SALZBURG/FESTSPIELE: DER IDIOT – Premiere am 2. August 2024
Großes Musiktheater!
Bogdan Volkov, Ausrine Stundyte, Vladimir Sulimsky. Foto: Bernd Uhlig/Salzburger Festspiele
Am gestrigen Abend warteten die Salzburger Festspiele 2024 mit der ersten ganz großen Opern-Neuinszenierung auf, und zwar mit der letzten Oper des polnisch-russischen Komponisten Mieczyslaw Weinberg, der auch „Die Passagierin“ komponierte, die sich seit einiger Zeit relativ großer Beliebtheit erfreut, zuletzt mit Neuinszenierungen in München, Innsbruck, Tel-aviv, Ekaterinburg et al.
Krzysztof Warlikowski führte wieder in der Felsenreitschule Regie und fand mit seiner Bühnen- und Kostümbildnerin Malgorzata Szcześniak, dem Licht von Felice Ross und den Videos von Kamil Polak zu einem dramaturgisch packenden und psychologisch spannenden Musiktheaterabend mit großartigen Sängern und die komplexe Partitur spektakulär spielenden Wiener Philharmonikern, die von Mirga Grazinyté-Tyla geleitet wurden. Die Musik von Weinberg ist perfekt auf den im Stück vorherrschenden Sprechgesang abgestimmt, mit einem immer wieder hohen bis extremen Maß an Emotionalität. Man denke nur an den auch darstellerisch unglaublichen epileptischen Anfall des Fürsten Myschkin am Ende des ersten Teils. Die Partitur ist unglaublich vielseitig und wirkt in vielen Passagen noch intensiver als jene der „Passagierin“. Mirga Grazinyté-Tyla legte viel Wert auf orchestrale Feinzeichnung und das Herausarbeiten der subtilen und ruhigeren Passagen, um dann umso stärker die Steigerungen zu gestalten. Es wurde ein spannendes, im Zusammenhang mit dem Geschehen auf der Riesenbühne zeitweise mitreißendes Dirigat und musikalisch insgesamt eine absolut festspielreife Leistung. Das Publikum feierte alle Darsteller und auch das Regieteam um K. Warlikowski einhellig und mit großer Begeisterung.
Malgorzata Szcześniak legte die gesamte untere Rückwand der Felsenreitschule vor den geschlossenen Galerien-Fenstern mit hellen Holzpaneelen aus, die einige Türen für Auf- und Abgänge enthielten und eine wohnraumähnliche Atmosphäre schufen. Einige rote und manchmal wandernde Sitzreihen deuteten die Zugfahrt an. Auf die Paneele wurden immer wieder sinnmachende Videos projiziert, so besonders eindrucksvoll zu Beginn die vorbeiziehenden – und zeitweise von großer Zerstörung wie in der Ukraine (!) zeugenden – Landschaften der Zugreise des Fürsten Myschkin nach St. Petersburg. Auf der linken Bahnseite wurde wieder die aus dem Hintergrund nach vorn fahrbare Box aus der „Elektra“ eingesetzt, in der einzelne Szenen und szenische Rückblicke parallel zu Haupthandlung oder auch als solche dargestellt wurden. Diese Zweiteilung des Geschehens erhöhte die Spannung und Vielseitigkeit der Produktion enorm.
Vladimir Sulimsky, Bogdan Volkov. Foto: Bernd Uhlig/Salzburger Festspiele
Bogdan Volkov sang und spielte mit seinem hellen Tenor den Idioten mit einer außerordentlichen Aura und Andersartigkeit, genauso wie sie wohl vom Romanschreiber Fjodor Dostojewski und dem Komponisten beabsichtigt war. Im Russischen ist der Begriff „Idiot“ keineswegs so negativ konnotiert wie im Deutschen. Er bedeutet dort etwa einen Naiven, Andersartigen, Fremdling, was der Oper in Russland den Beinamen russischer „Parsifal“ einbrachte. Das erfuhr ich vom Sänger des Rogoschin der Uraufführung 2013 am Nationaltheater Mannheim, Bass-Bariton Steven Scheschareg, den ich zufällig in der Lobby bei meinem Video-Podcast traf. Volkov wirkte aufgrund seines zur Schau getragenen Glaubens an das Gute in den Menschen, die ihn umgeben, aber alles andere als gut wirken, wie eine Schwächling, war damit aber gleichwohl die stärkste und letztlich bestimmende Figur auf der Bühne!
Bogdan Volkov, Wolfgang Pelikan, Ausrine Stundyte. Foto: Bernd Uhlig/Salzburger Festspiele
Ausrine Stundyte, die hier 2020 die Elektra sang, obwohl sie keine Hochdramatische ist, konnte nun mit ihrer wohlklingenden vollen Mittellage und bestechender Schauspielkunst als Nastassja Filippowna Baraschkowa beeindrucken und voll überzeugen. Sie spielte die zwischen Rogoschin und dem Fürsten Myschkin hin- und hergerissene und letztlich scheiternde Frau facettenreich und enthüllte damit – wie auch der Idiot Myschkin – die ganzen Spannungen, Verletzungen sowie die Falschheit der sie umgebenden Menschen der St. Petersburger Gesellschaft.
Ebenso eindrucksvoll sang Vladislav Sulimsky den Parfjon Semjonowitsch Rogoschin, dem auch die Tatsache zugute kam, dass in der Originalsprache Russisch gesungen wurde. Hinzu traten der exzellente, immer wieder kommentierende Iurii Samilov als Lebedjew. Besonders hervorzuheben ist noch Xenia Puskarz Thomas, die als Aglaja mit einem klangschönen Sopran und gutem Engagement glänzte. Ferner sangen und spielten – alle bei einer exzellenten und stark rollenbezogenen Personenregie – Clive Bayley als Jepantschin, Maragarita Nekrasova als persönlichkeitsstarke und dennoch etwas drollige Frau Jepantschins, Jessica Niles als Alexandra Jepantschina, Pavol Breslik als Iwolgin, Daria Strulia als Warja (Teilnehmerin des Young Singers Project), Jerzy Butryn als Afanassi Iwanowitsch Trotzki, Alexander Kravets als Messerschleifer und Jutta Bayer als Adelaida Jepantschina.
Die Herren der Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor waren bestens von Pawel Markovic einstudiert und nahmen auch sehr intensiv, so als Businessmen-Gefolge Rogoschins, am Geschehen teil. Ein Salzburger Festspielabend in der immer wieder beeindruckenden Felsenreitschule, den man lange, eigentlich nie vergessen können wird…
Klaus Billand