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SELZACH /Bei Solothurn/“Sommeroper“: CARMEN. Premiere

03.08.2024 | Oper international

Sommeroper Selzach – „Carmen“ (Premiere am 2.August)

selz

Gibt man in der einschlägigen Datenbank operabase als Suchkriterium „Carmen“ und als Zeitraum die kommende Spielzeit ein, ergibt die Suche eine Vielzahl an Spielorten von Europa über Amerika bis in den fernen Osten mit nahezu unzählbaren Aufführungen. Selbst im deutschsprachigen Raum sind Orte darunter, die erst einigermaßen mühsam auf der Landkarte gefunden werden müssen.

Dem Chronisten nicht unbekannt ist der im Herzen der Schweiz nahe Solothurn gelegene kleine Ort Selzach, in dem alle zwei Jahre die Sommeroper Selzach zum Besuch lädt. Nach der künstlerisch sehr erfolgreichen Produktion des „Mann von La Mancha“ in der Regie von Olivier Tambosi vor zwei Jahren, steht in diesem Jahr „Carmen“ am Programm. Und mit Maria Riccarda Wesseling konnte auch diesmal eine Größe des Kulturlebens für die Regie gewonnen werden. Dass die zu den meistgespielten Opern überhaupt zählende „Carmen“ auch hier zum Erfolg werden würde, beweist die Tatsache, dass noch während des laufenden Vorverkaufs eine Zusatzvorstellung angesetzt werden musste. 

Der über Bregenz (und damit „Freischütz“ und „Tancredi“ geschädigte) angereiste Gast aus Wien ist auch im Hinblick auf die Qualität der Produktionen ein langjähriger Besucher der Sommeroper Selzach. Und die nicht zuletzt auf Grund von Probenfotos in einem der so genannten Sozialen Medien durchaus hochgeschraubten Erwartungen, wurden auch diesmal nicht getrübt. Wer sich auf der Bühne des ehemaligen Passionsspielhauses ein Postkartenspanien erwartet hat, wird von der Szene vielleicht etwas enttäuscht sein. Wer aber, wie der Schreiber dieser Zeilen, eine wenngleich im Bühnenbild teilweise zart modernisierte aber absolut werkgetreue Inszenierung sehen wollte, der war am gestrigen Premierenabend am richtigen Platz. Und diese Interpretation, der Jubel mit lauten Bravorufen und Getrampel beweist es, hat den Nerv des Publikums positiv getroffen.

Ein seit Jahren aufeinander eingespieltes Team bildet die Führungsriege der Sommeroper  – René Gehri und Pia Bürki als Produktionsleitung, Thomas Dietrich für die Künstlerische Betriebsleitung, Valentin Vassilev als Chorleiter und Oskar Fluri als Ausstatter. Unterstützt werden sie von einer Hundertschaft freiwilliger Helfer. Oskar Fluri hat auch in diesem Jahr ein gleichermaßen praktikables wie optisch ansprechendes Bühnenbild geschaffen. Die den Bühnenhintergrund des ersten Aktes bildende Tabakfabrik muss ein gutgehendes Unternehmen sein, ein Brunnen in der Bühnenmitte bietet den Arbeiterinnen in der Pause die Möglichkeit der Abkühlung; die Schenke im zweiten Akt habe ich in diesem Realismus noch selten sehen können; nicht ganz so realistisch ist das Lager der Schmuggler im dritten Akt gebaut, die seitlich angebrachte Treppe, über die die Schmuggler ihr Lager erreichen, würde aber jedem Gebirgspfad zur Ehre gereichen; Treppen an beiden Bühnenrändern sind wohl die Tribünen der Stierkampfarena und bieten gleichzeitig ausreichend freien Raum für das letale Finale der Oper. Hier zeigt sich übrigens die Qualität des von Valentin Vassilev nahezu perfekt einstudierten Chores, der teils mit dem Rücken zum Publikum singt und dennoch auch bis in die letzten Reihen des Saales gut verständlich zu hören ist. Aus den Reihen des Chores muss die schönsingende Chorsolistin Eva Herger hervorgehoben werden. Den jeweiligen Szenen entsprechend hat Fluri auch die Kostüme konzipiert – bunt in den Massenszenen des ersten und vierten Aktes, martialisch die Uniformen der Soldaten, unauffällig die Schmuggler.

Die unter anderem in Solothurn ausgebildete schweizer Mezzosopranistin Maria Riccarda Wesseling führt seit einigen Jahren auch Regie und hat die Rolle der Carmen in unterschiedlichen Produktionen gesungen. Die Erfahrungen mit und in dieser Partie in Verbindung mit ihren Ideen bringt sie jetzt erfolgreich in Selzach ein. Es gibt heute nicht viele Regisseure, die einen vielköpfigen Chor zu individuellen Persönlichkeiten formen können; Wesseling vermag das selbst beim Kinderchor, dem das Spiel auf der Bühne offensichtliches Vergnügen bereitet. Und auch die Solisten zeichnet sie nicht als schablonenhafte Abziehbilder, die einem Reiseprospekt entstiegen sein könnten. Carmen ist optisch nicht die schwarzhaarige femme fatale, Micaela kein blondes Mädchen, selbst die Soldaten wirken nicht übertrieben martialisch. Das ist weit ab von irgendwelchen Klischees und dennoch stimmig und werkgetreu. Mit nicht immer konventionellen Lösungen gelingt es ihr auch, die Aufmerksamkeit eines zweifellos nicht durchgängig opernaffinen Publikums aufrecht zu halten – Micaela hat ihren ersten Auftritt durch das Publikum und sucht schon hier Don Jose und auch die Verkäuferinnen bieten ihre Orangen und Fächer in der fußfreien Reihe feil, Carmen entflieht aus einem Metallturm (der auch Don Jose als Gefängnis dienen wird), die Würdigungen vor dem Kampf seitens seiner Fans nimmt Escamillo auf einem Balkon gemeinsam mit Carmen entgegen. Mit Tanzszenen, choreographiert von der Regisseurin, werden die Umbaupausen zwischen den Akten überbrückt (Tänzerin: LaDina Bucher). In dieser Inszenierung wird nichts gegen den Strich gebürstet oder feministisch interpretiert (wie es zeitgemäß sein wollende Inszenierungen gerne tun und für zumindest eine der bevorstehenden Neuproduktionen in einem nicht unbedeutenden Opernhaus angekündigt ist). Einzig die finale Sequenz mit dem nochmaligen Auftritt der Tänzerin an der Seite von Escamillo wäre für den schreibenden Beckmesser verzichtbar.

Von durchaus guter Qualität ist die musikalische Seite dieses Premierenabends. Gespielt wird die Fassung als Opéra-Comique mit gesprochenen Dialogen und in französischer Sprache. Kaspar Zehnder, langjähriger Chefdirigent des Sinfonie Orchesters Biel Solothurn, leitet aufmerksam Orchester und Chor und ist den Solisten ein unterstützender Begleiter, der die Sänger nie zudeckt. Mit Ausnahme von Astrid-Frédérique Pfarrer als stimmlich wie darstellerisch absolut überzeugende Mercedes, sie wirkte in nahezu allen vom Chronisten hier erlebten Produktionen mit, sind die Solisten dem Besucher aus Wien wenig bis kaum bekannt (obwohl einige von ihnen bereits an durchaus prominenten Häusern im Engagement gestanden sind). Ihr zur Seite und ebenbürtig ist Stefanie Frei in der Rolle der Frasquita. Mit Jasper Leever und Iyard Dwaier stehen als Zuniga und Morales zwei stimmkräftige aber wenig furchteinflößende Soldaten auf der Bühne. Die Schar der Schmuggler wird von Wolfgang Resch (Dancairo) und Konstantin Nazlamov (Remendado) angeführt; beide mehr als „nur“ rollendeckend im Gesang, strahlen sie auch Persönlichkeit aus (und vor allem Wolfgang Resch empfiehlt sich für größere Partien). Dem Rollenbild entsprechend, gibt Marcel Brunner einen selbstverliebten wie stimmstarken Escamillo, der schon mit seiner Auftrittsarie auftrumpft und das Publikum für sich einnimmt. Mit wunderschön gesungenen lyrischen Passagen kann Marion Grange als Micaela überzeugen. Überaus glaubwürdig ist sie auch im Spiel und so kann man sie ohne wenn und aber als eine Idealbesetzung nennen. Das trifft für James Kryshak, der Don José dieser Produktion, nur bedingt zu, der in den dramatischen Ausbrüchen mehr überzeugen kann als dort, wo es auf Schöngesang und stimmlichen Schmelz ankommt. Eine in dieser Produktion ideale Carmen, der man Liebe und Leidenschaft jederzeit abnimmt, ist Deborah Saffery. Stimmlich scheint ihr die herausfordernde Partie keinerlei Schwierigkeiten zu bereiten und auch im Spiel überzeugt sie und ruft (nicht nur beim Schreiber dieser Zeilen) Bewunderung hervor, wenn sie im Gefängnisturm singend auf und ab klettert.

Die Reise nach Selzach hat auch zur siebenten hier erlebten Produktion gelohnt und der Besucher aus Wien kann nur empfehlen, eine der wenigen Restkarten zu kaufen und diese „Carmen“ zu besuchen.

Michael Koling

 

 

 

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