Salzburger Festspiele: Thomas Adès‘ THE EXTERMINATING ANGEL. Uraufführung im Haus für Mozart – 28.07.2016

»The Exterminating Angel«: Amanda Echalaz (Lucía), Charles Workman (Nobile), Ed Lyon (Eduardo) und Sten Byriel (Russell)
© Salzburger Festspiele/Monika Rittershaus
Kleiner harmloser Selbstversuch in der Pause: Wie ist das so mit den menschlichen Blockaden? Man möchte das Auditorium verlassen, hinaus in die frische Luft. Die allermeisten „schaffen“ das auch. Nur ich bleibe sitzen, „schaffe“ es nicht einmal aufzustehen. Sehe mit Interesse in den Orchestergraben. Dort haben einige Schlagwerker auch eine „Blockade“. Sie üben enervierend immer dieselbe Stelle. Fünfmal, zehnmal, zwanzigmal. Zwanghaft, obsessiv, fast wie in einem Thomas-Bernhard-Stück. Und: Notlicht ist eingeschaltet, sogar die düstere Saalbeleuchtung. Irgendwie naheliegend, diese Assoziationen bei den Salzburger Festspielen.
Endlich kommen (fast) alle wieder zurück – ausverkauft ist diese Uraufführung nicht gerade. Endlich, denn eine gewisse innere „Unruhe“ beginne ich bereis, an mir festzustellen. Natürlich: Nicht zu vergleichen mit einer surrealen Szene in einem Buñuelfilm, aber immerhin.
In „The Exterminating Angel“ beginnt es mit einer Dinnerparty bei Edmundo und Lucia de Nobile (Charles Workman und Amanda Echalaz). Alle Protagonisten gehören der reichen Bourgeoisie oder dem Adel an. Eine Opernprimadonna (Leticia:Audrey Luna), ein Dirigent (Alberto Roc: Thomas Allen) und dessen Frau, die Pianistin (Blanca: Christine Rice). Alle sind in Feierlaune. Im Verlauf des Abends hält sie Unerklärliches davon ab, irgendwann den Raum und die Feier wieder zu verlassen. Die noble Villa wird trotz offener Türen zum Gefängnis.
Buñuel richtet im Filmklassiker „Der Würgeengel“ den Röntgenblick auf fünfzehn Menschen. Wie verschieden sie mit dieser Extremsituation umgehen. Wie rasch die Fassade von Noblesse, Eleganz bröckelt. Regisseur Tom Caims (mit psychologisch fein gearbeiteter Inszenierung von großer Eindringlichkeit in Sechzigerjahreausstattung von Hildegard Bechtler sagt in einem Interview mit den „Salzburger Nachrichten: „Buñuel hatte auch die Scheinheiligkeit der menschlichen Spezies im Allgemeinen im Sinn. Man sperre eine Gruppe von Menschen zusammen und beobachte, wie sie wie Ratten übereinander herfallen. Gefangen und in aufgebrachter Stimmung, kommen ihre schlimmsten Wesenszüge zum Vorschein.“
Inzwischen liegt der alte Señor Russel (Sten Byriel) im Sterben, Hunger, Durst, Sorge um Kinder zu Hause, Hysterie, paranoide Zustände und Panik greifen um sich. Selbst Doctor Conde (John Tomlinson), der lange Zeit zu beruhigen versucht, verliert auch die Fassung. Ein junges Liebespaar beschließt, gemeinsam zu sterben (Eduardo: Ed Lyon,Beatriz: Sophie Bevan)Leonore (Anne Sofie von Otter) hat Halluzinationen und sieht eine abgetrennte Hand durch den Salon wandern. Soweit, so gruselig…
Leticia erkennt nach Lammschlachtung und dem Ansinnen, der Gastgeber müsse auch geopfert werden, dass sich in diesem Moment alle an genau derselben Stelle befinden wie zu Beginn der Party. Alle Handlungen und Dialoge von damals werden wiederholt. (Thomas Bernhard, schau herunter! Mir kommt der Verdacht, du hast ganz schön viel bei Buñuel abgekupfert!). Endlich nähern sich alle der Schwelle – und überschreiten sie. Die Freiheit währt nicht lange…
Thomas Adès sah Buñuels Film nach eigenen Angaben mit 14 Jahren. Dieser ließ in seinen Filmen kaum Musik zu – außer obsessiv eingesetzte Glocken, die auch in Adès‘ Werk für das hereinströmende Publikum einprasseln. Einen Akt lang hat die Musik eher clusterartige Klangwolkenfunktion. Bei Zuspitzung der Geschichte bekommt das Werk musikalisch einen Inspirationsschub – und die Figuren mehr und mehr Kontur. Allerdings: Walzerrudimente als „Tanz in den Abgrund“ ist nicht wirklich neu. Das hat schon ein gewisser Maurice Ravel sehr eindringlich gekonnt..
Es gibt tonale und polytonale Passagen. Die Zwischenspiele und Blancas Lied: „Over the sea, over the sea, where ist the way? Birds, tell me!“ bleiben haften. Britten lugt gelegentlich um die Ecke.Immer wieder treibt Adès vor allem die Sopranistinnen an absolute Grenzen des sängerisch Möglichen. Da geht manches an Schmerzgrenzen und man bangt mit den Sängerinnen, dass sie sich die Stimmen nicht ruinieren mögen…
Sängerische Einzelkritik fällt diesmal schwer. Es ist eine fabelhafte Ensembleleistung aller. Alle gehen an stimmliche und mentale Grenzen. Am Ende laute Ovationen vor allem für den Komponisten/Dirigenten, der das fabelhafte ORF Radio-Symphonieorchester zur Höchstleistung treibt (ebenfalls begeistert akklamiert). Hochverdienter Jubel für alle Sänger/innen und den Salzburger Bachchor.
Das nennt man einen Premierenerfolg. Ob die Reprisen ausverkauft sein werden oder sich das Werk im Opernrepertoire etablieren können wird, wage ich nicht zu prognostizieren. Eine Schreibblockade.
Karl Masek