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SA-CD Francisco Coll „Violinkonzert“, „Iberische Miniaturen“ und andere Werke für Orchester: Patricia Kopatchinskaja und das Orchestre Philharmonique Luxembourg; Pentatone

10.06.2021 | cd

SA-CD Francisco Coll „Violinkonzert“, „Iberische Miniaturen“ und andere Werke für Orchester: Patricia Kopatchinskaja und das Orchestre Philharmonique Luxembourg; Pentatone

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„Das Schicksal des Komponisten ist seltsam; er verbringt sein Leben damit, einsam zu schreiben, dringt dabei in andere Sphären der Wirklichkeit vor und versucht so, die unmögliche Welt konkret und anschaulich werden zu lassen. All das in der Hoffnung, dass irgendwann in der Zukunft fremde oder vertraute Menschen den Code knacken und diese Welten in Aufführungen zum Leben erweckt werden.“ Francisco Coll

Bisweilen sind Erfolgsrezepte einfach: Es braucht nur die weltbeste Geigerin, einen in Sachen zeitgenössische Musik engagierten Dirigenten samt ebensolchem Orchester und natürlich einen schöpferisch auf neuen Pfaden wandelnden Komponisten, der traditionelle Formen mit neuem Inhalt füllt. Nein, die Geschichte der Instrumentalmusik ist noch nicht an ihrem historischen Ende angelangt.

In der Serie Komponistenporträts des Orchestre Philharmonique Luxembourg unter der Leitung des Dirigenten Gustavo Gimenez ist soeben ein Album mit zwischen 2005 und 2019 entstandenen Orchesterwerken – zwei davon mit konzertanter Violine – des spanischen Tonsetzers Francisco Coll García erschienen. Der 36-jährige Adès-Schüler lebt in Luzern, die moldawische Geigerin Kopatchinskaja mit profunder Ausbildung in Wien hat in Bern ihrer Zelte aufgeschlagen. Coll wiederum war von 2018-2019 „Composer in Residence“ bei der Camerata Bern.

Die Auswahl der Werke auf dem Album zeichnet die Entwicklung des Komponisten vom frühen „Aqua cinerea“ (2005/2019) über „Hidd’n Blue“ (2009 von François-Xavier Roth und dem LSO uraufgeführt), den „Four Iberian Miniatures“ für Violine und Kammerorchester und „Mural“ (2014) bis zum 2019 entstandenen dreisätzigen „Violinkonzert“ nach, das Coll der Virtuosin Patricia Kopatchinskaja als „Reise durch die Geschichte des Violinkonzerts“ auf den Leib und in die Fiedel geschrieben hat.

Als Vorbilder für Schöpferisches nennt Coll Anselm Kiefer, der „Geschichte als geschichtetes Material“ sieht und György Ligeti, der Avantgarde mit einer kontinuierlichen Tradition[WI1]  in einer natürlichen Diversität verbindet. Im Violinkonzert werden die Sätze programmatisch benannt: „Atomized“, „Hyperhymnia“ und „Phase“. Im zweiten Satz zitiert Coll aus Wagners Oper „Tannhäuser“ (Venusberg-Musik), das Violinsolo „Hyperlude IV“ grüßt aus der Ferne als autobiographische Reminiszenz an das Kennenlernen mit der Geigerin Kopatchinskaja in Valenzia. Das Violinkonzert selbst strotzt nur so vor Energie und Spannung. Es stellt Violine und Orchester auf eine Stufe und findet trotz der multiplen tektonischen Brechungen letztlich zu einer stilistischen Einheit.

Faszinierend zu hören ist, wie das Orchestre Philharmonique Luxembourg unter der Leitung von Gustavo Gimeno den Ariadnefaden der Partitur aufnimmt und das knapp 30-minütige Werk in all seiner expressiven Modernität konkretisiert. Das darf dann auch mal „schön“ klingen, „der Neuerung als zentralem Aspekt der Kunst, der Ästhetik der stetigen Fortentwicklung“ traut Coll schon länger nicht mehr. Und Patricia Kopatchinskaja? Es ist das Konzert ihres Lebens. Die Fülle der künstlerischen Qualitäten dieser bedeutenden Muse zeitgenössischer Musik, nirgendwo anders kommt sie stärker, fesselnder und zwingender zum Ausdruck als bei diesem genialen Violinkonzert.

Zur „Werkstatt“ des Komponisten: Coll liebt die Surrealisten, als Kind hatte er stets Drucke der vom Mittelalter in das 20. Jahrhundert übersetzten atavistischen Visionen Salvador Dalis um sich. Kein Wunder, war sein Vater doch Einrahmer und die Familie daher von einer Unzahl an Bildern umgeben. Die „Zerrspiegel der Seele“, die wir in Dalís Werk zu sehen bekommen, reflektieren bisweilen auch die Techniken des spanischen Musikers. Zudem scheint er dessen „abgründig verzerrte Groteske oder bizarre Phantastik“, aber auch das Flüchtige und „verdeckt Illusionistische“ in seine Musik übernommen zu haben. Er arbeitet in Schichten ähnlich wie ein Maler, der bei der Entstehung seines Ölbilds behutsam Lage für Lage auf die Leinwand aufträgt. Ein reiche Palette – vielleicht ist das Wort Orgie zutreffender – an ungestüm erdigen bis hitzigeren Orchesterfarben scheint diese These zu untermauern. Hier wiederum bestehen Parallelen zum spätromantischen Arnold Schoenberg, der ja auch ein intimes Naheverhältnis zur Malerei hatte. Coll resümiert, dass er in seiner Musik Vertrautes zusammen mit unkonventionellerem Material verwendet. „Die emotionale Vertrautheit in der musikalischen Oberfläche soll einen Zugang für die Hörerinnen und Hörer schaffen. Ich hoffe aber, dass sich ihnen auch der tieferliegende, intellektuellere Modus erschließt.“

Aber Coll ist auch gelernter Posaunist, was sich ebenfalls in seinen Kompositionen niederschlägt. Sein erhabenstes Werk auf dem Album ist das fünfsätzige „Mural“ für großes Orchester. Als Inspiration dienten bildlich die Alpen in all der unantastbaren Majestät von Kathedralen und die gewaltigen erratischen Klangblöcke, wie wir sie von Anton Bruckners symphonischem Schaffen kennen. Zitate aus Tomás Luis de Victorias „Requiem“, aus Bachs Kantate „Es ist genug“ und, versteckter, aus einem Song von Marilyn Manson, machen genau das Parfum aus, das den Kompositionen Colls ihre fantasiesprühende Unverwechselbarkeit garantiert.

„Four Iberian Miniatures“ für Violine und Orchester wurden 2014 mit dem Solisten Pekka Kuusisto im UK uraufgeführt. Hier geht es um die persönliche Aneignung spanischer Folklore, die Fortführung des Erbes von Tango und Flamenco wie bei Manuel de Falla, freilich aller Klischees enthoben, humorig und schräg zugleich.

Fazit: Ein Album, das zeitgenössisches Musikschaffen auch für konservativere Geister mit kulinarischem Glanz und virtuoser Bravour extrem attraktiv macht. Verblüffend.

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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