Robert Sedlaczek:
DIE TANTE JOLESCH UND IHRE ZEIT
Eine Recherche
296 Seiten. Haymon Verlag, 2013
Dass es die Tante Jolesch gibt, ist gar keine Frage. Die Dame ist sprichwörtlich, wird gerne in ihren markigen Aussprüchen zitiert (sie gehört quasi zum wienerischen Wortschatz), ist heiterer Kulturbesitz („Was ein Mann schöner is wie ein Aff, ist ein Luxus“ – das ist wohl so! „Gott bewahre mich vor die Sachen, die noch a Glück sind“ – wie Recht sie hat! „Zwetschkenröster sind kein Kompott“ – aber wirklich nicht!).
Ob es „die“ Tante Jolesch gegeben hat, ist fraglich. Wie viel Friedrich Torberg erfunden hat, wie viel er von Erzähltem verwertete und verschmolz und ergänzte und verbesserte, war eigentlich nie eine Frage, weil es darauf nicht ankommt. Robert Sedlaczek, ein Mann mit vielen Karrieren (u.a. Kreisky-Mitarbeiter, Journalist, Sachbuchautor), nahm das Thema ernst und wichtig. „Die Tante Jolesch und ihre Zeit“, ganz schlicht „Eine Recherche“ genannt, steigt tief hinab in den Kosmos des jüdischen Wien von einst hinab – und in die Werkstatt des Friedrich Torberg.
Begonnen hat es mit Gesprächen im Kaffeehaus, mit dem Interesse an Figuren der Vergangenheit, die halb legendär im Nebel des faktisch nicht wirklich Fassbaren schweben. Ausgangspunkt: ein Rechtsanwalt, der glänzend Tarock spielte, u.a. mit Leo Perutz. Sein Name war Hugo Sperber. Den findet man auch bei Torberg als „der Anekdote liebstes Kind nach Franz Molnar“. Also zumindest war er „echt“ und Lieferant vieler „Sperberiana“ – und dem Autor Sedlaczek eine Recherche wert. Und aus kleinen Anfängen wurde eine lange Geschichte, die sich auf 296 durchaus eng bedruckten Buchseiten auf die Spur der Tante Jolesch setzt. Denn die taucht notwendigerweise bald nach Sperber auf – sie waren nämlich irgendwie, wie alle Juden über zehn Ecken, miteinander verwandt…
Es ist ein journalistisches Buch, denn es schildert nicht nur die Ergebnisse (wie es ein Biograph täte), sondern die Recherche selbst mit ihren Schwierigkeiten, Sackgassen, Glückszufällen, die unermüdlich Suchende dann doch weiter kommen lassen. Sperber, seines Zeichens Anwalt, der einem „jüdischen Verwandten Franz Schuberts“ glich, stößt das Tor zu einem Kreis von Menschen auf, die von der untergehenden Monarchie über Ersten Weltkrieg und dem, was wir heute „Zwischenkriegszeit“ nennen, bis zu Hitler kamen – und meist nicht weiter, wenn sie nicht großräumig auswichen. Jüdische Intellektuelle, die großteils Käuze waren – Kisch, Kuh, Werfel, Perutz und viele mehr, die damals im Kaffeehaus saßen, wobei für den interessierten Leser dann besondere jene Figuren packend sind, die es nicht zu nachhaltigem Ruhm gebracht haben, die aber zu ihrer Zeit eine gewaltige Rolle spielten…
Und irgendwann erscheint aus diesem Kreis dann auch – vielleicht, ist sie es, ist es eine andere? – die Dame, für die Sedlaczek sich so interessiert: die Tante Jolesch. Angeblich hat Georg Markus schon ihre Identität enthüllt. War es jene Gisela Salacz, die den Fabriksdirektor Julius Jolesch geheiratet hat und über die deren Neffe Franz dann Friedrich Torberg berichtet hat? Den Neffen Franz hat es sicher gegeben, der hatte eine interessante Ehefrau (die später noch andere interessante Ehemänner hatte), und diese Louise Fischer wiederum hat strikt geleugnet, dass es in der Familie überhaupt eine „Tante“ gegeben hätte. Also?
Man geht zu Georg Gaugusch, der das unglaubliche Buch über die Juden Wiens geschrieben hat, der erste Band bis K ist fertig, am zweiten malocht er noch. Er findet, was sich in den vorhandenen Materialien nur finden lässt (und hat alles im Computer). Und eines steht fest: Die Gisela Salacz als angeheiratete Tante des „Neffen“ Franz Jolesch gab es. Ihr Schicksal, geboren 1874 in Großwardein, gestorben 65jährig in Budapest, ist auch nachzuvollziehen. Aber war sie es?
Bei der Familie von Franz Jolesch in Iglau war der junge Friedrich Toberg in den dreißiger Jahren, aufstrebender Autor mit „Schüler Gerber“-Ruhm, jedenfalls mehrfach zu Besuch. Will man sich dann in die Familie Jolesch einlassen, wird es wild – so viele stürmische Persönlichkeiten. Etwa die Luise Gosztonyi, die aus der Schule von Eugene Schwarzwald kommt (langer Exkurs über diese) und erst einen gewissen Georg Boschan heiratet. Denn den Franz Jolesch. Dann den Komponisten Hanns Eisler. Dann Wiens Parade-Kommunisten Ernst Fischer. Ihren letzten Lebensgefährten, den Sprachwissenschaftler Karl Menges, hat sie nicht mehr geheiratet… Aber sonst kann sie es fast mit Alma aufnehmen. In die Literatur ist sie auch eingegangen – als jüdische Frau in Brechts „Furcht und Elend des Dritten Reichs“. Dass sie lila Dessous trug, war legendär. Sie ist übrigens jene Luise, die die Existenz der Tante Jolesch geleugnet hat und empört fand, Torberg habe ihren Exgatten Franz in seinem „Tante Jolesch“-Buch einfach dumm aussehen lassen…
Das Buch läuft in so viele Richtungen, weil der Autor sich begeistert auf jene neue Information stürzt, dass es gar nicht so einfach ist, immer wieder zur Tante – von Torberg 1975 in Buchform vorgelegt – zurück zu finden. Torberg selbst als Autor ist natürlich auch ein Thema: Es ist der geduldige Weg durch seinen Nachlass in der Handschriftensammlung der Nationalbibliothek. Auf der Suche nach Torbergs Arbeitsweise in Tonnen seiner Briefe. Tatsächlich haben ihn zahllose „Zuträger“ erster Ordnung mit Anekdoten versorgt. Begreiflich, dass der Torberg selbst im Laufe der Jahre die Übersicht darüber verloren hat, wem er was verdankt. Sedlacek jedenfalls würdigt jene Ideenlieferanten, die er finden konnte… Denn bei den „Perlen geistigen Eigentums“ herrscht, wie man weiß, „immer Kommunismus“, und Torberg war mit seinem Buch der Erbe des kollektiven Besitzes jüdischer Anekdoten.
Natürlich führt eine Recherche wie diese tief ins Politische, und Torberg, der leidenschaftliche Antikommunist, der – da gilt wohl keine Unschuldsvermutung mehr – als Spion für die Amerikaner arbeitete, hat sich von den „linken“ Gefährten seiner Frühzeit später wohl nicht immer nobel abgegrenzt. Er hat vielen Juden auch mit der „Tante Jolesch“ keine Freude gemacht, weil er – wie manche meinten – ein einerseits zu klischiertes, andererseits zu idyllisches Bild der „verlorenen jüdischen Welt“ zeichnete. Aber das war es wohl, was sein Buch vor allem bei Nichtjuden so beliebt gemacht hat…
Ist die Tante Jolesch gefunden? Vermutlich haben viele spitzzüngige jüdische „Tanten“ hier zusammengearbeitet, um die eine, die wunderbare, den Prototyp, erstehen zu lassen. Wunderbar auch, dass ein Buch, das eigentlich das Spezialinteresse einer vermutlich eher dünnen Leserschicht bedient, einen Verlag und so liebevolle Gestaltung findet. Als Wiedergutmachung – warum nicht auch das.
Der Leser wird gerade durch die labyrinthische Fülle des Geborenen belohnt: Das Buch führt auch in allerlei Nebenwege, wenn eine Figur auftaucht, muss schnell noch so viel wie möglich über sie erzählt werden – Kreisky etwa, der die Wege von Hugo Sperber ebenso kreuzte wie jene von Friedrich Torberg. Also, „Der Mann ohne Eigenschaften“ war zwar offiziell das Lieblingsbuch von Bruno Kreisky, aber ganz besonders hat er, der sich sein Judentum nie umhängen wollte, „Nachts unter der steinernen Brücke“ von Leo Perutz geliebt. Ein Telefongespräch Kreiskys mit Willy Brandt, von Sedlaczek „belauscht“, begann mit der Einleitung: „Was liest Du gerade?“ Ja, wenn solche Leute ein Land führen… (Würde man wagen, das unsere heutigen Politiker zu fragen?)
Renate Wagner