Semmering: „DIE LETZTEN TAGE DER MENSCHHEIT“ – Mindestens dritte Version des Stückes in dieser Produktion, im und um das Südbahnhotel, 15. 09.2023
Marstheater von Karl Kraus, Einrichtung, Bearbeitung und Regie Paulus Manker
Foto: Petra und Helmut Huber
Seit 1996 hat sich Paulus Manker als Spezialist für Polydramen etabliert – seine Alma zieht, an vielen Spielstätten auf drei Kontinenten, nach wie vor zahlreiches Publikum an; 2013 verarbeitete er Texte Richard Wagners zu einem aufregenden Spektakel in der alten Telegraphenzentrale am Wiener Börseplatz – leider nur eine Saison zu sehen (auch weil das gewaltige und mysteriöse Haus inzwischen umgebaut wurde). Schließlich 2018, zum 100. Jahrestag des Kriegsendes, machte er sich an das wohl umfangreichste aller Theaterstücke, die gründliche und schonungslose Abrechnung von Karl Kraus mit den niedrigen Seiten der menschlichen Natur, wie sie im ersten vollkommen journalistisch begleiteten Krieg nur allzu deutlich wurden. Ähnliche Unternehmungen gab es schon ab 1999 in einem U-Boot-Bunker bei Bremen (Johann Kresnik) und 2000 war auch schon das Südbahnhotel Heimat dieses Unterganges (Hans Gratzer).
Mankers erste Version wurde zwei Sommer in der „Serbenhalle“ in Wiener Neustadt aufgeführt, dann in Wien (Remise der Badnerbahn), eine etwas andere Auswahl 2021/22 in Berlin; erneut etwas adaptiert ist das Stück jetzt im unglaublichen Südbahnhotel am Semmering angelangt. Angelangt auch insoferne, als immerhin eine der Originalszenen auf dessen Terrasse spielt, und natürlich auch genau dort dargeboten wird. Die Aufführungsdauer inklusive einer Pause (mit inkludiertem Buffet) beträgt heuer knapp sechs Stunden. Frühere Versionen dauerten etwas länger und enthielten mehrere Parallelführungen; diese sind im komplexen und womöglich verirrungsträchtigen Hotelbau stark reduziert, aber das Publikum legt treppauf treppab immer noch gewaltige Strecken zurück, und Darstellerinnen und Darsteller womöglich noch weit mehr…
Und nicht nur müssen die Damen und Herren sehr gut zu Fuß sein – die Zahl der Rollen, in die sie schlüpfen und die Textmengen, die sie (ohne Souffleursystem?) zu bewältigen haben, sind geradezu aberwitzig, auch wenn von den 1.114 Figuren des Gesamtstückes nur „wenige“ 100 übrig bleiben dürften. Aber das könnte man ja dann an der famosen Gesamtaufnahme durch den ORF von 1974 nachhören, wenn man viiiiiiel Zeit hat. Ebenso beeindruckend bis verblüffend, was (wie für die „Alma“-Serie an gleichem Ort davor) mit der Mankerschen Requisitensammlung für beklemmend epochegerechte Räume vom Keller bis zur Dachterrasse geschaffen wurden (Elisabeth Auer, Infrastruktur); die im Hof gestapelten Container sprechen Bände. Die Kostüme von Aleksandra Kica entsprechen ebenso bis in Details der Handlungszeit und wirken nachdrücklich an der immersiv-dichten Atmosphäre mit.
Trotz der „theaterfremden“ Umgebung schafft es die Technik insbesondere im immer wieder aufgesuchten Fest- und Bühnensaal des Hotels, die Beleuchtung, auch über die fantastischen alten Luster, perfekt der Stimmung anzupassen. Auch die Tongestaltung mit exaktest einsetzenden Geräusch- und Musikzuspielungen (Andreas Büchele, Valentin Vajk Darvas) über ziemlich gute Lautsprecher würde jeder dedizierten Bühne alle Ehre machen. Einige Schauspieler tragen auch mit Saxophon, Ziehharmonika und Klavier dazu bei.
Schon der Beginn ist diesbezüglich eindrucksvoll, denn man beginnt die Reise in den Untergang mit den ersten Takten von Richard Strauss‘ „Also sprach Zarathustra“, im Freien, und trotzdem mit sattem Klang, der in die erste Szene, mit den (tatsächlich verteilten) „Extraausgabeee“n über den „feigen Moaad von Sarajewooo“ an der von Bevölkerung aller Art wirbelnden Sirk-Ecke, führt. Dann folgt die von Fiesheit, Kriegsbegünstigung und Intrigantentum geprägte Vorbereitung des Begräbnisses von Franz Ferdinand und Sophie, bevor uns das Ensemble in den Festsaal winkt.
In den folgenden vielen Stunden, die uns niemals lange vorkamen, und schon gar nicht zu lange, kann man präzise und hochemotionelle schauspielerische Leistungen bewundern, sich an trotz aller Expressivität von allen gepflogener präziser Diktion erfreuen und erlebt zahllose emotionelle und oft veritabel gänsehauterregende Momente. Manchmal gerät auch das Publikum ins Rollenspiel – im Krieg dienstverpflichtet zu werden ist ja nix Neues… was auch für Darstellerinnen und Darsteller als Servierpersonal für kleine Erfrischungen zwischendurch gilt. Das meiste bleibt in der Handlungszeit, nur ein paar (boshafte) „heutige“ Einsprengsel lockern die makabre Szenerie auf (Richard Lugner, Toni Faber und Alfons Haider bei der Eröffnung einer Schützengrabenattraktion im Wurstelprater) oder zeigen ungute Prallelen auf wie das Auftreten des „Bundesbruders“ Udo Landbauer bei den Cheruskern in Krems.
Bedingt durch die Episodenhaftigkeit wechseln die Stimmungen in herausfordernder Weise – auch ein Verdienst der konzentrierten und zielsicher vielseitigen schauspielerischen Arbeit von Alexander Abramyan, Jo Bertl (immer wieder als die „unsägliche“ Schalek), Ari Gosch – u. a. Kaiser Wilhelm, dazu Akkordeon und Klavier, Gregor Hellinger, Gregor von Holdt, Robert Karolyi, Claudia Kohlmann (die einzige empathische Lazarettschwester, Diseuse mit Mata-Hari-Kopfschmuck), Christian Korthals (auch am Saxophon), Rebecca Richter, Benjamin Spindelberger (besonders beeindruckend als verzweifelter Soldat im Lazarett, wenn wir die Rolle richtig zuordnen) und Thomas Henniger von Wallersbrunn, z. B. als von Kaiser Wilhelm gefütterter Ludwig Ganghofer. Am frühen Abend erregen Fabio und Pamina Pammer sowie Tim Saringer als auf Patri(di)otismus gedrillte Schulkinder Beklemmung und Einsicht in Propagandamechanismen. Paulus Manker hat diesmal nur einen kurzen Auftritt als unzufriedener Offizier am fleischlosen Tag im Restaurant Grüßer in Innsbruck, ist aber im Hintergrund mit dem Funkgerät aktiv, offensichtlich in einer Abendregie/Inspizientenrolle – und das definitiv perfekt erfolgreich.
Der erste Teil endet mit dem Tod vom Kaiser Franz Joseph, der zu Kerzenlicht und dem wuchtig-ergreifenden Trauermarsch von Luigi Cherubini in die Kapuzinergruft geleitet wird. Die letzten Worte des Abends gehören in dieser Fassung nicht dem lieben Gott („Das habe ich nicht gewollt!“), sondern Fanny Fuhs, die in einem Brief aus dem Dorfe Postabitz im Grunde alle Grauenhaftigkeiten des Krieges konzentriert.
Schweigen. Dann:
Gut zehn Minuten begeisterter Applaus für das fantastische Ensemble.
Schlussapplaus. Foto: Petra und Helmut Huber
Petra und Helmut Huber