SAALFELD / Meininger Hof: IDALIDE O SIA LA VERGINE DEL SOLE von LUIGI CHERUBINI – Erste Aufführung seit 1784 und deutsche Erstaufführung
am 16.2. 2018 (Werner Häußner)
Katharina Borsch, Lena Spohn. Foto: Lisa Stern
Luigi Cherubini gehört zu den Komponisten, deren Name wohl geläufig, deren Werke aber weithin unbekannt sind. In den letzten Jahren hat nur seine „Medée“ eine gewisse Renaissance erfahren. Doch dank einer wissenschaftlich-kritischen Edition seiner Werke mit Prof. Dr. Helen Geyer (Weimar) als Leiterin und der Internationalen Cherubini-Gesellschaft hat es eine Reihe von Wiederentdeckungen und deutschen Erstaufführungen gegeben. Die jüngste fand nun im thüringischen Saalfeld statt: Das Ensemble des derzeit wegen Bauarbeiten geschlossenen Theaters Rudolstadt widmete sich einer frühen opera seria Cherubinis, die seit ihrer Uraufführung 1784 in Florenz nie mehr gezeigt worden war: „Idalide“ oder „La Vergine del Sole“.
Das Libretto für die Oper des 23jährigen Cherubini stammt von Ferdinando Moretti, der sich des Romans „Les Incas ou la destruction de l’empire du Pérou“ von François Marmontel bedient. Eine exotische Geschichte, die das Inka-Reich nicht nur als Staffage für abenteuerhungrige europäische Leser benutzt, sondern kritisch auf die Kolonisierung der Neuen Welt blickt und aufklärerische Ideen von Toleranz und guter Staatsführung vertritt. Moretti hat für sein Libretto ein Dreiecks-Liebesdrama eingefügt: Der spanische Eroberer Enrico, der sich auf die Seite der Inkas geschlagen hat, steht nun zwischen der zu jungfräulichem Leben verpflichteten Sonnenpriesterin Idalide und der Schwester des Königs Ataliba mit dem ebenfalls bewusst fremd klingenden Namen Alciloe.
Das Ende der Oper vermittelt eine eindeutige, aufklärerische Botschaft: Idalide wird wegen Verletzung ihres Keuschheitsgelübdes zum rituellen Begräbnis bei lebendigem Leib verurteilt. Aber Enrico, ihr Geliebter, erinnert den König, dass die Verurteilung Idalides wider die Natur sei. Daraufhin begnadigt Ataliba die Priesterin. Leider sind die Rezitative und der Schlusschor der Oper verloren – und das Regiekonzept der Aufführung in Saalfeld lässt sie dort enden, wo auch die Überlieferung abbricht. So bleibt die Lösung letztlich offen.
Regisseur Viktor Vysotzki löst das Dilemma des fehlenden Materials, indem er als Gerüst der Handlung eine Talkshow einführt: Die Protagonisten geben über ihre Handlungen und Motive Auskunft vor dem Publikum, das die Rolle der Zuschauer in einem imaginären Fernsehstudio einnimmt. Aus Idalide wird eine „ranghohe Geheimnisträgerin des Sonnenstaates“, aus Enrico ein „europäischer Militärberater“, der sich in Flecktarn und mit grimmigem Blick sogleich zwischen den Stehpulten und farbig beleuchteten Sitzwürfeln des Studios einfindet. Ausstatterin Gretl Kautzsch hat im Veranstaltungszentrum „Meininger Hof“ in Saalfeld nicht viele technische Möglichkeiten: Kautzsch arbeitet mit Licht (Christoph Kliefert) und stellt eine Skulptur in den Mittelpunkt des Raumes, die an eine Stufenpyramide erinnert und im zweiten der drei Akte auch für einen spektakulären Vulkanausbruch steht – die spätere Grand Opéra mit ihren Schaueffekten lässt bereits grüßen.
Die Musik Cherubinis wird in diesem Setting zur Trägerin von Erinnerungen: Die Personen im Studio wandeln sich in Rückblenden zu Akteuren ihrer eigenen Lebensgeschichte, szenisch markiert durch Accessoires wie fantasievollen Kopfputz oder eine zweiseitige Maske, durch die Enrico den Tod verkörpert. Immer tiefer verlieren sich die Menschen in dieser imaginären Welt, bis die Studio-Situation fast völlig verschwindet und Jochen Ganser als wortgewaltiger, ausdrucksstarker Erzähler und Moderator in den Hintergrund tritt. Eine pragmatisch probate Lösung, die aus Not eine Tugend macht und den scheinbar nur noch historisch interessanten Stoff in die Gegenwart holt.
„Idalide“ steht in mehrfacher Hinsicht für eine wichtige Phase in der Karriere des jungen Cherubini: Der Auftrag des Jahres 1784 für zwei Seria-Opern – die zweite war „Alessandro nelle Indie“, uraufgeführt in Mantua – war wohl die Reaktion auf Cherubinis opera buffa „Lo sposo di tre e marito di nessuna“, die im November 1783 in Venedig einen beachtlichen Erfolg einheimste. In Florenz begab sich Cherubini in Konkurrenz mit renommierten Zeitgenossen wie Domenico Cimarosa, Giovanni Paisiello, Giuseppe Gazzaniga oder seinem Lehrer Giuseppe Sarti, für den Moretti das Libretto wohl ursprünglich geschaffen hatte: eine „Idalide“ Sartis wurde 1783 in Mailand uraufgeführt.
Offenbar gaben die beiden Opern dem Selbstbewusstsein Cherubinis einen entscheidenden Schub, denn ein Jahr später war Cherubini bereits in London und siedelte sich anschließend in Paris an, das er 1788 für eine weitere Zusammenarbeit mit Moretti für Turin kurz verlassen sollte: Diese „Ifigenia in Aulide“ wurde 2016 als konzertante deutsche Erstaufführung in Würzburg unter Enrico Calesso so erfolgreich wiederbelebt, dass man sich eine szenische Realisierung dringend wünschen würde.
Moretti war in den 1780ern in Italien ein vielbeschäftigter Librettist. Er schrieb u.a. für Vicente Martín y Soler und für Domenico Cimarosa, der das „Idalide“-Libretto als „La Vergine del Sole“ um 1788 für Sankt Petersburg vertonte. Er beweist nicht nur ein Kenntnis damals aktueller philosophischer Strömungen, sondern reißt Motive an, die dazu einladen, sie in die Zukunft zu verfolgen: den Vulkanausbruch etwa in Aubers „La Muette de Portici“, die „gefallene“ Priesterin bei Mercadante und Spontini („La Vestale“) oder Bellini („Norma“), das lebendig Begrabenwerden in Verdis „Aida“.
Musikalisch erweist sich Cherubini auf der Höhe seiner Zeit in ihrem Streben nach groß angelegten musikalischen Einheiten und dem psychologischen Einsatz der Form, wie sie Helen Geyer im Programmheft beschreibt. Auch darin öffnet sich der Weg, wenn auch noch anfanghaft, zu den späteren französischen Opern Cherubinis, mit denen er von Beethoven bis Brahms höchste Bewunderung erreichte. Unter der inspirierenden Leitung von Oliver Weder bleiben die Thüringer Symphoniker Saalfeld-Rudolstadt weder den spritzigen Tempi noch manch versonnen-lyrischen Momenten etwas schuldig. Die Streicher bringen Artikulationsfarbe ins Spiel und verlebendigen so manchen routinierten Abschnitt in Cherubinis Musik; die Bläser überzeugen mit leichtem, gerundetem Ton etwa im langsamen Abschnitt der Ouvertüre (Flöte und Oboe mit Cello), in der Auftrittsarie der Alciloe, in der die Flöte die Stimme umspielt, oder im markanten, trompetenglänzenden Auftritt von König Ataliba.
Das fünfköpfige reine Frauenensemble – in der Uraufführung sangen zwei Kastraten – bewegt sich stimmschön und stilsicher durch Cherubinis Noten. Oft werden raffinierte Verzierungen und virtuose Koloraturen verlangt. Damit kann Lena Spohn als Enrico bereits in ihrer ersten Arie mit entspannter Intonation und einer großen Kadenz überzeugen. Ihre zurückhaltende Artikulation der Konsonanten allerdings geht auf Kosten der Verständlichkeit, betont auch eher den Charakter des sensiblen Liebhabers als des entschieden handelnden Militärs. Katharina Borsch als Idalide hat von Staccato-Ketten bis zu weiten Intervallsprüngen das ganze virtuose Arsenal einer Königin der Nacht aufzubieten. Die Sängerin, früher im Jungen Ensemble des Musiktheaters im Revier in Gelsenkirchen, kämpft nicht, sondern beherrscht die Herausforderungen agil und tonschön.
Als Ataliba darf Mezzosopran Martha Jordan mehr sonore Würde zeigen, doch auch ihr wird das bewegte Spiel des „canto fiorito“ nicht verwehrt. Daria Kalinina wirkt als Alciloe in ihrer Rolle als Schwester des Königs und Konkurrentin Idalides wie eine Proto-Amneris; für die Schatten der Eifersucht, des Zweifels und der gekränkten Liebe überwindet sie die anfänglich etwas verfestigte Position ihres Soprans und steigert sich in expressives Singen, das gleichwohl die stilistischen Grenzen kontrolliert-gezügelter Tongebung nicht verletzt. Josefine Göhmann hat als Palmoro – der Vater Idalides – ein ganzes Spektrum von Gefühlen zwischen erregtem Zorn, ratloser Verzweiflung und einsamer Trauer auszubreiten. Ihr hat Cherubini mit die tiefsten Momente seiner Musik gewidmet – und die Sängerin kann die emotionale Dynamik ihrer Rolle bewegend darstellen.
Ob Cherubinis „Idalide“ in absehbarer Zeit noch einmal auf einer Bühne erscheint, ist wegen der fehlenden Rezitative kaum wahrscheinlich – da müsste sich ein Team von Liebhabern finden. Aber die Musik, eine versierte Arbeit auf höchstem handwerklichem Niveau, weckt Erwartungen, die Cherubini später eingelöst hat und erzeugt Vorfreude auf weitere Entdeckungen, die hoffentlich nicht lange auf sich warten lassen.
Werner Häußner
Weitere Aufführungen im Meininger Hof in Saalfeld/Thüringen am 15. und 16. März, jeweils um 19.30 Uhr. Info: https://theater-rudolstadt.de/stueck/idalide-oder-die-jungfrau-der-sonne/