Rolando Villazón:
KUNSTSTÜCKE
Roman
272 Seiten, Verlag Rowohlt, 2014
Es ist gar nicht so leicht, sich in die Welt des Clowns Macolieta lesend einzufügen. Wie ein großes Chaos erlebt man erstens ihn selbst mit den Accessoires seiner Profession, dann unterwegs mit seinen Kollegen Max und Claudio, schließlich in andauernde philosophische Diskussionen über das Menschsein verwickelt. Es ist dabei ein nicht wirklich glückliches, ja schäbiges Leben von einem Kindergeburtstag zum anderen, ohne äußeren Glanz, die Geliebte, die Clownin Sandrine, ist ihm auch abhanden gekommen.
Für Macolieta gibt es nur einen Ausweg, Flucht in eine Parallelexistenz. In ein „blaues Buch“ schreibt er die Geschichte von Balancín ein. Der ist auch Clown, aber ein enorm erfolgreicher mit einer glanzvollen Karriere und einer wundervollen Frau namens Verlaine. Ein Ersatzleben, das durch den Roman hindurch geführt wird, bis Macolieta beschließt, dass es auch Balancín nicht nur gut gehen soll, bis er ihm beispielsweise etwas von den eigenen Rückenschmerzen überträgt, die ihn lange quälen – aber es gibt ein Happyend: Sandrine kehrt zurück, Macolieta lässt Balancín „frei“ (mit einer letzten freien Seite im blauen Buch, damit dieser über sein Schicksal selbst entscheiden kann) – und wird, man hofft es doch sehr, mit seiner Geliebten glücklich…
Der Roman hat wenig greifbare Handlung. Man erfährt ein wenig von Macolieta Vorgeschichte, dass er die Absicht, Priester zu werden, hinter sich gelassen hat – nicht zuletzt wegen der Freude am Sex -, und dass er über Straßenkunst zum Clownsein kam, das für ihn ein geradezu magischer Beruf ist:
Der Clown hat die Energie und die drängende Neugier eines Kindes, aber er ist kein Kind; er hat die Hemmungslosigkeit und den Überschwang eines Betrunkenen, ohne betrunken zu sein; seine Logik ist die eines Verrückten, aber er ist nicht verrückt. So wie die Philosophie das Grenzland zwischen Wissenschaft und Theologie ist, wie der Dichter sich zwischen Bedeutung und Musik bewegt, so wächst der Clown in dem Spalt zwischen Ordnung und Chaos heran.
Man braucht als Leser einige Zeit, um sich in die Mischung aus Poesie, Philosophie und Absurdität einzulesen und einzugewöhnen, die der Autor Rolando Villazón hier entfaltet. Großzügig verstreuen Macolieta und seine Freunde in Gesprächen (die teils auch in Form von Theaterdialogen gehalten sind) die Perlen abendländischer Bildung von Platon und Sokrates über Seneca bis Erasmus und viele mehr, Eschers Treppe purzelt ins Geschehen so wie die „Yellow Submarine“ der Beatles. Villazón ist ein belesener Autor, der sich über vieles den Kopf zerbricht. Die Frage: Wer bin eigentlich „Ich“ – beziehungsweise „Wer ist Ich?“ – wird pirandellesk gestellt, und von der Identität des Clows schwenkt Villazón auf die Faszination der Bühne über:
Wie kann man denn der Bühne überdrüssig werden? Man kann von den Hotels, vom Üben, vom Essen in Restaurants, von den Kritikern, vom Vorher und vom Nachher irgendwann genug haben; aber von der Bühne? Niemals! Einmal auf den Brettern, gefangen in der ewig neuen Kraft der Menge, vor sich das Publikum, davon hat man nie genug!
Und was erzählt uns Macolieta – oder vielmehr Villazón – über das Schicksal?
Das Einzige, was ich mich trauen würde, als Schicksal zu bezeichnen, ist unser Unterbewusstsein, dieses von gesichtslosen Schatten bevölkerte Gemach. Und doch behaupten Sartre, Heidegger und andere Philosphen und Dichter, dass wir verdammt sind, frei zu sein, und dass es weder ein Schicksal noch ein Unbewusstes geben darf, das unseren außergewöhnlichen Existenzkampf um ein selbstbestimmtes Leben behindert.
Kein Wunder angesichts so tief schürfender Erkenntnisse, dass man diesen Roman als versteckte Biographie begreifen wollte. Gewissermaßen als Parallelexistenz des Sängers Villazón, der Befreiung von dem Druck benötigt, in die seine Karriere geraten ist. Statt dessen nun Fernseh-Moderator, Regisseur, Autor – nein, man fragt nicht, wann er malen wird (er singt ja auch noch). Er hat einen Roman geschrieben. Ist es ein großes Buch? Wohl nicht. Aber es gewährt den Menschen, die den Sänger Villazón lieben, Einblick in die Irrungen und Wirrungen seiner reichen Seele.
Renate Wagner