SALZBURG / Landestheater: STERNSTUNDEN DER MENSCHHEIT
27. Juli 2024 – Festspiel-Premiere
Von Manfred A. Schmid
Stefan Zweig schildert in seinem Buch Sternstunden der Menschheit „dramatisch geballte Stunden, in denen eine zeitüberdauernde Entscheidung“ getroffen wurde: Er nennt sie Sternstunden, „weil sie leuchtend und unwandelbar wie die Sterne die Nacht der Vergänglichkeit überglänzen“. Nicht die Vergänglichkeit überdauern wird allerdings die überfrachtete und seine eigene künstlerische Umsetzungsfähigkeit weit überfordernde Fassung von Thom Luz. Sie ist nichts als eine flüchtige Sternschnuppe, die im Herbst am Residenztheater München, wo Luz Hausregisseur ist, noch einmal kurz aufglimmern wird, um dann der Vergessenheit anheimzufallen. Nein, diese Koproduktion ist alles andere, nur keine Sternstunde, was bei der Premiere auch mit Buhrufen lebhaft quittiert wurde.
Die Aufführung beginnt mit einem Aufmarsch von Musikern, die eine frohgemute, zugleich aber auch zutiefst melancholische Melodie anstimmen: Wohl so etwas wie ein bipolarer Trauermarsch. Musik wird die Handlung auch weiterhin begleiten und kommentieren, in verschiedensten Besetzungen, vor allem mit Blechbläsern und einem exzellenten Gitarristen (Enrique de Miranda Reboucas), der im Schlussteil, der den letzten Tagen von Stefan Zweigs Exil in Brasilien gewidmet ist, mit brasilianischen Klängen ein wehmütiges Flair verpasst. Das Konzept des Regisseurs, ein paar Episoden aus Zweigs Sternstunden mit dessen Leben, das in einem Freitod mündet, zu verquicken, geht ansonsten nicht auf. Es ist wieder einmal die Musik, die das Unmögliche schafft und der das gelingt, was die Regie nicht geschafft hat: Unmögliches wahr zu machen. So ist der Schluss auch der gelungenste Teil des Theaterabends. In Cicero, der nach 60 Jahren vehementen Eintretens für die Demokratie das sich etablierende totalitäre Regime nicht länger ertragen will und auf der Flucht ermordet wird, sieht Stefan Zweig einen heimatlos gewordenen Europäer, mit dessen Schicksal er sich identifizieen kann. Abwechselnd mit ihm legt er sich sich, seine Frau an seiner Seite, in dessen Bett, das so auch zum Totenbett eines vor dem Faschismus fliehenden Mannes wird, der für sich keinen Platz mehr in der Welt, wie sie geworden ist, finden kann. Aber auch die drei übrigen Schauspielerinnen und Schauspieler nehmen nach und nach auf dem Bett Platz: Gedenken an die vielen Menschen, die ebenfalls ihrem Leben, aus Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, ein Ende gesetzt haben.
Die übrigen „Sternstunden“, die der Regisseur für seine Fassung ausgewählt hat, spielen in einem Depot, eine Art Asservatenkammer (Bühne von Duri Bischoff, in der Buchstücke von Gegenständen mit historischer Relevanz verwahrt sind: Das in drei Teile zerstückelte Pferd von Napoleon steht da neben dem Schreibtisch von Goethe, es gibt einen Obelisken zu sehen sowie Unmengen von stückhaften Säulen, Quadern und dergleichen. Aussehend wie weißer Marmor, aber leicht zu heben. Für Luz ist die Geschichte nichts als ein Trümmerhaufen. Die Sternstunden bestehen darin, dass einzelne Trümmer wieder zu Türmen übereinander gestapelt werden, die aber sofort wieder einstürzen oder umgeworfen werden. Wer ist schuld daran, der Mensch oder das Schicksal, das einmal, in Gestalt eines Wagenrads, eine wie Dominosteine hintereinander gestellte Menschenkette umstößt? Die großen Ideen einzelner Menschen, ob nun Woodrow Wilsons Völkerbund oder Robert F. Sotts Arktis-Expedition, sind für Thom Luz nichts als kurzlebige Sternschnuppen: Eine ernüchternde Interpretation, die mit Stefan Zweigs Sicht der Sterne die „die Nacht der Vergänglichkeit überglänzen“ gar nichts zu tun hat und zudem, ständig wiederholt, so eintönig und langweilig wird, dass sogar eineinhalb Stunden Dauer zu lang werden. Daran kann auch eine eindrucksvolle Szene gegen Schluss hin nichts mehr ändern, verdient es aber, erwähnt zu werden: Zwei Wolken, die vom Himmel niedersinken und sich von der Bühne verflüchtigen. Auch nicht unbedingt im Sinn von Zweigs Konzept der Ideen als Sternstunden, aber in seiner Wehmut dennoch von packender Wirkung.
Was an dieser Inszenierung besonders stört, ist die miserable Textverständlichkeit. Vincent Glander, Evelyne Gugolz, Isabel Antonia Höckel, Steffen Höld, Nicola Mastroberardino und Barbara Melzl sind schwer zu verstehen, weil ihre Stimmen oft elektronisch verändert und durch Hall verzerrt werden. Außerdem gibt es, der unsteten Wanderschaft und der Weltgewandtheit des Exilanten Zweig geschuldet, auch Passagen in englischer Sprache sowie auf Portugiesisch. Die deutsche Übersetzung ist von der Balkonseite her leider nur zum Teil zu sehen, so dass man mit der englischen Vorlieb nehmen muss.
Nach dem überwältigenden Erfolg des neuen Salzburger Jedermann ist diese Zweig-Adaption kein Ruhmesblatt für Marina Davydova in ihrer ersten Saison als Leitern des Schauspiels der Salzburger Festspiele. Keine Sternstunden des Theaters, sondern leider nur ein Trümmerhaufen und ein flüchtiger Schauer von auf die Bühne herunterstürzenden Sternschnuppen, die spurlos verglühen.