Foto: Silke Winkler
SCHWERIN: Andrea Chénier – letzte Vorstellung
3.1.2020 (Werner Häußner)
Luigi Illica, der Autor des Librettos von „Andrea Chénier“, hat für Umberto Giordanos Oper Konstellationen ausprobiert, die er vier Jahre später für Giacomo Puccinis „Tosca“ zuspitzen sollte: eine Dreiecksgeschichte, in der eine politisch brisante Situation mit den privaten Gefühlen der Protagonisten untrennbar verbunden ist; ein Künstler, der als Held der Freiheit und des Widerstands gegen ein inhumanes Regime stirbt; ein düsterer Bariton, der seine Macht mit Willkür und Gewalt für sexuelles Begehren und Besitzstreben ausnutzt. Und eine Heroine, die bereit ist, sich aus Liebe zu opfern, ihren Körper als Preis für die Rettung des Geliebten bietet, sich aber nicht brechen lässt.
Als in Roman Hovenbitzers Inszenierung des Revolutionsdramas in Schwerin Maddalena de Coigny im dritten Akt das Messer ergreift und gegen Gérard richtet, wähnt man sich für einen Moment in „Tosca“ – aber die Entwicklung nimmt einen anderen Gang: Carlo Gérard, der Diener, der einst auf dem Schloss der Coignys die hungernden Bauern angeführt und sich gegen die Willkür des hedonistischen Adels aufgelehnt hat, ist sich sehr wohl bewusst, dass er seinen einstigen Kampf gegen das Elend und für das „Gewissen der Menschheit“ und den „Geist der Wahrheit“ jetzt nur noch für gemeinen Hass und seine Begierde führt.
Anders als der seine Bosheit zelebrierende Scarpia versucht er – vergeblich – das Schlimmste zu verhindern. Seine große Szene im dritten Akt ist ein Glanzstück musikalischer Psychologie: Wenn Gérard zu Beginn höhnisch lachend feststellt, dass die alte Floskel vom „Feind des Vaterlandes“ beim Volk immer noch ihre Wirkung tut, läuft es einem angesichts der aktuellen Lage kalt den Rücken hinunter – zumal, wenn ein Sänger wie Yoontaek Rhim den Satz mit sattem Sarkasmus artikuliert.
Hovenbitzer setzt seinen Gérard in eine Badewanne und spielt damit auf die Ermordung Jean Paul Marats an. Mit solchen beziehungsvollen Zeichen spinnt er die Fäden hin zum zweiten Akt, wo zu Beginn eine Skulptur von „Marats hochverehrtem Haupt“ eine Rolle spielt, und zum vierten, in dem Chenier seine letzten literarischen Ergüsse auf einer umgestürzten kleinen goldenen Wanne sammelt. Die Bühne Hermann Feuchters spielt mit Bild-Ikonen des Ancien Régime im ersten Akt, dann mit Francisco de Goyas „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“, später mit bekannten Motiven der Revolution. Roy Spahn schafft dazu Kostüme, die historische Vorbilder zitieren, aber auch transzendieren, wenn zum Beispiel auf die rote Uniform des Incredibile die Konturen eines Skeletts appliziert sind.
Hovenbitzer schreckt nicht vor plakativ Unmittelbarem zurück, etwa wenn er den vorzüglich agierenden Chor zum Ende des zweiten Akts mit Pappschildern, auf die „mort“ gepinselt ist, an die Rampe der Bühne stellt. Oder wenn er die Szene der Madelon im dritten Akt als Propaganda-Inszenierung interpretiert, in der eine allzu durchsichtig auf abgerissen geschminkte Madelon (Itziar Lesaka) pathetisch den letzten Spross ihrer Familie als Kämpfer für das revolutionäre Frankreich anbietet und unter ihrem Umhang ein Junge im Stahlhelm hervorkriecht, das sogleich mit anderen Kindern als Soldat ausgerüstet wird.
Itziar Lesaka ist auch die Gräfin de Coigny im ersten Akt, die sich erst einmal von einem Domestiken befriedigen und lustvoll ihre „Puppen tanzen“ lässt – eine früh gealterte Frau, die gerne jung bliebe, aber ihre Schwäche nicht mehr verbergen kann und am Ende mit irrem Gelächter in die wieder angestimmte altertümliche Gavotte taumelt. Auch der stimmlich leider etwas gaumige Abate Paul Kroegers erweist sich nach der Exposition als Schlüsselfigur: Genüsslich an der Marmelade schleckend, setzt er sich in eindeutiger Absicht den jugendlichen Pan aus dem Schäferspiel auf den Schoß, entledigt sich später seines schwarzen Mantels und mutiert zum Spitzel, zum Tribunalspräsident und zur zwielichtigen, fast schon dämonischen Figur des „Incredibile“: Eine schauspielerische Meisterleistung von Paul Kroeger.
Foto: Silke Winkler
Wie überhaupt das Ensemble des Staatstheaters Schwerin auch en détail für knisternde Szenen sorgt, in denen sich Nebenfiguren wie Cornelius Lewenberg als versehrter, brutaler Mathieu, Bruno Vargas als Haushofmeister oder Olaf Meißner als mörderischer Gefängnisschließer hervortun. Zurab Zurabishvili in der Titelrolle tritt als „moderner“ Literat ohne Perücke und in langem Mantel auf, beschwört nach der entspannt-hymnisch geschilderten Schönheit der Natur in „Un dí all’azzuro spazio“ mit gleißender Höhe den Kontrast zur schreienden Armut der Menschen. Seine großen Szenen in jedem Akt gestaltet er mit Emphase; das Finale „Come und bel dí“ zeigt aber, dass er in der Höhe die Lockerheit verliert und durch forcierten Ton auch die Intonation gefährdet.
Sein Gegenpart Carlo Gérard singt sich immer souveräner frei: Yoontaek Rhim justiert die Position seines klangvollen Baritons und kann für seine reflektierte Interpretation der Figur auf viele stimmliche Valeurs zurückgreifen – die wohl beeindruckendste Sängerleistung dieses Abends. Karen Leiber lässt eine Entwicklung von der mädchenhaften Maddalena Coigny zu einer mit den Traumata von Gewalt und Existenzverlust kämpfenden Frau zu, der sie stimmlich von leichter Intonation zu flutend vollen Klängen in „La mamma morta“ nachspürt – auch diese Arie, eigentlich eine mystische Vision des Lebensmuts, braucht die ausgereifte Gestaltungskunst einer erfahrenen Sängerin. Nicht zu vergessen: Hanna Larissa Naujoks als stimmschöne, flammende Darstellerin der Bersi.
Michael Ellis Ingram leitet das Orchester im besten Sinne zuverlässig, ohne sich den glühenden Höhepunkten hinzugeben, die Giordano immer wieder anzielt. So kommt es, dass auch die Fanfaren des Finales eher verhalten als strahlend groß klingen. Gedämpftes Pathos also, dessen verhaltene Noblesse aber in den Momenten der Reflexion gerechtfertigt ist. Die Produktion verabschiedet sich nun aus dem Spielplan des Staatstheaters in Schwerin, um Erich Wolfgang Korngolds „Die tote Stadt“ Platz zu machen. Premiere ist am 3. April, wieder mit dem Sängerteam Zurabishvili, Leiber, Lesaka und Rhim in den Hauptrollen.
Werner Häußner