission sieht sich alle eingereichten Projekte an und entscheidet dann, welche Schulklasse die Karten für die jeweilige Vorstellung bekommt. Auf diese Art werden die Jugendlichen auf die Oper bestens vorbereitet. Die Klasse, die für eine Vorstellung ausgewählt wurde, erhält vor der Vorstellung eine Führung durch das Haus und trifft nach der Vorstellung die Künstler, um mit ihnen diskutieren zu können. Die Busfahrt zahlt ebenfalls die Regionalverwaltung. Weiters bieten wir interessierten Jugendlichen immer ein Kontingent von Karten um 10 Euro an. Wie Sie sehen haben wir also nicht eine Maßnahme, sondern viele Maßnahmen gesetzt um neues und vor allem junges Publikum ins Haus zu bekommen.

 Wie sieht derzeit die finanzielle Situation der Oper von Lyon aus? Wieviel Subventionen, wieviel Eigendeckung, wieviel Sponsering?

 Unser Budget beträgt derzeit ca. 38-40 Millionen Euro, davon sind 26 bis 27 Millionen Euro Subventionen (60% von der Stadt Lyon, 20% vom Staat, 10% vom Departement du Rhône und 10% von der Region), der Rest stammt aus eigenen Einnahmen, also aus dem Kartenverkauf, von Sponsoren, aus Einnahmen durch Co-Produktionen und sonstige Einnahmen (Führungen, Restaurant im Haus etc.). Sie sehen also, dass sich die Eigendeckung seit meinem Amtsantritt stark positiv entwickelt hat. Der Subventionsvertrag ist immer für fünf Jahre abgeschlossen. Das garantiert eine gesicherte Planung für jeweils fünf Jahre.

 Nach welchen Gesichtspunkten erstellen sie ihre Spielpläne?

 Ich habe in den letzten Jahren oft ein Thema für die ganze Spielzeit gehabt. Warum? Es gibt so viele Opern, und wir können pro Saison nur neun oder zehn Werke spielen. Durch ein Thema habe ich mich selbst verpflichtet die Auswahl einzuschränken aber auch um neue Stücke zu finden. Jetzt kommt meine 13. Saison. Wir haben schon viele Werke gebracht, jetzt bin ich viel freier in der Auswahl, weil ich weiß was ich noch nicht gebracht habe und was ich noch machen will. Das jährliche Festival hat immer ein Thema, das bleibt auch so. Dieses Jahr ist das Thema „Les Jardines Mysterieux“ mit Schrekers „Die Gezeichneten“, Glucks „Orphée et Eurydice“ und „Sunken Garden“ von Michel van der Aa. Das Festivalmotto der nächsten Jahre wird sein: 2016 „Die Fremde“, 2017 „Politik und Diktatur“ und 2018 „Kunst als Mittel des Widerstandes“. Ich wähle zuerst die Werke aus und dann suche ich ein Team, also einen Dirigenten und einen Regisseur, die zusammen passen, die zusammen arbeiten können. In der Vergangenheit hatten wir sehr erfolgreiche Duos hier, wie zum Beispiel Petrenko und Peter Stein für den Tschaikowsky-Puschkin-Zyklus oder Lothar Koenigs und Nikolaus Lehnhoff für den Janácek-Zyklus. Dann habe ich versucht eine neue Generation von Regisseuren zu finden, wie z.B. David Marton, der hier seine erste Oper („Capriccio“ von Richard Strauss) inszeniert hat, Christophe Honoré oder David Bösch, die in der letzten Spielzeit „Dialogues des Carmélites“ bzw. „Simon Boccanegra“ inszeniert haben. Auch bei den Suche nach jungen Dirigenten war ich sehr erfolgreich, denken sie nur an Daniele Rustioni („Simon Boccanegra“) und Stefano Montanari („Le Comte Ory“). Ich finde es wichtig nicht immer mit den gleichen Personen zu arbeiten. Und mit neuen Regisseuren und jungen Dirigenten können wir der Oper eine Zukunft geben. Aber ich arbeite natürlich auch weiterhin mit Künstlern, mit denen ich schon lange verbunden bin wie z.B. Laurent Pelly.

 Sie bringen auch fast jedes Spielzeit eine Uraufführung heraus. Wie machen Sie das?

 Wir bemühen uns jedes Jahr ein neues Werk herauszubringen, nicht immer große Werke, und manchmal handelt es sich um Co-Produktionen, die wir unmittelbar nach der Uraufführung zeigen, wie z.B. die Oper von Michel van der Aa, die ich in Auftrag gegeben habe gemeinsam mit der English National Opera, die das Werk jedoch schon uraufgeführt hat. Wir haben angefangen mit „Le Negre“ (nach Jean Genet) von Michael Levinas, dann folgte „Faustus, the Last Night“ von Pascal Dusapin, Peter Eötvös hat für uns „Lady Sarashina“ geschrieben und Kaija Saariaho die Oper „Emilie“.  In den letzten zwei Jahren brachten wir die Uraufführungen der Opern „Claude“ von Thierry Escaich und „Steve Five“ von Roland Auzet heraus. Auch für die nächsten Jahre habe ich Kompositionsaufträge vergeben, so z.B. an Jérôme Combier, einen jungen französischen Komponisten, der ein Werk nach dem Roman „Erde und Asche“ von Atiq Rahimi geschrieben hat,

„Claude“, eine Oper zum Thema Todesstrafe, war zu 100%  ausverkauft, einfach unglaublich! Wir bringen diese Aufführung auch demnächst als DVD heraus. Man kann nicht nur von der Vergangenheit leben. Man muss die Vergangenheit nutzen und gleichzeitig die Tore für die Zukunft öffnen. Man kann also nicht nur die Opern der Vergangenheit spielen sondern muss auch Aufträge für neue Werke erteilen. Seit Monteverdis „L’Orfeo“ wurden ca. 50.000 bis 60.000 Opern geschrieben. Einen Großteil dieser Opern verdanken wir dem Mut, den einige Personen hatten um diese Opern in Auftrag zu geben. Wenn die Menschen der Zukunft in unsere Zeit zurückblicken werden, dann sollen sie feststellen, dass auch 2014 oder 2015 eine interessante Zeit war, in der große Werke hervorgebracht wurden. Ich habe den Eindruck, dass die Menschen in der Vergangenheit ein größeres Bewusstsein hatten für nachhaltige Entwicklungen als heute, dass man an die Zukunft gedacht hat. Und ich habe den Eindruck, dass wir diese Zukunftsorientierung verloren haben. Ich glaube, dass wir so egoistisch geworden sind und nicht mehr an zukünftige Generationen denken. Man muss etwas zurückgeben, nicht nur nehmen. Es wird einen Moment geben, wo man nicht mehr nehmen kann, weil wir schon alles genommen haben. Das ist jedoch das Phantastische an der Kunst, man kann immer mehr geben als man nimmt.

 Ich glaube ein schöneres Schlusswort kann man nicht finden. Vielen Dank, Herr Dorny, dass Sie sich die Zeit genommen haben für dieses Interview und alles Gute für Ihre weiteren Pläne!

 Walter Nowotny

 (gekürzt, das vollständige Interview finden Sie in der Februar-Ausgabe der Printversion des NEUEN MERKER)

 

 

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