Roman Sandgruber:
TRAUMZEIT FÜR MILLIONÄRE
Die 929 reichsten Wienerinnen und Wiener im Jahr 1910
596 Seiten, styria premium, 2013
Ein Buch wie dieses ist ein gewaltiges Projekt. Roman Sandgruber, Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Joannes Kepler Universität in Linz, hat eine wissenschaftliche Arbeit von bemerkenswertem Umfang vorgelegt, der Styria Verlag hat es als „richtiges“ Buch auf Hochglanzpapier, mit zahlreichen Fotos und Statistiken veröffentlicht. Selten hat man ein an sich trockenes Wirtschaftsthema so faszinierend aufbereitet gefunden.
Wien 1910: Der letzte Glanz des Habsburger-Reiches – was man damals noch nicht wusste. Es hätte ja nun auch noch lange so weitergehen können mit den feudalen Systemen, die nicht nur hier, sondern europaweit herrschten. Liberalismus, Ringstraßenzeit, Kapitalismus. Aufblühen der Künste im Fin de Siècle. Und die Zeit der ganz großen Vermögen. Damals gab es in Wien 929 Millionäre, an der Spitze – wie auch anders – Rothschild. Sandgruber schildert in einem Anhang, der die perfekte Ergänzung zur Arbeit von Georg Gaugusch über das jüdische Wien bietet, jeden einzelnen.
Davor allerdings analysiert er diese Reichen nach allen Regeln der Kunst, einzelnen Schicksalen ausführlich Raum gebend. Woher kam der Reichtum, der – man muss es gleich zu Beginn erwähnen – damals in bemerkenswertem Ausmaß jüdischer Reichtum war? Die Rothschilds stehen an der Spitze, sie sind die Bankiers. Großgrundbesitz machte reich (da kommen auch Adelige ins Spiel), Industrie, Handel, Transport, Baugeschäft, Hotels. Aber auch Kunst und Wissenschaft konnten millionenschwer machen, wenn auch nicht im übertriebenem Ausmaß. Immerhin, die „Neue Freie Presse“ zu besitzen, katapultierte Moriz Benedikt unter Wiens Millionären auf Platz 11…
Die Macht der Banken war in einer Welt, die sich immer noch im Aufschwung befand, wo die Reichen und eine Mittelschicht ein großes Bedürfnis nach Luxusgütern hatten, enorm. 90 Prozent der Banken waren in jüdischer Hand. Viele ihrer Besitzer erreichten ihre Ziele als „Workaholics“ unglaublichen Ausmaßes. Beim Handel stand die Kohle damals an der Spitze, dann Holz, Eisen, Lebensmittel, Textilien. Es war die Zeit der großen Warenhäuser: Herzmansky wurde 1899 geradezu palastartig in der Mariahilferstraße errichtet. Österreichische Handelsfirmen waren übrigens bis in den Orient tätig und auch dort erfolgreich.
Wer den Wiener Zentralfriedhof hinter dem 1. Tor kennt, findet die meisten Namen dieses Buchs dort wieder – Gerngross zum Beispiel… Es war leicht, den von der breiten Masse verhassten Kapitalismus mit den „Geld-Juden“ zusammen zu bringen. Adolf Hitler erbte einen blühenden Antisemitismus, den er nur mörderisch zuspitzen musste. (Übrigens: Weil es ja immer nur die negativen Berichte über das Verhalten der Österreicher gegenüber den Juden gegeben hat. In einem kurzen Satz von Sandgruber liest man, dass es auch anders ging. Millionärin Baronin Jella von Oppenheimer, geborene Todesco – das Palais vis a vis der Staatsoper! – sollte ins KZ deportiert werden – eine Intervention des Dichters Max Mell rettete sie davor.)
In der Industrie dominierten Textilien vor Lebensmitteln, es gab Zuckerbarone und Metallkönige, aber auch mit Papier und Schreibwaren konnte man reich werden, mit Möbeln sowieso. Es war die Zeit der „Moderne“ (wie man es damals verstand) – Elektrizität, Autos, Eisenbahnen. In Galizien hatte die Monarchie ihr Öl. Und der Bauboom, der mit der „Ringstraße“ begonnen hatte (die meisten Palais dort gehörten jüdischen Millionären), hielt an.
Es gab Nobel-Hotels, mit denen Millionen verdient wurden, aber auch Anwälte oder Universitätsprofessoren wurden sehr reich. In der Kunst brachte es Arthur Schnitzler, aus dessen Werk der Autor fortlaufend zitiert (weil es durchaus Aktuelles über seine Zeit aussagt) nie zum Millionär, der Übersetzer und Autor Siegfried Trebitsch hingegen doch – aber da gab es ererbtes wie auch angeheiratetes Vermögen, beides war damals von höchster Wichtigkeit.
Absolut nicht alle Millionäre waren Männer – reiche Erbinnen, reiche Witwen konnten als Steuerzahlerinnen Eigenpersonen sein und viel in Beziehungen einbringen. Jüdische Familien haben ebenso wie der Adel immer untereinander geheiratet, und in beiden Fällen spielten oft auch finanzielle Überlegungen keine kleine Rolle (Nur ein Rothschild konnte sich leisten, seiner Tochter die Mitgift zu geben, die ein Rothschild erwartet, hieß es…).
Natürlich waren die Habsburger die reichsten im Lande, die weit verzweigte Familie des Kaiserhauses, die sich ihre Besitzungen und Einkünfte gesichert hatte. Es findet sich einiges an „altem Adel“ unter den Millionären, aber der „neue Adel“ überwiegt. Kaiser Franz Joseph verteilte die „Freiherrn“ und „Barone“ großzügig an die jüdischen Millionäre, aber es heißt, er habe nie einem von ihnen die Hand gegeben.
Der Autor schildert, wie die Reichen damals lebten – vermutlich nicht anders als die Reichen heute, in einem teilweise obszön wirkenden Luxus, aber auch innerhalb einer Welt der Kultur, für die sie Mäzenaten-Funktion übernahmen. Man reiste, man jagte, betrieb Sport, man vergnügte sich nach allen Regeln der Kunst. Man baute Palais und Villen, man ließ sich malen: Der Bildteil des Buchs lässt den Pomp explodieren.
Damals wie heute gab es gerade für Reichtum großes Verständnis beim Staat, und die Steuerforderungen waren nicht überzogen. Von Sandgruber immer wieder nachgezeichnete Einzelschicksale zeigen übrigens, dass Geld nicht unbedingt – eigentlich selten – glücklich macht, und Tatsache ist auch, dass große Vermögen selten mehrere Generationen überstanden. Immerhin – die Grabmäler am Zentralfriedhof spiegeln nicht nur den Pomp der Epoche, sondern vielfach auch den Reichtum derer wider, die hier ihre letzte Ruhe fanden.
Ab Seite 306 folgen die Kurzbiographien, die spannender nicht sein könnten: 929 Namen, wobei viele Familien vier, fünf Mitglieder jeweils als Millionäre ausweisen. Namen, die man gar nicht erwarten würde – Henry Baltazzi, der Onkel von Mary Vetsera, rangierte im Millionärs-Mittelfeld, das, wie erwähnt, von Albert Freiherrn von Rothschild angeführt wurde. Man erfährt neben den üblichen Daten (auch wer wen geheiratet hat, was beim Fließen von Geld enorm wichtig war), auch woher das Geld kam, dazu abenteuerliche Schicksale. Die Großindustriellen-Brüder Bloch heirateten die Bankiers-Töchter und –Schwestern Bauer und lebten in dem Ringstraßen-Palais, das die jüdische Familie Schey (fernsehbekannt als das „Ringstraßenpalais“) hatte bauen lassen: Adele Bloch-Bauer ist jene „goldene Adele“ Klimts, die das Belvedere restituierte und die heute die Neue Galerie in New York ziert. Die Fäden, die von der Wirtschaftsgeschichte ausgehen, vernetzen sich in die ganze Welt und in alle Bereiche.
Reiche Väter wie die Herren Broch oder Zweig hatten wenig Verständnis dafür, dass Söhne wie Hermann Broch oder Stefan Zweig lieber Schriftsteller wurden. Gustav Davis schrieb nicht nur Lustspiele („Das Protektionskind“) und Libretti, sondern gründete auch die „Kronen Zeitung“ und wurde Millionär. Leo Fall verdiente mit seinen Operetten Millionen, Franz Lehar desgleichen – und auch Leo Slezak als Sänger! Die Mitglieder der Sekt-Dynastie Kattus und die Schlumberger gibt es noch immer, ebenso wie die Hellers (während viele anderen Namen verschwunden sind…). Millionär Paul Kupelwieser investierte sein Vermögen in die Insel Brioni, heute Kroatien, damals ein Höhepunkt der „österreichischen Adria“. Lobmeyrs Luster und Thonets Möbel brachten Millionen, das Hotel Sacher für Anna Sacher, das Bier für die Mautner-Markhofs und der Kaffee für die Meinls auch. Namen wie Rapaport oder Mankiewicz finden sich heute in den USA.
Erstaunlich ist, wo Sandgruber doch bei jeder Gelegenheit Schnitzler zitiert, dass er bei dem Zuckerbaron Siegfried Strakosch zu erwähnen vergisst, dass dessen Tochter Lilly Schnitzlers Sohn Heinrich heiratete – und deren Sohn Michael spielte, nicht als Millionär, aber als Künstler, eine große Rolle im Wiener Musikleben… Und Philosoph Ludwig Wittgenstein stammte aus einer extrem reichen Familie.
Man hat ja nun, da eine drückende Majorität der Menschheit keine Millionäre sind, für diese Spezies keine wirkliche Vorliebe. Aber Roman Sandgrubers Buch beweist: Das ist österreichische Geschichte, und nicht die schlechteste.
Renate Wagner