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SALZBURG / Landestheater: DIE WUT, DIE BLEIBT – Premiere

Eine Familie gerät aus den Fugen, ein junges Mädchen sucht nach seiner Bestimmung

19.08.2023 | Theater
die wut, die bleibt

 Anja Herden (Sarah oben). Alle Fotos: Salzburger Festspiele / Kerstin Schomburg

SALZBURG FESTSPIELE / Landestheater: Premiere von DIE WUT, DIE BLEIBT

18. August 2023

Von Manfred A. Schmid

Die Dramatisierung des Erfolgsromans Die Wut, die bleibt der Halleinerin Mareike Fallwickl im Landestheater, eine Koproduktion der Salzburger Festspiele mit dem Schauspiel Hannover, wird vom Publikum stürmisch gefeiert und liefert genug Stoff für eingehende Diskussionen und Reflexionen über die Stellung der Frau und über die noch lange nicht ausgeglichenen Beziehungen zwischen Mann und Frau.

Die Geschichte von drei Frauen, die auf die sie überfordernden Erwartungen einer weiterhin streng patriarchalischen strukturierten Gesellschaft ganz unterschiedlich reagieren, beginnt mit einer innigen Liebeserklärung der jungen Mutter Helene (Johanna Bantzer) an ihre eben erst geborene Tochter Lola, die sie zum ersten Mal in ihren Armen bzw. auf ihre Brust gelegt, Haut an Haut, hält und spürt. Die Liebeserklärung gipfelt darin, dass sie ihr verspricht, sie nie im Stich zu lassen.

In der ersten Szene nach diesem Prolog sitzt eine Familie bei Tisch. Vater, Mutter, zwei quengelige Söhne und eine Tochter im Pubertätsalter. Der Vater fragt beiläufig „Haben wir kein Salz?“ Ebenso beiläufig steht die Mutter auf, geht drei Schritte hin zum Balkon und springt.

Helene hat ihr Versprechen, rund fünfzehn Jahre, nachdem sie es gegeben hat, inzwischen mit einem Architekten verheiratet und Mutter zweier weiterer Kinder, nicht halten können. Die Überlastung mit Haushalt, Familie und Beruf ist ihr, verschärft durch die Folgen der Corona-Pandemie, einfach zu groß und unerträglich geworden. Im späteren Verlauf wird ihr unangekündigter Selbstmord in aller Ruhe, fast wie in Zeitlupe, noch einmal ausgeführt.

Zurück bleibt ihr Mann Johannes (Max Landgrebe), der sich selbstmitleidig in seinen Job flüchtet, so gut wie keine Zeit für die Familie hat und sich darauf beruft, als Familienerhalter für das nötige Geld sorgen zu müssen. Ermöglicht wird ihm das durch Sarah, der besten Freundin Helenes, die sofort und vorübergehend einspringt und sich selbstlos aufopfernd um die Kinder und den Haushalt kümmert. Die feministisch orientierte, selbstbewusste, unabhängige Frau wird auf Grund ihres Helfersyndroms von Johannes rücksichtlos ausgenützt und vernachlässigt zunehmend ihr eigenes Leben. Sarah (Anja Herden) ist Autorin von Krimis und lebt in einer losen, eher nur sexuell begründeten Beziehung mit dem um einiges jüngeren, von sich selbst überzeugten Leon (Fabian Dott).

die wut, die bleibt

Johanna Bantzer (Helene) Nellie Fischer-Benson (Lola;), Sophie Casna (Femme), Hanh Mai Thi Tran (Sunny, Yasmin Mowafek (Alva)

Und da gibt es Helenes Tochter Lola (Nellie Fischer-Benson), trotz ihrer Jugend eine Feministin der dritten Generation  die mit den üblichen Pubertätserfahrungen zu kämpfen hat, dabei Phasen wie Magersucht und Fresslust durchmacht, sich vor allem aber mit ihrer Freundin Sunny (Hanh Mai Thi Tran) und zwei weiteren Gefährtinnen, Alva (Yasmin Mowafek) und Femme (Sophie Casna) zusammenschließt, sich Selbstverteidigungstechniken aneignet, sich feministisch immer mehr Wissen aneignet und sich zunehmend radikalisiert. Was als Selbstverteidigung beginnt, führt schließlich zu einer Gruppe, die auf Rache aus ist, Selbstjustiz ausübt und Männer, die Frauen, vor allem junge Mädchen und Kinder belästigt und missbraucht haben, überfällt und physisch bestraft. Als bei einer dieser Vergeltungsaktionen ein Übeltäter so schwer verletzt wird, dass es offenbleibt, ob er den Angriff überleben wird oder nicht, beschließen die vier, sich vorübergehend zurückzuziehen und zu verreisen. Wohin? „Frauen wie wir werden überall gebraucht“, ist die selbstbewusste Antwort. Zuvor aber helfen sie noch Sarah, die Johannes endlich klargemacht hat, dass er nicht weiterauf sie zählen kann und selbst Verantwortung übernehmen müsse, ihren lästigen Freund loswerden.

Jorinde Dröse, die auch Regie führt, und Joanna Vater, die gemeinsam die Bühnenfassung erstellt haben, ist es gelungen, den fast 400 Seiten umfassenden Roman dramaturgisch einzukürzen und sich auf die Kernaussagen, die eigentlich offene Fragen zu unserer Gesellschaft sind, zu konzentrieren. Regielich besonders gestaltet sind die Episoden, in denen sich Sarah fragend an ihre imaginierte Freundin Helene richtet, um deren Meinung einzuholen oder gemeinsam gemachte Erlebnisse, Erfahrungen und Erkenntnisse Revue passieren zu lassen.

Überzeugend ist auch Jorinde Dröses Idee, bei den Auftritten von Lolas Gruppe die Aktionen aus choreographisch gestalteten Tänzen entstehen zu lassen, unterstützt durch einen tollen Einsatz von Musikeinspielungen (Jörg Kleemann). Die Bühne von Katja Haß kommt mit einer Bühnenfläche aus, die der Ort für die öffentlichen Begegnungen ist. Darüber erhebt sich ein weißer Raum, der als Wohnung für Lolas Familie und Sarahs Domizil dient. Im Mittelpunkt stehen die famosen Schauspielerinnen und Schauspieler, allen voran die großartige Nellie Fischer-Benson, die die zu einer starken selbstermächtigenden Frau heranreifende Lola authentisch und einprägsam darstellt. Wandlungsfähig erweist sich auch Johanna Bantzer, die nicht nur als Helene in Erscheinung tritt, sondern mehrere weitere Rollen, darunter den Schuldirektor und den Turnlehrer, übernimmt.

Die letzte Schauspiel-Premiere der Salzburger Festspiele ist ein triumphaler Erfolg, wenn auch zum Teil mit feministischen Parolen und Grundsätzen aus dem Mund eines jungen, kritischen und engagierten Mädchens überfrachtet, weil man in knapp eineinhalb Stunden zu viele Aspekte einbringen wollte. Eine Hörspielfassung von Die Wut, die bleibt kann am 26. August um 14 Uhr im Radio-Programm Ö1 gehört werden.

 

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