ROM: Drei Grazien im Petersdom
Von Andrea Matzker und Dr. Egon Schlesinger
Wenn man sich bereits sein ganzes Leben lang auf einen Besuch vom Petersdom freut, sollte man sich eigentlich mindestens eine ganze Woche dafür Zeit nehmen. Bisher war dies leider nie möglich, da andere kulturelle Begebenheiten in die Ewige Stadt führten, und auch diesmal musste der Besuch zeitlich ziemlich eingegrenzt werden, da er im Rahmen einer hochinteressanten Lesereise mit dem Vatikanspezialisten, Buchautoren und Journalisten Andreas Englisch stattfand und daher im Rahmen eines umfangreichen Gesamtprogramms leider eher einem Blitzbesuch glich, dadurch aber nicht minder unvergesslich geblieben ist.
Rom. Der Petersdom. Foto: Andrea Matzker
Die geballte Übermacht und Anzahl weltberühmter Kunstwerke, die sich in der größten und bedeutendsten Kirche der Christenheit befinden, ist einfach zu gewaltig, um sie bei einem einmaligen Besuch registrieren, aufnehmen und intellektuell verarbeiten zu können. So beschränkten sich die Autoren auf einige wenige unbedingt hervorstechende Artefakte, auch wenn die Auswahl ausgesprochen schwer fiel.
Rom. Der Petersdom. Andreas Englisch. Foto: Andrea Matzker
Sie stellt eigentlich eines der berühmtesten Kunstwerke der Welt und der Kunstgeschichte insgesamt und überhaupt dar und begleitet uns bereits unser gesamtes Leben lang, und doch ist man wie vom Donner gerührt, wenn man plötzlich tatsächlich von der leibhaftigen Römischen Pietà, auch Pietà Vaticana genannt, von Michelangelo steht, die sich gleich rechts nach dem Eingang des Petersdoms in einer eigenen Kapelle befindet. Sie ist derartig bewegend und berührend, dass man regelrecht in Andacht verfällt, wenn man vor ihr steht. Dies ist nicht allein ihrer geradezu himmlischen Schönheit geschuldet, sondern auch dem Ausdruck ihrer Persönlichkeit insgesamt.
Nachdem Michelangelo den Auftrag von Kardinal Jean de Billhères für das Werk erhalten hatte, begab er sich persönlich im März 1498 nach Carrara, um sorgfältig den Marmorblock auszuwählen, aus dem er sein Kunstwerk erschaffen wollte. Er überwachte dessen Transport nach Rom ebenso persönlich. Es handelt sich um weiß-blauen Marmor der Sorte Statuario, der fast über keinerlei Einschlüsse verfügt. Er erschuf sein Werk aus einem einzigen, durchgehenden Block, wie auch seine anderen Kunstwerke, und beendete es im Jahre 1499 mit gerade 24 Jahren. Damit besiegelte er eindeutig eine neue Epoche.
Michelangelo verbindet in der Gestalt seiner Römischen Pietà die Renaissance-Ideale von der klassischen Schönheit mit den Posen des Naturalismus. Die naturgetreuen Abbildungen verdankt er seinen anatomischen Studien, wozu auch die Sektion von Leichen gehörte. Zum ersten Mal wurden nicht nur Schönheit, sondern auch Gedanken und Gefühle widergespiegelt, und somit wurde der Individualismus in der Skulptur geboren. „Michelangelo transformierte den Marmor in Fleisch, Haar und Gewebe (Helen Gardner und Fred Kleiner).“
Giorgio Vasari berichtet, dass die Statue wohl einmal während einer Besichtigung einem anderen Künstler zugeschrieben wurde. Also schloss sich Michelangelo eines Nachts an ihrem Standort ein und meißelte eine Inschrift auf die schmale Schärpe. Sie lautet: MICHAEL.A[N]GELVS.BONAROTVS.FLORENT[INVS]. FACIEBA[T]“ – „Der Florentiner Michelangelo Buonarroti hat dies angefertigt.“ Es sollte die einzige Signatur bleiben, die er jemals auf einem Werk hinterlassen hat. Während der Restaurationsarbeiten nach dem Anschlag auf die Pietà im Jahre 1972 fand man auch ein subtil gearbeitetes „M“ in der linken Hand Mariens.
Der amerikanische Kunsthistoriker Roy Doliner glaubt, 2010 den originalen, circa 30 cm hohen Terrakotta-Entwurf zur Pietà entdeckt zu haben, der bis dahin Andrea Bregno (1418-1506) zugeschrieben war. Er glaubt, dass es sich hierbei um einen Machbarkeitshinweis handelt, den Michelangelo für den Kardinal Billhères fertigte, um den Auftrag zu erhalten. Im Übrigen erhielt Michelangelo am Ende seiner Arbeit 450 Golddukaten, was einer heutigen Summe von mindestens 50.000 Euro entspricht. Zu den Aufnahmen: Die hier besprochenen Kunstwerke insgesamt sind jederzeit und überall gegenwärtig, es sei sich hier besonders auf den jeweiligen zauberhaften Gesichtsausdruck konzentriert.
Rom. Der Petersdom. Die Pieta von Michelangelo. Foto: Andrea Matzker
Hinter dem linken Querschiff im Chorumgang über einer Holztüre, die zur Piazza Santa Marta führt, befindet sich das Grabmal von Papst Alexander VII, umringt von den von ihm praktizierten Tugenden: Nächstenliebe, Klugheit, Gerechtigkeit und Wahrheit, allesamt dargestellt durch bildschöne Frauengestalten. Der linke Fuß der „Wahrheit“ ruht auf einem Globus. Unter dem großen Zeh weist ein Dorn auf England, wohl als Zeichen für die für den Papst schmerzliche Ausbreitung des Anglikanismus, derer er nicht Herr werden konnte. Die herrlichen Statuen bestehen aus weißem Marmor, ganz im Kontrast zu dem polychromen Marmor, aus dem die architektonischen Teile des Denkmals geschaffen wurden. Unter dem roten Baldachin aus sizilianischem Jaspis befindet sich außer dem versteckten Grab des Papstes ein halb verdecktes Skelett, das in der rechten Hand eine vergoldete Bronze-Sanduhr hält, die den langsamen aber kontinuierlichen Fluss des Lebens symbolisiert und mahnend an die Vergänglichkeit erinnert.
Das Denkmal gilt als Inbegriff des Römischen Barocks, sowohl wegen der Schönheit der Komposition auf mehreren Ebenen als auch wegen der harmonischen Kombination von polychromem Marmor. Die darunter befindliche Tür wurde mehrfach als „Tür ins Jenseits“ bezeichnet. Die Gerechtigkeit wird von der Wahrheit bestimmt, so wie die Klugheit von der Nächstenliebe. Die Statue der „Wahrheit“ wurde nach Gian Lorenzo Berninis (1598-1680) Entwürfen von Lazzaro Morelli (1619-1690) begonnen und von Giulio Cartari (1665-78 in Rom tätig) vollendet. Die „Wahrheit“ war ursprünglich unbekleidet und wurde auf Befehl von Papst Innozenz XI mit einem Gewand aus Bronze ausgestattet, das anschließend weiß bemalt wurde. Papst Alexander VII hatte in seiner Amtszeit Niederlagen zu verkraften, ebenso wie Bernini, dessen ursprüngliche Glockentürme von der Fassade des Petersdoms zerstört wurden, und so benutzte er seine „Wahrheit, die von der Zeit aufgedeckt wird“, als Ausdruck seiner ungerechten Schmach und als Symbol dafür, dass die Zeit irgendwann immer die wahren Umstände beleuchtet.
Die „Gerechtigkeit“ hinter der „Wahrheit“ ist nicht imstande, die Waage im Gleichgewicht zu halten, aber sie schaut voller Hoffnung auf die Figur vor ihr, die „Wahrheit“. Auch der Tod als Memento mori mit der Sanduhr und dem verborgenen Gesicht deutet neben der Erinnerung an die Sterblichkeit an, dass die Zeit die Wahrheit irgendwann enthüllen wird. Ungeachtet all dieser tieferen Bedeutung und ihrer wunderbaren Verwirklichung bestechen die vier Tugenden durch ihre Schönheit, und so wurde das Antlitz der „Wahrheit“ für die Autoren ein weiteres Beispiel für weibliche Vollkommenheit. Papst Franziskus, der den Petersdom hauptsächlich durch diese Türe unter dem Denkmal betritt und verlässt, ist bekanntermaßen ein glühender Vertreter der Wahrheit und hasst nichts mehr als das von ihm so oft angesprochene und offen kritisierte „Chiacchiericcio“, das Geschwätz, das schon vielen Menschen unverdientermaßen den Untergang gebracht hat.
Rom. Petersdom. Die Verità von Bernini. Foto: Andrea Matzker
Keinem geringeren als Papst Franziskus persönlich verdankt unsere dritte Grazie, die „Madonna di Scossacavalli“, ihren aus gegebenem Anlass neuen Namen, nämlich die „Mutter der Pilger“, „Mater peregrinorum“ oder „Madre dei pellegrini“, und ihren neuen Standort über dem restaurierten Grab von Papst Gregor XIV in der Basilika von Sankt Peter in Rom. Im Verhältnis zu den zwei zuvor beschriebenen lebensgroßen Marmorfiguren ist sie eher ein bescheidenes und unauffälliges, da in den Ausmaßen von 100 cm x 71,5 cm wesentlich kleineres Kunstwerk, aber dafür mit einer umso bewegteren Geschichte. Dass dieses Bild überhaupt überlebt hat, kommt einem Wunder gleich.
Hierbei handelt es sich um ein Auftragswerk aus dem Jahre 1519 für die Kirche San Giacomo Scossacavalli, die sich damals in der Nähe der vatikanischen Basilika befand. Es entstand in den ersten Jahren des 16. Jahrhunderts und wird Fra Bartolomeo della Porta (1472-1517) zugeschrieben. Auch wenn sein Maler nicht 100-prozentig feststeht, gilt es als erwiesen, dass Raffael, der zu dieser Zeit genau gegenüber dieser Kirche wohnte, und dessen Schüler und Mitarbeiter Perin del Vaga (1501-1547) diese zauberhafte Madonna kannten und sie bewunderten. Sie wurde bei Prozessionen, geschmückt und behängt mit kostbarstem Schmuck und vielen Devotionalien, durch die Stadt getragen und war das Ziel vieler weither gereister Pilger während der Pest-Epidemie.
Fra Bartolomeo della Porta befand sich, laut Vasari, in den Jahren 1513 bis 1515 in Rom, um unter anderem die Werke von Michelangelo und Raffael zu studieren. Bei dieser Gelegenheit dürfte die Madonna entstanden sein. Auch nutzte er die Gelegenheit, seinen Freund Raffael wieder in die Arme zu schließen. Durch eine Kopie der Madonna von einem anderen unbekannten Maler aus dem Jahre 1519 und die zufällige Entdeckung während einer Versteigerung 2018 einer Madonna mit Kind, Mariotto Albertinelli (1474-1515) zugeschrieben, der, laut Vasari, Fra Bartolomeo sehr gut kannte, wird die Wahrscheinlichkeit der Urheberschaft verhärtet, da verschiedenste Eigenheiten, wie der Faltenwurf des Gewandes oder die Anlage des Schleiers, aber auch die Eigenheit des Jesuskindes, das den großen Zeh vom rechten Fuß nach oben streckt, auf den Künstler schließen lassen.
Durch die fürchterliche Hochwasserkatastrophe des Tiber am 23. Dezember 1598 wurde das Gemälde fast vollständig zerstört. Wie durch ein Wunder hielt die Flut bei einem Stand von über 3 m Höhe inne, als sein Pegel gerade das Antlitz der Madonna berührte. Auch heute noch ist diese horizontale Linie auf dem Gemälde zu sehen. Der untere Teil war völlig vernichtet. Erst im Jahr 1905 wurde das Gemälde wiedergefunden. Im Jahre 1937 wurde die Kirche San Giacomo mitsamt ihrer Umgebung, der sogenannten Spina di Borgo, abgerissen, um die monumentale Via della Conciliazione (auf deren ungefährer Mitte die Kirche San Giacomo zuvor stand) zu bauen, die vom Tiber bis zur Piazza San Pietro führt. Aus diesem Anlass gelang das Gemälde in die Lager der weltberühmten, 500 Jahre alten Fabbrica di San Pietro, eine Institution, die in etwa der Kölner „Dombauhütte“ entspricht.
Dort wurde die Madonna mit dem Jesuskind erst im Jahre 1966 unter einem Berg von Gerümpel wiederentdeckt und fiel durch ihr bezauberndes, an Raffael erinnerndes Antlitz auf, das kunstvoll im Halbprofil gemalt worden war. Nach zwei vergeblichen früheren Restaurationsversuchen, während derer man sogar in Erwägung gezogen hatte, den unteren Teil des Bildes abzusägen, was zum Glück nicht geschah, begann erst im Jahr 2016 eine ausgiebige, aufwändige, zwei Jahre lang andauernde Restauration des Gemäldes unter der Leitung von Dr. Pietro Zander aus der Fabbrica di San Pietro. Sie fand 2018 ihren verdienten Höhepunkt in einer aufsehenerregenden Ausstellung im Palazzo Madama von Turin unter dem Titel: „Eine wiedergefundene Madonna aus der Fabbrica di San Pietro“, bevor das Gemälde endgültig seinen Platz in Sankt Peter über dem Grab von Papst Gregor XIV fand.
Rom. Der Petersdom. Die Madonna von Scossacavalli. Foto: Fabbrica di San Pietro.
Andrea Matzker und Dr. Egon Schlesinger