Mèdée«, 2. Akt: Vitalij Kowaljow (Créon), Elena Stikhina (Médée), Rosa Feola (Dircé), Pavel Černoch (Jason) und Alisa Kolosova (Néris). Foto. Thomas Aurin
„MÉDÉE“ Großes Festspielhaus (4.8.2019). Bekenntnisse eines Bekehrten
Meine erste spontane Reaktion auf die Vorankündigung des Konzepts dieser Festspielproduktion lautete schlicht und lapidar: „Oh je, wieder einmal!“ – Beim Terrassen-Talk des Pressebüros mit Simon Stone und Thomas Hengelbrock wurde ich freilich hellhörig und war vom wesentlichen Anliegen des Regisseurs, vor allem eine Geschichte zu erzählen, angenehm berührt: Kein zeitgeistlicher Versuch also, von der Bühne aus die Welt neu erklären und die Menschheit wachrütteln zu wollen. Beim Besuch der Generalprobe war ich bis zur Pause mit mir selber uneinig: fasziniert von der Präzision der Abläufe und der Grundidee von drei Darstellungsebenen und Medien, in der filmische Sequenzen und Reminiszenzen von Szenen einer scheiternden Ehe, das eigentliche Bühnengeschehen im modernen Gewande, dazu bei geschlossenem Vorhang telefonische Anrufe der Titelheldin beim Gatten Jason im Spannungsfeld von Bitte und Drohung, fast demütiger Bescheidung und trotziger Selbstbehauptung, koexistierten und einander dramaturgisch wie ästhetisch ergänzten, bisweilen überlappten. Zugleich aber fehlte mir die eigentliche Dimension des Mythos im optischen Angebot. Am Ende dieser Voraufführung war ich freilich bereits restlos begeistert, ja hingerissen, und dieser Eindruck bestätigte und vertiefte sich bei und nach der von mir besuchten Vorstellung. Was machte aber aus dem zögerlichen Saulus einen überzeugten Paulus? Mir ging im Laufe der visuell-dramatischen Begebenheiten auf, dass das myth(olog)ische Moment gerade in der bezwingenden Bilderflut und in der hartnäckigen Leugnung des Logos, also im Verzicht auf eine Widerspruchlosigkeit im rationalen Denken und Verhalten von Menschen besteht: Sprunghaftigkeit suspendiert Konsequenz, brennende Affekte triumphieren über strengen Kalkül.
Deutlich wird in dieser Inszenierung das wechselseitige Fremdheitsempfinden – man muss es nicht unbedingt Xenophobie nennen – zwischen der aus dem „wilden Osten“ stammenden Medea und dem neuen Ambiente, in dem es sich so schwer leben lässt, sobald die seelische Heimat, d.h. die Liebe der Bezugsperson dahinschwindet. Und dass Medea die beiden Kinder vor allem als Frucht und Inbegriff dieser Beziehung und nicht nur um ihrer selbst willen so viel bedeuten, macht die Regie auch in den Zwischentexten plausibel. Dadurch wird das Handeln der verlassenen Frau weniger unmenschlich und dem Zuschauer eher nachvollziehbar. Die beiden Buben sind für Medeas Gefühlsleben vorrangig mehr Instrumente der Rache denn Objekte der Mutterliebe: und das wird in der szenischen Umsetzung triftig evident. Was mir bei der Aktualisierung des Stoffes problematisch bleibt, ist das ‚Dingsymbol’ des goldenen Vlieses, das so ganz im mythischen Wesen und mythologischen Wissen verankert ist. Sein Besitz verheißt Stärke und wird daher zum Gegenstand dringlicher Begierde. Welches Pendant bietet da die Moderne? Sicher keinen kostbaren Pelz, auch keine Insignie, eher noch einen geheimen Plan oder einen elektronischen Code! Ansonsten gibt es viele einprägsame, stimmige, ja bezwingende bildliche Eindrücke: die Hochzeitsparty, die Szene am Flughafen, die Verkleidung Medeas als Serviererin, nicht zuletzt der verzweifelte ‚Liebestod‘: Denn auch die Titelheldin wird zusammen mit ihren Kindern das veranstaltete brennende Inferno im Auto nicht überleben. Dass wir den Knalleffekt der Explosion des Fahrzeugs nicht mehr sehen müssen, verbucht man als sensibler Zuschauer dankbar. Ein solch voraussetzungsreiches Unternehmen bedarf eines kreativen Teams und harmonischer Zusammenarbeit. Bob Cousins (Bühne), Mel Page (Kostüme), Nick Schlieper (Licht) und Stefan Gregory (Sounddesign) waren denn auch erkennbar ein Herz und eine Seele mit dem Regisseur. Und der Dramaturg Christian Arseni erfreut den Leser mit einem hervorragenden informativen Programmbuch.
»Mèdée«, 1. Akt: Elena Stikhina (Médée) und Pavel Černoch (Jason). Foto: Salzburger Festspiele/ Thomas Aurin
Eine Sensation, durchaus der Leistung von Asmik Grigorian als Salome im Vorjahr vergleichbar, bot die Einspringerin Elena Stikhina in der Titelrolle. Darstellerische Empathie, musikalische Eloquenz und nimmermüde, klangschöne vokale Präsenz vereinigten sich zu einer vollkommenen Interpretation der anspruchsvollen Partie. Rosa Feola als ihre Gegenspielerin Dircé war mit ihrem hellen, höhensicheren Sopran die sängerische ‚Lichtgestalt‘ und als solche mit spürbarem Engagement bei der Sache. Pavel Černoch, als Interpret der Titelrolle in Franco Faccios „Amleto“ (Bregenzer Festspiele 2016) in bester Erinnerung, hatte als Jason von der Rolle und ihren charakterlichen Facetten her nicht die allerdankbarste Aufgabe. Als treuloser Gatte ist er kein Sympathieträger und hat auch keine exemplarischen solistischen Aufgaben, muss aber gleichwohl in den Ensembles und den beiden Duetten mit Medea stimmlich seinen Mann stellen. Der hochmusikalische tschechische Tenor, als Figur glaubwürdig, sängerisch kultiviert und intelligent phrasierend, hat nicht ganz die ‚Stamina‘, welche einst Jon Vickers als heldischen Rollenvertreter auszeichnete. Vortrefflich als Typus wie als war als ‚belcanteske‘ Interpretin ist Alisa Kolosova in der Rolle der Néris, welche als treue und hingebungsvolle Dienerin der Titelheldin wie eine antike Brangäne anmutet. Vitalij Kowaljow, der Wotan bei den Osterfestspielen 2017, hatte als Vater Créon unnachgiebige Strenge zu vertreten. Er löste seine Aufgabe ohne Fehl und Tadel, ohne sich gesanglich voll entfalten zu können. Tamara Bounazou und Marie-Andrée Bouchard-Lesieur waren als Begleiterinnen Dircés ansehnliche und wohlklingende Episodistinnen. Amira Casar meisterte in der Sprechstimme Medeas die wechselnden Stimmungen im Gefühlshaushalt dieser Figur bravourös.
Thomas Hengelbrock, ein Musicus doctus unter den heutigen Dirigenten, hat die Partitur sowohl im Kopf als auch im Herzen und vermittelte diese Liebe hörbar den Wiener Philharmonikern, die das Werk zuletzt vor beinahe zwei Generationen in den 1970er Jahren in der Wiener Staatsoper gespielt hatten. Die wichtigen Aufgaben des sängerischen Kollektivs lag bei der Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor (Leitung Ernst Raffelsberger) in den besten Händen, besser noch: in volltönenden Kehlen.
Zwei persönliche Bemerkungen zum Abschluss. Die Musik Cherubinis ist für mich eher leuchtend als glänzend, mehr anregend als aufregend, und an den dramatischen Stellen ‚implodiert‘ sie stärker als zu explodieren. Das kam dem Regiekonzept entgegen, welches dem insgesamt verhaltenen Stück eine attraktive weitere Dimension verlieh. Im Falle von Verdis „Otello“ wäre ein solches Konzept wohl nicht so überzeugend aufgegangen. Schon beim Pausenapplaus, deutlicher noch am Ende der Vorstellung gab es vereinzelte Buh-Rufe, die aber in der begeisterten Zustimmung des Publikums alsbald untergingen.
Mich hat dieser Abend bewegt und ergriffen. Die angeblich durchwachsenen Kritiken habe ich ganz bewusst nicht gelesen.
Oswald Panagl