ROSTOCK: ERMIONE von Gioacchino Rossini – szenische deutsche Erstaufführung am 9.3.2016 (Werner Häußner)
Volkstheater Rostock. Copyright: Werner Häußner
In dieser Oper brennt verstörender Hass. Und die Liebe kümmert in dürren Nischen. Kein Wunder, dass Neapels Opernpublikum am 27. März 1819 Gioacchino Rossinis neuestes Werk „Ermione“ durchfallen ließ, obwohl es keineswegs nur die glücklichen Finali der barocken Tradition kannte: Sechs Jahre vorher fegte Giovanni Simone Mayrs „Medea in Corinto“ über die Bühne des Teatro San Carlo, ein ähnlich radikales Stück über furchtbare menschliche Enttäuschungen, hasserfüllte Rache und heillose innere Verwüstungen.
Doch Rossini spitzt den antiken Stoff um die aus Troja in die Sklaverei geführte Witwe Hektors, Andromache, und ihren Sohn Astyanax unheilvoll und kompromisslos zu. Und stellt Ermione in den Mittelpunkt, die Tochter von Menelaos und Helena, damals gesungen von einer der größten Tragödinnen ihrer Zeit, Isabella Colbran, die auch Mayrs Medea kreiert hatte – und die drei Jahre später ihren langjährigen Liebhaber Rossini heiraten sollte.
Ein einmaliger Fall: Rossini zog nach der Uraufführung die Partitur zurück, meinte, erst die Nachwelt werde sein Werk zu würdigen wissen. Erst 1987 erschien „Ermione“ – nach konzertanten Aufführungen in Siena und Padua – beim Rossini Festival Pesaro wieder. Seither gab es eine Reihe von Inszenierungen in Italien, England, den USA, aber nicht in Deutschland. Wie modern diese „azione tragica“ heute noch wirkt, ist nun bei der szenischen deutschen Erstaufführung am Volkstheater Rostock zu erleben.
Streit um das Schicksal des kleinen Astyanax (Mitte). Von links: Karl Huml (Fenicio), Jasmin Etezadzadeh (Andromaca), Paul Nilon (Pirro), Gulnara Shafigullina (Ermione). Foto: Nordlicht/Frank Hormann
Basierend auf einer düsteren Tragödie Jean Racines – die schon André-Ernest-Modeste Grétry zu einer nachtschwarzen tragédie lyrique inspiriert hatte – schrieb Andrea Leone Tottola für Rossini ein Libretto, das die Liebe aus dem Beziehungsraum der Menschen bannt. Allenfalls die Zärtlichkeit der um ihren Sohn bangenden Mutter darf sich in der Auftritts-Cavatina der Andromaca „Mia delizia!“ äußern. Die Liebe, die Ermione dagegen für Pirro, den Sohn Achills und König von Epirus hegt, ist schon durch Rachedurst, Eifersucht und Selbsthass verätzt. Für den König fatal: Er schätzt seine Gefangene Andromaca, weist seine frühere Verlobte Ermione zurück, verursacht damit aber eine politisch gefährliche Situation. Argwöhnisch beobachten die griechischen Könige und Sieger über Troja, dass Astyanax, der letzte männliche Spross des trojanischen Herrscherhauses, am Hofe von Pirro viel zu gut behandelt wird. Schon haben sie Oreste, Agamemnons Sohn losgeschickt, der den Tod des trojanischen Prinzen einfordern soll.
Pirro hat aber andere Pläne: Sollte ihn Andromaca heiraten, werde er Astyanax zu höchsten Ehren erheben. Die geplante Hochzeit wird zum Politikum, aber Andromaca ist weit entfernt, zuzustimmen. Zu sehr hält sie die Trauer um ihren gefallenen Gatten gefangen. Als es so aussieht, als könne Pirro den Widerstand der Witwe überwinden, schmiedet die tief gekränkte Ermione einen blutigen Plan, für den sie den hoffnungslos verliebten Oreste als Werkzeug einsetzt …
Mit Recht heißt die Oper „Ermione“, denn dieser Frau, deren Liebe nur noch als Echo in ihrem Furor widerhallt, schuf Rossini eine weit vorausweisende expressive Musik: von ihrer emotional geladenen Auftrittscavatine über ein seelenvolles Duettino mit Pirro, in dem sich beide nach Ruhe sehnen; von der bitteren Erkenntnis, dass sich ihre Seele nie von ihren Verletzungen erholen würde, bis hin zur ausgreifenden Finalszene mit ihren extremen inneren Konflikten. Wahnsinn und todestrunkene Verzweiflung drückt Rossini mit den musikalischen Mitteln aus, die ein gutes Jahrzehnt später Vincenzo Bellini in seiner „Norma“ vollendet hat.
Das Rostocker Theater hat mit Gulnara Shafigullina eine veritable Entdeckung im dramatischen Rossini-Gesang zu bieten: Die Russin hat ihre Karriere in den Niederlanden grundgelegt, 2012 den zweiten Preis im Montserrat-Caballé-Wettbewerb gewonnen und 2015 in Rostock mit Mozarts Donna Anna debütiert. Sie zeigt sich mit substanzvollem Ton, gut entwickeltem Zentrum, fließender Geläufigkeit, aber vor allem beachtlichem Ausdrucksvermögen den differenzierten emotionalen Nuancen dieser großen Colbran-Rolle gewachsen. Wenn sie am Ende mit lodernden Tönen die Eumeniden beschwört, braucht sie das Feuer nicht mehr, um unterzugehen: Sie hat sich längst in den ausgebrannten inneren Klüften ihrer zerrütteten Seele verrannt. Shafigullina lässt den Zuhörer mit ihrer vor Erregung bebenden Stimme die Katastrophe Ermiones miterleben.
Ein anderer respektabler Belcanto-Darsteller ist bereits von der Einspielung der „Ermione“ unter David Parry bekannt: Der britische Tenor Paul Nilon gibt dem Pirro das Profil eines selbstbewussten, aber emotional unsteten Herrschers. Die Intervallsprünge, die höhenbetonte Attacke und die ausgefeilten Fiorituren sind nicht nur den stimmlichen Fertigkeiten des Uraufführungssängers Andrea Nozzari angepasst, sondern entsprechen dem Charakter der Figur. Nilon erfüllt diese technischen Ansprüche mit versiertem Stilgefühl, das sich etwa in der Arie „Balena in man del figlio“ zeigt. Nilon beherrscht nicht nur ausdrucksmächtige Verzierungen, sondern kann auch eine lyrische Kantilene erfüllen.
Mit Jasmin Etezadzadeh als Andromaca kann das Rostocker Theater auch die zweite wichtige Frauenrolle der Oper ansprechend besetzen. In ihren leider raren Solonummern offenbart sie eine schlanke, klare Stimme mit einem nicht unangenehmen schnellen Vibrato; in den Ensembles erweist sie sich als sensible Partnerin – wie überhaupt der Teamgeist in Rostock ausgeprägt zu sein scheint: Rossinis kunstvoll verwobene Ensembles werden in eleganter Balance realisiert. Hier haben auch die Sänger der zweiten Reihe, wie Garrie Davislim als Pilade, Theresa Grabner als Cleonte oder Karl Huml als Fenicio ihre sorgfältig gestalteten Beiträge zu leisten. Ashley Catling als Oreste konnte sich allerdings nicht behaupten: Der Tenor, der bei der britischen reisenden „Diva Opera“ Ferrando (Cosí fan tutte) und Ernesto (Don Pasquale) singt, scheitert an der anspruchsvollen Höhe technisch, produziert ungestützte, verhauchte Töne in einer unglücklichen halsig-gaumigen Position.
Die Norddeutsche Philharmonie Rostock formte unter der Leitung des im Belcanto erfahrenen David Parry einen beweglichen, gehörig leichten Rossini-Klang. In der ungewöhnlichen Ouvertüre mit ihren Chor-Einwürfen haben Klarinette und Flöte einen prominenten Auftritt, Streicher und Bläser sind nie aus der Aufmerksamkeit entlassen, die Balance zu halten und aufeinander hörend zu reagieren. Parry, der beim britischen Label „opera rara“ viele Aufnahmen verantwortet und unter anderem beim Rossini Festival in Pesaro dirigiert hat, ist die intime Kenntnis von „Ermione“ anzumerken. Er fängt behutsam auf, wenn sich die Philharmoniker einmal in kleinteiligen Details verheddern, wählt nur in der Ouvertüre ein etwas hastiges Tempo, zeigt Liebe zum Detail und Gespür auch für die entspannten Momente des Lyrischen.
Die Inszenierung von Lars Franke setzt auf die Arbeit mit den behutsamen Chiffren im Bühnenbild von Julian Göthe: Antike Spolien, ein Marmorhaupt, ein ionischen Kapitell, ein Obelisk, sind in einen Salon integriert, der mit seinem ausgefallenen offenen Kamin eine aufgehübschte Ferienvilla sein könnte. Die Kostüme lassen an paradeuniformierte Militärs und elegante türkische Frauen denken – wenn damit ein aktueller Hauch in die Szene gebracht werden sollte, hatte er wenig Wirkung. Zu plakativ wirkt die graecisierende Robe Ermiones mit ihrem Mäandermuster. Die Konstellation des Unglücks entwickelt sich in einer unaufgeregten Regie, die den Sängern den Raum zur musikalischen Aktion lässt. „Viel besser als Fernsehen“, sagte beim Hinausgehen eine Dame zur anderen. Stimmt.
„Ermione“ wird noch am 19. und 26. März sowie am 24. April (15 Uhr) zu sehen sein. Am 24. und 28. März zeigt das Volkstheater Rostock außerdem seine 2015 entstandene Produktion von Rossinis „Maometto secondo“, ebenfalls mit David Parry am Pult im Rahmen eines „Belcanto-Festes“.