SA-CD GIACOMO MEYERBEER: LE PROPHÈTE; LSO
Spektakulärer Live-Mitschnitt vom 15.7.2023 aus dem Grand Théâtre de Provence, Festival d’Aix-en-Provence
Was für ein eigentümliches Werk! Große Sänger, Chor und Ballettoper in einem. „Le Prophète“ feierte einen Riesenerfolg bei der Uraufführung, das Publikum und die schreibende Zunft warten war gleichermaßen begeistert von der pompösen Ausstattung, dem Spektakel inkl. einer Ballettszene auf Schlittschuhen sowie eines erstmalig elektrisch beleuchteten Sonnenaufgangs, dem Pathos der Erzählung und den musikalischen Eindrücken. Die auf uns heute manchmal so langatmig wirkende Gattung der französischen Grand Opéra erfuhr durch den in Berlin geborenen Giacomo Meyerbeer („Robert le Diable“, „Les Huguenots“ und vielleicht als Gipfel durch „Le Prophète“) immensen Auftrieb. Bei „Le Prophète“ nach einem Libretto von Eugène Scribe kam noch dazu, dass die soziopolitischen Anliegen der Oper (Befreiung vom Joch des Feudalismus und Willkürherrschaft versus Fanatismus und Manipulation) im revolutionären Getriebe rund um 1848 auf besonders fruchtbaren Boden fielen.
Wie schwer „Le Prophète“ zu besetzen war und auch heute noch ist, spiegelte sich damals u.a. in der Verschiebung der Uraufführung der 1841 in einer ersten Fassung vorliegenden Oper auf das Jahr 1849. Sicherlich trugen Animositäten zwischen Meyerbeer und Léon Pillet, dem Chef der Académie Royale de Musique, ebenso erheblich zur späten Uraufführung bei. Die andere Seite der Medaille war, dass der ursprünglich für die Rolle des Jean angedachte Gilbert Duprez über den Zenit hinaus war und erst 1848 mit Gustave Roger ein neuer charismatischer Tenorstar die Bühnen von Paris eroberte. Gemeinsam mit Pauline Viardot als Jeans Mutter Fidès erblickte „Le Prophète“ am 16.4.1849 erstmals szenisch das Licht der Welt.
Der Plot geht auf ein geschichtlich fundiertes Ereignis zurück, nämlich den Aufstand der Wiedertäufer im 16. Jahrhundert. Das war eine radikalreformatorische Bewegung, die besonders in Süddeutschland, der Schweiz und den Niederlanden erfolgreich war und als Vorläufer der heute noch aktiven Amischen in den USA gilt. Ein besonderes Merkmal der „Brüder in Christo“ bildet die Gläubigentaufe, d.h. die Taufe erst im Erwachsenenalter verbunden mit einem aktiven, persönlichen Bekenntnis zum Glauben. Dieses religionspolitische Kapitel dient aber nur als Kulisse für eine dramatische Befreiungs-, Bauern- und schließlich Liebesgeschichte des Jean mit Berthe, überzuckert durch Jeans enge Beziehung zu seiner Mutter Fidès.
Historisch war Jean ganz sicher ein gar fürchterlicher Mensch. Ein größenwahnsinnig gewordener Wirtssohn aus Leiden tritt dem Glauben der „Täufer“ bei, kommt als Priester nach Münster, wo er eine grausame Theokratie mit sich selbst als König begründete. Fortan galt da das Alte Testament. Als die Stadt unter Anleitung des katholischen Bischofs wiedererobert wurde, erlitt der vielfache Mörder Jean einen brutalen Foltertod.
In der Oper folgt die Handlung natürlich anderen Kriterien. Da gibt es den bösen Feudalherren Oberthal, der Berthe und Jean die Zustimmung zur Ehe verweigert. Derweil fasst Jean, der davon träumt, Erlöser zu sein, wegen seiner angeblichen Ähnlichkeit mit dem biblischen König David Zutrauen zu den Täufern. In der Oper gebärdet sich Jean als messianischer Klassenkämpfer gegen den Feudalismus und für die Rechte der Bauern. Der Gruppe der Anabaptisten tritt er deshalb bei, um sich für begangenes Unrecht an Berthe, die von Oberthals Schergen verhaftet wird, rächen zu können. Durch Jeans Gegenspieler Zacharie verkompliziert sich die Sache, als Jean wegen einer von Zacharie veranlassten, verlorenen Schlacht den Ruf als falscher Prophet wieder loswerden muss. Berthe glaubt indes Fidès, die behauptet, der neue Prophet hätte ihren Jean hinrichten lassen. Das Drama kulminiert in der Krönungsszene des vierten Aktes, wo Fidès im Dom ihren Sohn wieder erkennt, aber von ihm verleugnet wird, weil der Prophetenkönig als Wunder gilt, der von “keiner Frau getragen noch geboren worden ist.“ Dass das alles schiefgehen muss, ist klar. Bevor er nach dem Selbstmord von Berthe seine Feinde und sich selbst im Palast dem Feuertod überantwortet (Mama Fidés geht freiwillig in die Flammen mit), schält sich heraus, dass der Kaiser, der mit einem Heer auf die Stadt zumarschiert, dem religiös autoritären Treiben ein Ende setzen wird.
Meyerbeer, der im Übrigen mit Carl Maria von Weber bis zu dessen Tod 1826 eng befreundet war, gelangen in „Le Prophète“ effektvolle Chorszenen, reizvoll beschwingte Ballette (Pas de la Redowa, Quadrille des patineurs, Galop) und – ohne auf allzu eingängige Melodien verweisen zu können – hochvirtuose Vokalsoli und Duette. Aber er erweist sich ebenso als geschickter Neuerer mit wiederkehrend eingesetzten Motiven, fantasievoller Instrumentierer und vor allem als kluger Gestalter innerlich zerrissener, in ihrer Gefühlsambivalenz erstaunlich modern wirkender Figuren. Die Melomanen von heute interessieren natürlich am meisten die anspruchsvollen Gesangsrollen. Allen voran ist die von der Tessitura her immens fordernde Tenorrolle des Jean legendär, nicht minder das lyrische Flehen, die blitzenden Koloraturen der Berthe und die erdigen Kontraaltorgelklänge der Fidès, vielleicht die aufsehenerregendste Rolle der Oper überhaupt (autobiografisch psychologische Identifikationsfläche mit Meyerbeers eigener Mutter). Aber auch das Wiedertäufer-Trio Jonas, Mathisen und Zacharie bietet vokales Wunderkerzenfeuer.
Und das wurde 2023 live beim Festival d’Aix-en-Provence dermaßen spektakulär gezündet, dass wir nun von der besten Aufnahme dieser Oper im Katalog überhaupt berichten dürfen. Ich kenne die CBS-Aufnahme mit Horne, Scotto, McCracken und Hines sowie die Bootleg-Veröffentlichung bei Opera Magic‘s des Rai Torino 1970 mit Horne, Gedda, Rinaldi und le Hage, beide dirigiert von Henry Lewis. Beide liegen vor allem, was die Besetzung des Jean und der Berthe sowie die generelle musikalische Interpretation betrifft, unter dem Niveau der neuen Aufnahme. Das London Symphony Orchestra, das Orchestre des Jeunes de la Méditerranée sowie der Lyon Opera Chorus unter der musikalischen Leitung von Sir Mark Elder bieten eine duftige bis dramatisch-sehnige Lesart, die glücklicherweise niemals ins Schwerfällige oder Effekthascherische abgleitet. Die Chöre rauschen mächtig daher, das LSO trifft einen stilistisch gut ausbalancierten Ton einer Musik, die auf einzigartige Weise deutsche, italienische und französische Einflüsse amalgamiert.
Die Besetzung mit dem höhensicheren, hell timbrierten, im Lyrischen wie im Heldischen gleichermaßen überzeugenden John Osborn (Jean de Leyde), der mit luxuriösen Cellotönen fein alle Seelenlagen einer liebenden wie sorgenvollen, sich selbst komplett zurücknehmenden Mutter austarierenden Elizabeth DeShong (Fidès), der bis in Spintosphären vordringenden lyrischen Koloratursopranistin Mane Galoyan (Berthe), dem eleganten Bariton-Bösewicht Edwin Crossley-Mercer (Le comte d’Oberthal), dem grummelnden Bass des James Platt (Zacharie), Guilhem Worms (Mathisen), Valerio Contaldo (Jonas) und Maxime Melnik (verschiedene kleine Rollen) ist sowohl von den Stimmcharakteren als auch deren technischer Möglichkeiten und vokaler Bravour exzellent gewählt.
Die technische Qualität des Live-Mitschnitts hat mich ebenfalls überzeugt.
Empfehlung!
Dr. Ingobert Waltenberger