Penderecki und Nagano umarmen einander. Foto: Andrea Masek
SALZBURGER FESTSPIELE: „Ouvertüre Spirituelle“ startet mit der Lukaspassion – Stehende Ovationen für Krzysztof Penderecki
20.7. 2018 – Karl Masek
Die UA der Lukaspassion für Soli, Sprecher, drei gemischte Chöre, Knabenchor und Orchester fand am 30. März 1966 im St.Paulus-Dom zu Münster (BRD) statt. Mit durchschlagendem Erfolg für den damals 33-jährigen Krzysztof Penderecki – und etlichen Folgeaufführungenim Jahre 1967 von Brüssel über über London und Paris bis New York am 4. Jahrestag der Ermordung von John F. Kennedy.
Das deutsche Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ wusste damals zu berichten: „…In Krakau wurde eine Wiederholungsaufführung angesetzt, trotzdem blieben 3000 Menschen ohne Eintrittskarte, …, in der Warschauer Philharmonie applaudierte das Publikum noch eine halbe Stunde nach dem Schlussakkord!“
Viele bezeichneten die Lukaspassion die eigenwilligste und erfolgreichste Passionsmusik seit J.S.Bach, eine für den damaligen Zeitgeist repräsentative Schöpfung. Laut Penderecki ist diese Passionsmusik in einem prinzipiell ethischen Zusammenhang zu sehen. Das Leiden und der Tod Christi, zugleich aber auch leidvolle Erfahrungen der Menschheit z.B. in der Mitte des 20. Jhts (nur 2 Stichworte für viele: Auschwitz, Hiroshima).
Der Musikwissenschaftler Michael Kube sieht „in einem der wichtigsten Chorwerke des 20. Jahrhunderts kompositionstechnisch einen Kraftakt zwischen den oben beschriebenen zeitgeschichtlichen Bezügen und dem Wunsch nach eigener musikalischer Gestaltung…“
Diese beinhaltet eine unerhörte stilistische Vielgestaltigkeit. Gregorianisch anmutende Stellen, Clusterbildungen, eine Zwölftonreihe, die mit den Tönen H-B-A-C endet- sozusagen ein umgedrehtes B-A-C-H – Motiv aus der Traditionslinie des genialen Eisenachers.
Herausfordernde Aufgaben (vor allem, was die Genauigkeit der Intonation betrifft) werden den dreifach geteilten Chören gestellt. Das geht von gemurmelt anmutenden gebetsartigen Passagen, bei denen man den Eindruck gewinnt, jede/r einzelne singt oder redet für sich, bis hin zum sprech-gesanglichen Aufschrei, wenn beispielsweise Christus am Kreuz verhöhnt wird.Auch äußerst schwierige a capella-Passagen wie im „Stabat Mater“ (absolute Höhepunkte des Werks mit Gänsehaut-Garantie) werden den Chören abverlangt. Der Philharmonische Chor Krakau (perfekt einstudiert von Teresa Majka-Pacanek) bewältigt das bravourös und erntet verdienten Jubel.
Dass dieses Werk im Finale („In te, Dominesperavi“) in strahlendes E-Dur mündet, machte aber offenbar schon damals die „Modernisten“ vom Darmstädter und Donaueschinger Zuschnitt nervös.
Intendant Markus Hinterhäusers Verdienst ist es, das monumentale und zugleich feingliedrige, über weite Strecken sehr introvertierte und „leise“ Werk (trotz einer Besetzung, die an Mahlers „Symphonie der Tausend“ denken lässt!) anzusetzen. Noch dazu in eine überzeugende Gesamtdramaturgie dieses Festspieljahres eingebettet mit den Eckpfeilern SPIRITUALITÄT; VOM LEID ZU LICHT & KATHARSIS; WEGE ZUR ERKENNTNIS; EKSTASE; PASSION (auch in der Bedeutung: LEIDENschaftliche BEGEISTERUNG); SUCHT (ich sag‘ nur: „Pique Dame“!),…
Gerade die Lukaspassion ist auch nach 52 Jahren, so will es mir scheinen, nach wie vor (oder wieder!) am Pulsschlag der Zeit, die mehr denn je Innehalten, Nachdenklichkeit, Eintauchen in spirituelle Musik (aber ohne jeden religiösen Dogmatismus) evoziert. Vieles davon ist in Pendereckis Chorwerk spürbar gewesen.
Kent Nagano ist seit seiner Beschäftigung mit der Musik Oliver Messiaens prädestiniert für diese Art von Musik. Je übereinandergeschichteter die Klänge, je verästelter und feingliedriger die kompositorische Faktur, umso lieber scheint es ihm zu sein. Auch wenn der Orchesterpart weniger fordernd zu sein scheint als die Aufgaben für die Chöre: Das Orchestresymphonique de Montreal zaubert Klänge und Cluster von ungeahnter Transparenz und Pianissimobandbreite in den Raum der Felsenreitschule, bis hin zu einer „Musik der Stille“, die in lauten Zeiten als besonderer Balsam empfunden wird. Nach der eher gleichförmigen Klangflächigkeit des 1. Teils wird es gestisch und in den Klangfarben farbig, schillernd, teilweise sogar arios (Cello, Viola).
Nicht zu vergessen der fabelhafte Warsaw Boys Choir, der durch glasklare Stimmen und geradezu unfehlbare Intonationsgenauigkeit besticht (Krzysztof Kusiel-Moroz ist für die hervorragende Einstudierung verantwortlich).
Wie bei den Bach-Passionen ist die Jesus-Rolle einem Bariton anvertraut. Lucas Meachem erweist sich mit seinem hellen, fast tenoralen Bariton als hochmusikalisch und stilistisch versiert – vom Rossini-Barbiere, auch schon an der Wiener Staatsoper gesungen, bis zu Eugen Onegin, vom Conte in Mozarts „Figaro“ bis zu Fritz/Frank („Die tote Stadt“) reicht sein Opernrollen-Spektrum.
Sarah Wegener ist mit gerundetem, bis in schwindelnde Höhen wohlklingendem Sopran die teilnahmsvolle Kommentatorin des Geschehens und der britische Bass Matthew Rose wechselt mit beweglicher, modualtionsfähiger Stimme vom Petrus und dem Pilatus bis zu einem der mitgekreuzigten Verbrecher.
Der polnische Schauspieler Sławomir Holland irritierte als Evangelist leider mit einem harten Akzent, seine lateinische Aussprache klang mehr als seltsam – und auch die Idee, ihn aus erhöhter Position „von der Kanzel predigen“ zu lassen, war nicht die beste.
Dennoch: Insgesamt ein denkwürdiger Abend. Viel Jubel – und der mittlerweile 85-jährige Penderecki wurde mit stehenden Ovationen gefeiert. Was nun die spannende Planung des Markus Hinterhäuser anlangt: Die Opern können kommen. Man ist neugierig und gespannt, ob das alles aufgeht!
Karl Masek