SALZBURG/Festspiele: LA CLEMENZA DI TITO – Premiere am 1. August 2024
Keine Hosenrollen mehr…
Foto: Marco Borrelli/Salzburger Festspiele
Wieder wurde eine Neuinszenierung der Salzburger Pfingstfestspiele, die bereits seit 12 Jahren unter der Leitung der nicht nur in Salzburg äußerst beliebten Römerin Cecilia Bartoli stehen, in die Sommerfestspiele in das Haus für Mozart übernommen. Diesmal war es W. A. Mozarts letzte Oper „La Clemenza di Tito“ in der Regie von Robert Carsen, der bekanntlich auch für eine recht gelungene Neuinszenierung des Hofmannsthalschen „Jedermann“ bei den Sommerfestspielen 2024 verantwortlich zeichnete. Hatte er in dieser Neuproduktion bei aller fast durchgehend sinnvollen Zuhilfenahme moderner stilistischer Ausdrucksmittel auch noch Referenzen an das für den 1911 uraufgeführten „Jedermann“ vorbildhafte spätmittealterliche Mysterienspiel anklingen lassen, verfiel Carsen mit seiner Sicht der „Clemenza di Tito“ in eine zumindest optisch platte, ja nahezu groteske Zerrung des so tiefgründigen Stoffes, zu dem Mozart diese Oper aus Anlass der Krönung Kaiser Leopold II. zum König von Böhmen komponierte.
Schon bei den ersten Takten des Vorspiels, welches eigentlich im Sinne der Komponisten zur musikalischen Einstimmung auf das kommende Geschehen dienen soll und meist auch die wesentlichsten Themen schon anspricht, geht der Vorhang hoch und offenbart hektisch aus einer grauen Bürotür herausströmende Businessmen mit Handies am Ohr und den obligaten Aktentaschen in der Hand. Also wieder einmal hinein in mausgraue Büro-Ästhetik mit Handies, PCs, Tablets, Kaffeemaschinen, den mittlerweile schon in fast jeder regietheatralischen Neuinszenierung obligaten Büro-Drehstühlen und natürlich – ganz wichtig – den Office Badges, die um den Hals aller baumeln, wohl selbst dem des Bürochefs Tito, als seien sie die optisch nachprüfbare Rechtfertigung, überhaupt zu existieren – in einer triüberbürokratisierten Welt. Gerade feierten diese Badges ja wieder fröhliche Urständ in K. Serebrennikovs arg daneben gegangenem „Don Carlo“ an der Wiener Staatsoper. Sie gehören also nun offenbar zum Hauptarsenal solcher Inszenierungen, zumal denen, die auf Kollektive bauen wie Versuchslabors, Parteizentralen et al. In jedem Fall tragen sie zur dramaturgischen Gleichmachung aller Akteure wesentlich bei.
Gleichmachung ist also auch Trumpf bei Carsen in seinem „Tito“. Man sieht die ganze Zeit in einen mausgrauen Büro-Saal von Gideon Davey, mit einer Empore oben drüber für Publikum oder Konferenzteilnehmer und dem Staff in grau-schwarzen Kostümen, die der typischen Business-Kleidung in heutigen Großraumbüros entspricht, ebenfalls von Davey. Italienische Nationalflaggen und EU-Flaggen hängen an den Wänden. Gleichwohl wird mit dem Sturm auf das römische Kapitol auf jenen in Washington D.C. 2021 angespielt, obwohl die Figuren und ihre Intentionen in den USA doch recht wenig gemein mit jenen in Mozarts „Tito“ hatten. Aber es sollte ja alles im Heute sein, und das passte dann halt gerade allzu gut ins Bild. Wie Carsen in einem Gespräch mit Christian Arseni im Programmheft kundtut, sah er keine andere Möglichkeit, als zu einer „Verlegung der Geschichte ins Heute und zu entscheiden, das gesamte Stück auch räumlich im Kontext der Politik anzusiedeln.“ Deshalb gab es also nur Korridore der Macht wie den Senat, das Büro des Staatsoberhauptes Tito oder politische Sitzungssäle zu sehen – de facto aber ein klassisches Einheitsbühnenbild mit wechselnden Stuhlanordnungen.
Ganz und klar unklassich war allerdings Carsens Entschluss, Sesto und Annio nicht als Hosenrollen zu bringen. Interessant besonders seine Begründung: „Wir leben in einer Zeit der Gendervielfalt und Genderfluidität, und unter nur sechs Solist.innen (gegendert à la Salzburger Programmhefte) zwei Frauen zu haben, die vorgeben, Männer zu sein, ist einfach nicht mehr möglich. Wir zeigen Sesto ebenso wie Annio als Frauen.“ Damit wird insinuiert, dass wir tatsächlich in einer Zeit leben, in der Hinz und Kunz das Geschlecht – vielleicht nicht wie das Unterhemd, aber eventuell wie die Hose – wechselt, was ganz und gar nicht der Realität unserer mittel- und westeuropäischen Bevölkerungen entspricht sondern nur einem gewissen, von einer überrepräsentierten und privilegierten, mächtigen und sehr lauten
Minderheit propagierten Narrativ, vor allem in Deutschland. Nach den Erhebungen des dortigen Statistischen Bundesamtes ist die Zahl der geschlechtsangleichenden Operationen (also ein wesentliches Zeichen von Genderfluidität) von ca. 1.500 im Jahre 2016 auf ca. 2.600 im Jahre 2021 angestiegen. Das macht zwar nur etwa drei Zehntausendstel oder 0,0000301 Prozent der deutschen Bevölkerung von derzeit etwa 83,5 Millionen aus, bleibt aber auch noch weit unter einem Prozent, wenn wir die sich fluid nicht-binär, weiblich im männlichen oder männlich im weiblichen Körper Identifizierenden und nicht „geschlechtsangeglichenen“ Individuen hinzurechnen. Kann man da von „einer Zeit der Gendervielfalt und Genderfluidität“ sprechen, als sei es der Normalfall?
Und dann ist Folgendes zu bedenken, wenn man sich einmal die Gründe für das Entstehen von Hosenrollen vor Augen führt. Das hatte nämlich durchaus seine Logik. Im 17. und 18. Jahrhundert war die Hörerwartung auf sehr hohe Stimme auch bei den männlichen Opernrollen ausgerichtet. Deswegen und aus dem päpstlichen Verbot, Frauen-Soprane in kirchlichen Chören auftreten zu lassen, entstand die Tradition der Kastratensänger. Selbst ein Diktator wurde mit einer hellen Kastratenstimme mehr geschätzt als mit einer zu seinem Charakter wohl eher passenden dunklen Stimme, was sich mehr oder weniger erst im 19. Jahrhundert fundamental änderte. Damals spielten Bass- und Baritonstimmen ohnehin kaum eine Rolle, allenfalls in Nebenrollen. Mit der Einstellung der Kastrationspraxis stellte die Besetzung von Männerrollen in Sopran- und Altlage ein großes Problem in der Alten Musik dar. Man behalf sich mit Countertenören, aber kam eben auch auf die Hosenrollen, ließ also eine Frau in ihrer normalen Lage – Sopran oder Alt – als Mann verkleidet singen. Und dieser Brauch hat sich in einigen Opern lange erhalten, bis hin zu Richard Strauss im 20. Jahrhundert. Ja, er wird sogar in der Aufführungspraxis Alter Musik heutzutage immer wieder kultiviert. Wenn man also nun die Hosenrollen als Frauen zeigt, stellt man die Begründung und Logik der Hosenrolle auf den Kopf und verändert damit die Dramaturgie des Stückes elementar. Nun sind Vitellia und Sesto in der Salzburger „Clemenza“ einerseits und Annio und Servilia andererseits auf einmal lesbisch, als ob das in Mozarts Stück keinen Unterschied machte, ja sogar, als ob es Mozart so gewünscht hätte. Was Wunder, dass die Salzburger Inszenierung dann auch immer wieder befremdend bis ungeschickt (auf gut Österreichisch „patschert“) wirkte. Die Frage ergibt sich sofort: Wie würde Carsen nun „I Capuleti e i Montecchi“, „Hänsel und Gretel“, „Der Rosenkavalier“ oder „Ariadne auf Naxos“ et al. inszenieren?! Opernintendanten, nehmt Euch in Acht! So viel nur dazu.
Cecilia Bartoli. Foto: Marco Borrelli/Salzburger Festspiele
Musikalisch gibt es hingegen weitaus Erfreulicheres und Stimmigeres zu berichten. Natürlich setzte Cecilia Bartoli mit ihrem immer noch glut- und charaktervollen Mezzo starke Akzente als Sesto, ganz zu schweigen von ihrem wie immer intensiven darstellerischen Engagement. Durch sie kam doch einiges an Menschlichkeit in die allgemein triste Atmosphäre. Daniel Behle sang den Tito Vespasiano mit einem klangvollen und in allen Lagen perfekt geführten Tenor, der auch inhaltlich alle Facetten der komplexen und durch viele Gefühlsschwankungen gehenden Rolle ausfüllen konnte. Szenisch war er durch das biedere bürokratische Outfit mit Aktentasche und Businessanzug recht benachteiligt, machte aber das Beste daraus. Alexandra Marcellier agierte als eine hintertriebene und mit allen mimischen und vokalen Tricks „ihre“ Sesto an der Nase herumführende Vitellia. Ihr Sopran überzeugte sowohl mit einer kraftvollen Mittellage wie mit guten Spitzentönen. Mélissa Petit als Servilia und Anna Tetruashvili als Annio brachten hervorragende stimmliche Leistungen auch als lesbisch Verliebte und empfahlen sich für höhere Aufgaben im Mozart-Fach.
Ildebrando Arcangelo, den man sonst eher in einem „Don Giovanni“ prominent gewohnt ist, verkörperte die normalerweise recht kleine Rolle des Publio, die Carsen hier aber entscheidend aufwertet. Er lässt Publio vermuten, dass die Gutmütigkeit Titos noch zum Untergang seiner Herrschaft und damit des Systems führen könnte und lässt ihn somit Vitellias Staatsstreich mit einleiten. Denn diese lässt im Finale Tito durch eine Gruppe messerbewaffneter Gefolgsleute oder Rebellen in Kapuze meuchlings erstechen und setzt sich daraufhin genussvoll auf seinen Thron – freilich ein etwas besseres Modell eines Büro-Drehstuhls. Das war’s und damit so ganz und gar nicht im Sinne Mozarts und der Auftraggeber der Oper. Und eigentlich auch nicht in der Realität des von Carsen so bedingungslos angestrebten Heute. Der bilderbuchhaft gutmütige und gut regierende Sultan Qabus von Oman wurde vor nur wenigen Jahren nach einem natürlichen Tod unter großer Trauer seines Volkes zu Grabe getragen, und Mordversuche an Spitzenpolitikern fanden in den USA und Brasilien eher bei solchen statt, deren Überzeugungen sich nicht ganz mit jenen eines Tito Vespasiano deckten, abgesehen vom früheren Ministerpräsidenten und bis 2010 Präsidenten Victor Juschtschenko in der Ukraine, der sich trotz einer ernsthaften Vergiftung retten konnte. Aber das ist nun auch schon wieder 20 Jahre her. Wo also ist der nachweisbare Gegenwartsbezug der „Clemenza di Tito“ à la Robert Carsen?!
Von dieser Frage ließ sich Gianluca Capuano mit Les Musiciens Du Prince – Monaco und dem exzellenten, von Jacopo Facchini einstudierten Chor Il Canto di Orfeo nicht beeindrucken und sorgte für eine ganzvolle und engagierte musikalische Untermalung des allzu oft nicht zu Mozarts Musik passenden Geschehens auf der Einheitsbühne im Haus für Mozart.
Klaus Billand