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SALZBURG/ Festspiele/ Felsenreitschule: „LEAR“ – ein großer Wurf, ein Klassiker der Avantgarde

27.08.2017 | Oper

Salzburger Festspielfinale / Felsenreitschule: „LEAR“ – EIN GROSSER WURF, EIN KLASSIKER DER AVANTGARDE

Dritte Aufführung am 26.8. 2017 (Premiere am 20.8.)

Karl Masek


Gerald Finley. Thomas Aurin/ Salzburger Festspiele

Am 9. Juli 1978 wurde Aribert Reimanns Shakespeare-Vertonung in der Bayerischen Staatsoper uraufgeführt. Die Titelrolle kreierte damals Dietrich Fischer-Dieskau. Dieser regte den Freund und kongenialen Liedbegleiter schon 1968 an, Shakespeares vielleicht wüstestes Werk zu vertonen. Reimann zögerte lange, bevor er diesen Stoff in Angriff nahm. Hatte doch selbst Giuseppe Verdi Jahrzehnte lang King Lear in Betracht gezogen, aber letztlich nie zum Abschluss gebracht. Seit 1972 beschäftigte sich Reimann mit dem Sujet, 1975 kam dann seitens München der Kompositionsauftrag. Das auf etwa zweieinhalb Stunden geraffte Libretto schrieb Claus H. Henneberg in Anlehnung an die Übersetzung des Stücks durch Johann Joachim Eschenburg aus dem Jahr 1777.

Das mit Verdi hat mich natürlich anfangs ein bisschen belastet, aber ich habe das dann von mir weggetan … ich wollte das Stück schreiben und habe mich dann von diesem Damoklesschwert getrennt …, ich konnte erst richtig zu komponieren beginnen, als ich ganz genau wusste, wie das Stück musikalisch aufhört …“, so Reimann in einem Interview mit der Münchener AZ.

Reimanns  „Oper in zwei Teilen“ erwies sich nach Jean-Pierre Ponnelles Uraufführungs-Inszenierung als großer Wurf. Bis zur Salzburger Inszenierung von Simon Stone wurde „Lear“ an die dreißig Mal auf die Szene gewuchtet. Von Harry Kupfer bis Hans Neuenfels, von Keith Warner bis zu Calixto Bieito. In Berlin, Hamburg, Zürich, Frankfurt, Paris, San Francisco,…

(Erinnerungsblatt: Die Wiener Erstaufführung war ein Gastspiel der Komischen Oper Berlin, damals noch DDR, bei den Wiener Festwochen 1986, Inszenierung: Harry Kupfer, Dirigent: Hartmut Haenchen, dreißig Jahre später erfolgreicher „Parsifal“-Einspringer in Bayreuth. Dieses Wien-Gastspiel  habe ich in eindrucksvoller Erinnerung. Und dann gab’s 1997 eine brillante Produktion der „Neuen Oper Wien“. Vier Staatsoperndirektoren trauten sich von 1978 bis 1997 offenbar nicht, „Lear“ mit der radikalen Raimann’schen Klang-

sprache anzusetzen. Und, wie so oft, sprang Walter Kobéra couragiert ein, eine Wiener Repertoire-Lücke zu füllen. Joan Holender hat sich dann jedenfalls zu Ende seiner Ära 2010 die Reimann-Uraufführung der Oper „Medea“ gesichert. Mit rauschendem Erfolg)


Gun Brit Barkmin, Matthias Klink, Evelyn Herlitzius. Thomas Aurin/ Salzburger Festspiele

 Nun also „Lear“, außerhalb des Repertoire-Alltags. Ein Avantgarde-Klassiker des mittlerweile 81-Jährigen. In der Definition Markus Hinterhäusers keine „moderne Oper, aber das zeitgenössische Musiktheaterwerk eines lebenden Komponisten“. Wie eben in Salzburg auch Cerhas „Baal“ und Berios „Un Re in ascolto“ in den 80ern, oder immer wieder Hans Werner Henze, bis hin zu Thomas Adès („The Exterminating Angel“, 2016). Im Repertoirealltag  der Opernhäuser blieb indes kaum eins dieser Werke dauerhaft verankert.

Der 33-jährige australische Regisseur Simon Stone ist nach eigenen Angaben ein besonderer Shakespeare-Verehrer, wohl auch -kenner. Hat er sich doch mit allen seinen Stücken beschäftigt, sie gelesen –  was ihn von jenen unterscheidet, die bei Festspielen ein Werk (oder gar die Kunstgattung als solche!) erstmals kennen lernen. Im Falle des King Lear als Sprechstück habe er den Kern des Stoffes bei vielen Inszenierungen nicht verstanden. Das habe sich erst geändert, als er mit Raimanns Musik konfrontiert war. „Die Musik ist es, die den Wahnsinn enträtselt“.

 Wie souverän Stone mit dem Bühnenraum der Felsenreitschule umgeht, wie er die Protagonist/innen und die 200 (!) Statist/innen führt: Das war schon lange nicht zu erleben und beglaubigt ihn als bildmächtigen Film- und Theaterregisseur, der auch mit einer einfallsreichen Palette an Metaphern arbeitet. Natürlich auch mit Gegenwartsbezügen. Er verlangt den Figuren das Äußerste an Bewegungs- und Körpertheater ab. Bis an die letzte Grenze der Selbstentäußerung werden sie getrieben. Mit Wahnsinns-Tempo und an die äußerste Grenze der Zuspitzung  wird das blutige Wahnsinns-Stück durchmessen. Es beginnt mit floristischem „Geruchstheater“. Auf einer Blumenwiese will Lear, des Regierens müde, das Reich und das Erbe an seine drei Töchter verteilen (Bühne: einen Abend lang bildmächtig Bob Cousins, Lichtdesign: einen Abend lang das Auge beschäftigend Nick Schlieper, Kostüme: hier sind die eher platten Aktualisierungen wie österreichische Polizeiuniform, Jogginganzug des Lear oder das „Zitat“ einer Sportartikelmarke nicht immer plausibel: Mel Page). Bald jedoch dreht sich – nach der Verstoßung Cordelias, die ihrem Vater  nur die Liebe einer Tochter zu ihrem Vater zugesteht –  die Spirale immer wilder in mörderische Machtpolitik, Zerstörungswut, Perversion, blutdurchtränkte Grausamkeit bis hin zum Irrsinn und schlussendlich zur Selbsterkenntnis v.a. des sterbenden Lear und – sehr berührend heraus gearbeitet – des Grafen von Gloster.

Die beiden älteren Töchter (Goneril und Regan) sind anfangs widerlich speichelleckerisch einem Vater gegenüber, der die Staatsmacht aufgeben will, aber „im Privaten an seiner Übermacht als Vater festhalten will“, so Elisabeth Bronfen in ihrem Essay „Reigen der Macht“. Teilen das ihnen zugesprochene Reich unter sich auf und gehen skrupellos und mit abgründig brutaler Gewalt daran, unter Demütigung des Vaters ihre machtgeilen Ziele durchzusetzen. Sie sind die grässlichen Ungeheuer, welche vor keiner Brutalität, vor keiner Perversion, vor keiner Demütigung zurückschrecken.

Schon Shakespeare stellt dies blutrünstige Zerrbild der Macht mit brutaler Schärfe und  gegen Ende geradezu surrealistisch anmutend auf die Bretter. Aribert Reimann gelingt eine musikalische Umsetzung, die ihrerseits keine Grausamkeit und Gehörgang-Attacke auslässt. Sie ist von messerscharfer Personencharakteristik und Instrumentation, voll hämmernder, sich immer mehr aufschaukelnder Schlagzeugorgiastik. Höhepunkt die „Sturmmusik“. Sie ist durch Ihre über 7 Oktaven gehende Akkordballungen, Cluster-Schichtungen und  24 Viertelton-Verknäuelungen von nervenzerfetzender Intensität und mörderischer Kraft. 24 Violinen, 10 Bratschen, 8 Violoncelli, 6 Kontrabässe haben oftmals solistische Funktion durch „Vielfachteilung“. Am anderen Ende der orchestralen Gefühls-  skala: Zarte, zärtliche Flageolettklänge, zerbrechlich, beinah‘ körperlos.

Spannend wie ein Krimi lesen sich in diesem Zusammenhang Reimanns Tagebucheintragungen aus der Entstehungszeit des Werkes:

Die Musik setzt ein, Lear ist im Netz…Das Verlangen nach Schlaf…,9.2.77: In der Nacht plötzlich die Vision des Sturmes. Aus den massiven Akkordschlägen des Sturmes entwickelt sich durch Hängenbleiben der Klänge bis zu einem riesigen Raumklang eine Bewegung, Reaktion des Kosmos, Aufbäumen der Elemente… Alle sind einsam in diesem Dröhnen…7.7.77: Habe den Sturm fertig. Die letzten Tage waren fast unerträglich geworden, drei Wochen lebte ich in diesem Chaos… 22.1.78: Heute in einem den Schlussmonolog geschrieben. Hätte es nicht länger ertragen können…“

 Einsamkeit im Dröhnen, Vierteltonmischungen,Clusterbildungen,…: Die Wiener Philharmoniker klangen wie wohl niemals vorher von diesem Orchester gehört. Einerseits in 1000 Farben oszillierend. Auf der anderen Seite schien es so, als liefen sie – wie „Wozzeck“!  – als ein Rasiermesser durch die Welt.

 Franz Welser-Möst war der Steuermann eines Schiffes durch das Wüten der Elemente. Er, der bei Mozart, Wagner, Richard Strauss oft extra dry „klingt“ bzw. „klingen lässt“,, hielt mit größter Übersicht über das Klanggeschehen souverän Kurs, ließ zeitweise extreme Lautstärke-Exzesse zu – war aber auch bestrebt, dass die Menschen auf der riesigen, breiten Bühne weitgehend textverständlich blieben.

Gerald Finley vollbrachte als Lear eine Glanzleistung, die schier unüberbietbar anmutet. Unfassbar die unerschöpflichen Kraftreserven dieses im Grunde lyrischen, weichen, schön timbrierten und gerundeten Baritons. Er bewältigte die monströsesten Steigerungen mit hochdramatischem Nachdruck, blieb auch absolut wortdeutlich beim Tosen der Orchesterelemente, ging darstellerisch mental in der Irrenhaus- und der Schluss-Szene an absolute Grenzen. Für ihn müsste man den „Sing-Darsteller-Oscar“ erfinden…

Evelyn Herlitzius musste als die blutrünstigste und perverseste von allen als älteste Tochter Goneril besonders viele weite Intervallsprünge bewältigen. Sie hatte mit bewusst hässlicher Stimmgebung immer wieder gegen starre Akkordblöcke anzusingen. Dagegen muten „Elektra“ und „Brünnhilde“ wie ein sängerischer Spaziergang an. Sie bewältigte diese Irrsinnsrolle ohne sonderliche Anstrengung mit unendlich belastbaren Stimmbändern.

Mehr Mühe hatte da schon Gun-Brit Barkmin als die mittlere Tochter Regan mit den ihr abverlangten nervösen Melismen, hysterischen Koloraturen und der insgesamt unangenehm hohen Tessitura. Da wirkte die interessant timbrierte Stimme (zuletzt in Wien machte sie mit einer grandiosen ‚Salome‘ Furore!) teilweise arg strapaziert und man möchte ihr nach dieser Parforcetour zu einer stimmlichen Erholungspause raten.

Aus dem tollen Ensemble ragte weiters Anna Prohaska als Cordelias (Lears jüngste und menschlichste Tochter) mit wunderbaren Schwebetönen heraus. Ihr hat Reimann längere Kantilenen zugestanden, die zärtliche Wiederannäherung mit dem Vater am Krankenbett gestaltete sie, obwohl bewusst unsentimental wie es von Reimann verlangt wird, bewegend.

Der in Estland geborenen Bariton Lauri Vasar berührte als Gloster, dem die Augen ausgestochen werden, tief. Singdarstellerisch erstklassig die sekundenschnelle Verwandlungsszene vom alten, gebeugten, blinden Mann (durch die Narrenmaske, die ihm sein „legitimer“ Sohn Edgar/Tom überstülpt!) zum in neuer Erkenntnis „sehend“ werdender, tänzerisch beweglicher Mensch. Dass es ausgerechnet eine Mickey-Mouse-Maske sein sollte, war im ersten Moment nicht verständlich, bis mich der Blick ins Textheft eines Besseren belehrte: Lear singt in einer Szene: „“Ich bin der König selbst …. SEHT , SEHT, EINE MAUS, STILL,STILL….“

Glosters legitimen Sohn Edgar, der im Stück mehrmals die Identität zum „armen Tom“ wechselt, gestaltete der Countertenor Kai Wessel fabelhaft.  Als sein illegitimer (Halb)bruder Edmund legte sich Charles Workman heldentenoral mächtig ins Zeug.


Michael Maertens (Narr). Copyright: Thomas Aurin/ Salzburger Festspiele

Mit der nötigen Outrage und krächzender Sing-Sprechstimme tigerte der Narr Michael Maertens über die Bühne. Matthias Klink gab dem guten ‚Grafen von Kent‘ die passende Tenorlyrik.

Derek Welton, Michael Colvin und Tillmann Rönnebeck waren in ihren kleinen Rollen präsent.

„Strategien der Macht“ konnten eindrücklich studiert werden. Ein Gedanke noch: Diese dichte, aufwändige Inszenierung hat das Festspielbudget sicher ganz schön angeknabbert. Dass es wohl bei vier Aufführungen bleiben wird (Kooperationspartner, die diese Inszenierung weiter spielen, gibt es wohl nicht), erstaunt…

Auch die dritte Aufführung dieses Opernprojektes wurde mit großer Zustimmung (starker Beifall, gut abgestufter Jubel für Finley, Prohaska, Vasar, Wessel, Maertens, dann erst die Töchter Herlitzius und Barkmin) aufgenommen. Gefeiert wurden natürlich auch Welser-Möst und die Wiener Philharmoniker. Und auch die Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor (der männliche Teil), Einstudierung: Huw Rhys James, wurde vom Publikum mit viel Applaus für eine präsente Leistung belohnt.

Neugier auf die Pressekonferenz am Montag. Nicht nur Resümee, sondern auch Ausblick auf 2018 wird sie hoffentlich beinhalten!

Karl Masek

 

 

 

 

 

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