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ROCKENHAUSEN/ Festival Neue Musik: „T-M-L-S“ (AG Neue Musik Grünstadt)

04.11.2018 | Konzert/Liederabende

Rockenhausen, Festival Neue Musik: „T-M-L-S(AG Neue Musik Grünstadt)  2.11.2018

Im Oktober 2016 führte der Komponist Peter Ablinger (Jg. 1959, aus Oberösterreich stammend, in Berlin lebend) bei den Donaueschinger Musiktagen ein Stück für Kammerensemble mit dem Titel „Die schönsten Schlager der 60er und 70er Jahre“ auf. Dabei schrieb er einen Preis aus für die Hörer, die  die darin „auf anamorphotische Weise“ ( d.h. verzerrten)  6 Schlager erkennen würden. Ich saß vor dem Radio und erkannte – nichts. Es ging allerdings nicht nur mir so; selbst die Musiker des uraufführenden Freiburger Ensembles Recherche sollen zu keinem Ergebnis gekommen sein.

Gut zwei Jahre später steht nun mit „t-m-l-s“ eine „Schlagerperformance“ auf dem Programm des neu gegründeten „Festivals Neue Musik“ in Rockenhausen. (Die freundliche Kleinstadt liegt in der Nordpfalz an der Strecke von Bingen nach Kaiserslautern zu Füßen des Donnersbergs im Bundesland Rheinland-Pfalz.) Das Stück stammt von der AG Neue Musik des Leininger-Gymnasiums im pfälzischen Grünstadt und ist, wie deren Leiterin Silke Egeler-Wittmann angibt, von Ablingers Stück inspiriert. Doch herausgekommen ist dabei keine verkrampfte Hörübung von 20 Minuten sondern ein witziges, unterhaltsames, erhellendes Bühnenstück von 45 Minuten. Damit setzen die  knapp 30 Schülerinnen und Schülern des 8. – 12. Schuljahrgangs innerhalb des breit gefächerten Festival-Programms (vom Altmeister Helmut Lachenmann bis zum italienischen Residenz-Komponisten Daniele Ghisi) einen durchaus eigenen Akzent. Seine Premiere hat das Stück schon im Herbst 2017 beim Jugendfestival „Klangkörper-Körperklang“ in Salzburg erlebt. Die Grünstädter Arbeitsgemeinschaft selbst kann auf eine lange Tradition zurückblicken. Sie existiert seit 1971, steht seit 1996 unter der Leitung von Egeler-Wittmann, hat mit zahlreichen renommierten Komponisten, u.a. dem kürzlich verstorbenen Dieter Schnebel, zusammengearbeitet und etliche Uraufführungen realisiert.

Die  Produktion „t-m-l-s“ verdankt ihren Namen dem Erfolgsschlager „Atemlos durch die Nacht“ der deutschen Schlagersängerin Helene Fischer, dessen sich häufig wiederholende Hauptzeile in merkwürdig hektischem Kontrast zu den übrigen, eher romantischen Bildern des Textes steht. Die AG Neue Musik aber nimmt Texte auseinander. Raffiniert zerlegt sie Sätze und Wörter in Bestandteile, wie einst die Wiener Gruppe um Hans Carl Artmann es tat. Sie führt dabei schlagertypische Phrasen, Haltungen, Gänge, Gesichter und Gesten vor. Das ist oft komisch und erhellend zugleich. „Atemlos“ etwa wird beim Wort genommen und in demonstrative Atemnot übersetzt. Bei Drafi Deutschers Hit „Marmor, Stein und Eisen bricht“ wird der Doppelsinn des Verbs „Brechen“ assoziiert und ausagiert. Eigenartig ist, wie das schlagertypische „Schallala“ in hoher Frauenstimmlage zum schrillen Triller wird. Immer wieder richten sich die Mitwirkenden verträumt gen Himmel, strahlen ins Publikum oder schweben euphorisch über die Bühne. Singend, sprechend und sich bewegend trennen sie sich in zwei Hälften, in Kleingruppen oder Solisten, sie mischen sich und finden sich zwischendurch immer wieder im Halbkreis mit Blick aufs Publikum zusammen. Zum Ende hin bauen sie sogar verschiedene Instrumente mit absichtlich falschen Tönen ein. Technisch in überzeugender Weise unterstützt werden sie in der Rockenhäuser Donnersberghalle von Oliver Thiel (Ton) und Erik Höchel (Licht).

Man merkt dem Stück an, dass es in gemeinsamer Arbeit der Gruppe entwickelt wurde. Selten exponieren Jugendliche sich auf der Bühne so selbstbewusst mit derart „verrückten“ Dingen. Entsprechend begeistert ist der Beifall. Das Publikum hat aber auch wirklich etwas davon. Weil man die Schlager in ihren Bruchstücken erkennt, kann man nicht nur den Prozess der Verfremdung und Dekonstruktion verfolgen und genießen. Aus den Bruchstücken entsteht vor uns auch etwas Ganzes: das anschaulich gewordene Prinzip des modernen Nachkriegsschlagers.

Andreas Hauff

 

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