SALZBURG / Szene: DIE STADT OHNE JUDEN – Stummfilm mit Live-Musik
28. Juli 2024 – 2. Aufführung
Von Manfred A. Schmid
„Es sind die Juden, die uns die Arbeitsplätze wegnehmen,“ lautet eine der Parolen, mit denen sich Demonstrierende gegen die angebliche „Überjudung“ in Wirtschaft und Kultur und deren Folgen auf die Straße begeben. Im Staat Utopia herrscht eine galoppierende Inflation, und die Preise für Lebensmittel wachsen ins Unermessliche. Ein Sündenbock ist bald gefunden, und die Juden werden des Landes verwiesen. So etwas könnte man auch heute wieder hören, stammt jedoch aus dem fragmentarisch überlieferten Stummfilm Die Stadt der Juden, nach dem 1922 erschienenen gleichnamigen Roman von Hugo Bettauer, der nach einem Zufallsfund auf einem Pariser Flohmarkt 2015 restauriert und wiederhergestellt werden konnte. Trotz seiner kritischen Sicht auf die damals herrschenden Verhältnisse und der gewagten Vorschau auf zukünftige Entwicklungen ist der Film naürlich auch ein Kind seiner Zeit und mit einigen problematischen Klischees und Simplifizierungen behaftet.
2017 wurde die österreichische Komponistin Olga Neuwirth durch das Wiener Konzerthaus, die Elbphilharmonie Hamburg, das Ensemble intercomporain, das Barbican Center New York und das Sinfonieorchester Basel mit der Neuvertonung beauftragt. Seit 2018 tourt der Film mit der vom Ensemble PHACE live gespielten Musik erfolgreich durch die Welt. Die Aufführung des Werks in der Reihe Zeit mit SCHÖNBERG im Rahmen der Salzburger Festspiele könnte aktueller und aufrüttelnder nicht sein. Nicht nur sind genau 100 Jahre vergangen, seit der Stummfilm von Hans Karl Breslauer erstmals in die Kinos kam und bestürzend prophetisch den seit Bürgermeister Karl Lueger vor allem in Wien wachsenden Antisemitismus und dessen Kulmination in der Vertreibung der Juden aus einer Stadt aufzeigte. Das sollte in Deutschland schon zehn Jahre später unter der Nazi-Herrschaft, und vier Jahre darauf mit dem „Anschluss“ auch in Österreich grausame Realität werden, gesteigert durch die unfassbare Vernichtung der Juden in der sogenannten „Endlösung“. Gerade jetzt ist aber leider auch eine erneute Zunahme des Antisemitismus in Europa sowie in Amerika zu verzeichnen. Im Film erlebt die Bevölkerung nach der Exilierung der Juden eine Verarmung des Lebens in vielen Bereichen, so dass schließlich die Juden wieder zurückgerufen werden. „Mein lieber Jude,“ begrüßt der Herr Bürgermeister den ersten Heimkehrer und umarmt ihn. Das war zwar auch geheuchelt. Die Wirklichkeit aber sah bekanntlich anders aus. Vor allem in den Wissenschaften und im Kulturleben waren die Folgen der Vertreibung der Juden fatal. Einladungen zu einer Rückkehr blieben aber die Ausnahme.
Gerade weil es sich um einen Stummfilm handelt, bei dessen Aufführungen seinerzeit versierte Klavierspieler sich bemühten, die Handlungen musikalisch zu „untermalen“ und „auszumalen“, kommt der Filmmusik eine wichtige Rolle zu. Gerade die emotionalen und atmosphärischen Befindlichkeiten, die sich sprachlich äußern und hier fehlen, werden zum Aufgabenbereich einer Komposition für den Film und für deren Umsetzung. Olga Neuwirth geht dabei auf die Entstehungszeit von Die Stadt ohne Juden ein, die in den frühen 20er-Jahren musikalisch vom Expressionismus, besonders aber von der Zweiten Wiener Schule rund im deren Initiator Arnold Schönberg und dessen bekanntesten Schülern Alban Berg, Anton von Webern und Hanns Eisler geprägt wurde. Atonalität und Zwölftontechnik sowie serielle Anwendungen finden sich in der fast durchgehend bedrohlich aufwühlenden Grundstimmung ihrer Filmmusik, in der aber auch Humor und Ironie und Rhapsodisches Platz finden. Besonders auffallend sind die zahlreichen Einspielungen, die die Live-Musik atmosphärisch bereichern: u.a. verzerrte Bearbeitungen von Jodlern und gefährlich-gemütlicher Heurigenmusik, Marschmusik, die englische Königshymne und ein von Hans Moser gesungenes Wiener Lied über den Wein. Der damals vor allem als Kabarettist bekannte spätere Volksschauspieler verkörpert im Film einen besonders rabiaten Antisemiten, der ob seiner Raserei am Ende in einer Nervenheilanstalt landet und nicht, wie Jahre später in der schrecklichen Realität, in hohe politische Ämter gehievt wird. Eine Musik, deren Sog man sich nicht entziehen kann und die den Spannungsbogen bis zum Ende aufrechterhält. Das, was sich Olga Neuwirth vorgenommen hat, „eine Lebendigkeit zu bewahren, indem die Musik zugleich anrührend und hart ist, herzenswarm und offen, amüsant und wütend, beteiligt und distanziert, humorvoll und taurig“, ist ihr damit vorzüglich gelungen.
Die exzellente Live-Musik wird vom neunköpfigen Ensemble PHACE unter der höchst konzentrierten Leitung von Nacho de Paz dargeboten und beschert dem Publikum ein außergewöhnliches, beklemmendes und faszinierendes Filmerlebnis, das die österreichische Seele unangenehm wahrhaftig auslotet.
Vor dem Film gibt es, ebenfalls von Mitgliedern des PHACE-Ensembles ausgeführt, eine Wiedergabe von Hanns Eislers Werk Vierzehn Arten den Regen zu beschreiben. Eine im amerikanischen Exil entstandene Komposition, die ursprünglich ebenfalls als Filmmusik konzipiert war und, wie er später einmal bemerkte, gleichbedeutend sei mit „Vierzehn Arten, mit Anstand traurig zu sein“. Das Variationswerk ist ein hervorragendes Beispiel für Eislers Kunst, trotz Zwölftontechnik auf melodiöse Anmutung nicht verzichten zu müssen. Und in diesem Sinne wurde es von PHACE-Sextett auch musiziert. Gut möglich, dass in die Interpretation auch etwas von dem Salzburger Schnürlregen eingeflossen sein mag, der am Vormittag der Festspielstadt eine wohltuende Erfrischung beschert hatte.