Valeriia Savinskaia, Tanja Ariane Baumgartner, Ausrine Stundyte. Foto: Salzburger Festspiele/ Bernd Uhlig
„Elektra“ von Richard Strauss bei den Salzburger Festspielen am 15.8.2020
Viele expressive Zeitströme
In der suggestiven Inszenierung von Krzysztof Warlikowski (Bühne und Kostüme: Malgorzata Szczesniak; Video: Kamil Polak) versetzt diese Version der „Elektra“ die Zuschauer in unbekannte Zeitströme. Klytämnestra lässt den Mord an ihrem Mann Agamemnon gleich zu Beginn verbal Revue passieren, die Spannung wirkt aufgeheizt und elektrisiert. Die Protagonisten agieren wie hypnotisiert. Elektras Monolog wird zu einem Psychogramm vergeblicher Lebensentwürfe und Enttäuschungen.
Ausrine Stundyte erscheint als Elektra wie ein junges Mädchen, das aber schon die Schwelle zur reifen Frau erreicht hat. Bei der Auseinandersetzung mit ihrer Mutter Klytämnestra (fesselnd: Tanja Ariane Baumgartner) zeigen sich deutliche Risse in der Persönlichkeit beider Figuren, die sich auch irgendwie in geheimnisvoller Weise zu ergänzen scheinen. Der Regisseur Warlikowski deutet hier manche Details neu – etwa dann, wenn sich Elektras Schwester Chrysothemis (fulminant: Asmik Grigorian) um die erschlagene Mutter kümmert. Orest (mit sonorem Bariton: Derek Welton) wirkt immer wieder wie paralysiert, die Bühne im Hintergrund schillert in lila-roten Farben, die Video-Einblendung offenbart eine wahre Fliegen-Invasion, die sich sprunghaft vermehrt. Das Ganze mutiert zum Alptraum, der den Zuschauer nicht mehr loslässt. Und auch die Erkennungsszene zwischen Elektra und ihrem Bruder Orest besitzt eine bewegend-ergreifende Intensität.
Gleichwohl lässt diese Inszenierung immer wieder Fragen offen, vor allem hinsichtlich der Personenführung könnten manche Details der komplexen Partitur noch genauer herausgearbeitet werden.
Das eigentliche Ereignis dieser Aufführung sind aber die Wiener Philharmoniker unter der akribischen und souveränen Leitung von Franz Welser-Möst, der viele Details der komplexen Partitur gleichsam neu deutet. Die motivische Arbeit wird hier in bemerkenswerter Weise entzerrt und entwirrt und erreicht immer neue Siedegrade. Gleichzeitig werden die Sängerstimmen glücklicherweise nicht zugedeckt. Beim Agamemnon-Thema kann Ausrine Stundyte als Elektra pointiert punkten, deren Kantilenen eine beflügelnde Leichtigkeit besitzen. Der dissonante „Hass“-Akkord zu Beginn und die lyrische Kantilene der Kindesliebe erreichen eine erstaunliche Klangfülle. Das Fortschreiten der Harmonik bis zu den Grenzen der Tonalität lässt Franz Welser-Möst geradezu mühelos Revue passieren, das Herbe und Gewaltige dieser Musik bricht wiederholt in unmittelbarer Wucht herein. Stählerne Härte besitzt diese Elektra rein gesanglich eigentlich nicht. Vergleiche mit Inge Borkh oder Birgit Nilsson verbieten sich.
Beglückend-begeisternde Momente setzt gleichsam die grandiose Chrysothmis von Asmik Grigorian, die dieser Figur auch etwas Mondänes und Unberührbares verleiht. Zuweilen kommt jedoch das rein fraulich-warme Empfinden zu kurz. Auch bei der Auseinandersetzung zwischen Elektra und ihrer Mutter Klytämnestra wünscht man sich noch schärfere Kontraste und Bewegungsmomente. Insgesamt jedoch überzeugt die Vorstellung mit ihrer glühenden Intensität und ungemeinen Farbigkeit. „Salome“ und „Der Rosenkavalier“ bleiben bei Welser-Möst immer spürbar. In weiteren Rollen überzeugen Tilmann Rönnebeck als Pfleger des Orest, Verity Wingate als Schleppträgerin, Valeriia Savinskaia als Vertraute sowie Matthäus Schmidlechner (ein junger Diener), Jens Larsen (ein alter Diener), Sonja Saric (die Aufseherin) und Bonia Hyman, Katie Coventry, Deniz Uzun, Sinead Campbell-Wallace, Natalia Tanasii als Mägde.
Die ungeheuer vitale Kraft dieser Tonsprache wird von Welser-Möst und den Wiener Philharmonikern wie bei einem zusammengesetzen Mosaik gebündelt. Unter der einfühlsamen Leitung von Ernst Raffelsberger kann auch die Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor die Zuhörer begeistern und mitreissen. Und die Choreografie von Claude Bardouil legt auch bei den Protagonisten auf die tänzerischen Komponenten großen Wert. Die sinnliche Pracht des Orchesterklangs kommt nicht zu kurz. Und nicht zu vergessen: Der uferlos in Panik geratene Ägisth von Michael Laurenz.
Alexander Walther