Temporäre Theaterarchitektur in den Bergen. Foto: Christian Brandstätter
RIOM, MULEGNS, JULIERTURM (Surses/Graubünden/Schweiz) ORIGEN FESTIVAL
vom 15. bis 20.8.2020
Riom, Mulegns, Savognin, das sagt ihnen alles nichts? Zerknirschen Sie sich nicht ! Selbst Schweizern sind diese entlegenen Bergdörfer im entlegenen Surses-Tal im auch schon ziemlich entlegenen Kanton Graubünden nicht wirklich ein Begriff. Und dennoch findet hier, in dieser entrischen (und auch schwer zu erreichenden) Weltgegend eines der interesssanten, einzigartigsten und ungewöhnlichsten Festivals statt, die es in Europa gibt.
Wie das kam? Schuld daran ist ausschliesslich Giovanni Netzer (nicht verwandt mit dem Fussballer). Der aus Savognin gebürtige ging nach München, um Theologie zu studieren, wurde aber von niemand Geringeren als August Everding zu seiner Theaterleidenschaft „angefixt“, die bis heute ungebrochen andauert.
Entgegen vieler seiner Kollegen beschloss der theologische Theatermacher jedoch, keine internationale Regisseurskarriere anzustreben und n i c h t in die Emigration zu gehen(die hier eine jahrhundertelange Tradition hat) sondern dazubleiben und seine Fähigkeiten in den Dienst seiner engeren Heimat zu stellen.
Und also gründete Giovanni Netzer das ORIGEN FESTIVAL. Origen bedeutet in einem der fünf rätoromanischen Idiome (für deren Erhaltung Giovanni vehement eintritt): Ursprung, Anfang, Schöpfung.
In den 15 Jahren seines Bestehens hat sich das Festival einen exzellenten Ruf erarbeitet. Grossen Anteil daran hatten die von Giovanni selbst (ja, Architekt ist der Allrounder auch noch) gestalteten, streng minmalistischen, temporären Theaterbauten: in der Schneelandschaft, am Staudamm, am Julierpass. Besonders letztere, fünfeckige, rotangestrichene Holzkonstruktion hat es den Architekturkritikern aus der ganzen Welt total angetan, die ob der vielen historischen Bezüge in regelrechtes Entzücken und diverseste Interpretationsorgien („der Schweizer Turmbau zu Babel“) ausbrachen. Der wirklich eindrucksvolle rote Turm direkt am Julierpass darf zwar noch drei Jahre provisorisch stehen bleiben, konnte aber heuer wegen des C-Wortes leider nicht bespielt werden.
Der rote Turm am Julierpass. Foto: Christian Brandstätter
Netzer, dem das Wort Aufgeben fremd ist, konzentrierte stattdessen das Festspielgeschehen im Stammsitz, der mittelalterlichen Burg Riom und präsentierte dort eine hochkarätige Schau von acht internationalen Balletkreationen: von Craig Davidson, Kristian Lever, Luca-Andrea Tessarini, Eno Peçi, Dustin Klein, Sébastien Bertaud und Juliano Nunes.
Im inneren der Burg. Foto: Benjamin Hofer
Aber das unermüdliche Wirken Netzers beschränkt sich nicht auf das Produzieren von Theaterspekatakeln, er hat viel mehr eine umfangreiche sozio-ökonomische Agenda, die er mithilfe der Origen-Stiftung auch erfolgreich in die Tat umsetzt.
Das Bündner Land hat, wie schon erwähnt, eine lang zurückreichende Emigrationsgeschichte. Die meisten Bündner brachten es interessanterweise im Ausland als Zuckerbäcker zu Ruhm, Ansehen und Reichtum – von Paris über Bordeaux, Sankt Petersburg, Amsterdam bis Chicago.
Sentimental, wie sie nun einmal waren, kehrten sie dann im Alter mit dem erworbenen Vermögen in die heimatlichen Bergtäler zurück und errichteten hier prächtige, (in dieser Umgebung) riesige, im französischen Stil gehaltene Palazzi und Villen. Diese standen dann oft jahrelang leer, bevor der umtriebige Giovanni kam und sie rettete, in dem er sie neuen Bestimmungen zuführte. Das Palais der Familie Carisch wurde zum „Pop-up“ – Café Carisch, das prächtige Patrizierhaus am Riomschen Hauptplatz vis-à-vis der Kirche zum „Pop-Up“ – Hotel Frisch.
Auch den Nachbarort, das 15-Seelen-Dorf Mulegns liess Meister Netzer nicht links liegen. Das einst legendäre Posthotel zum Löwen (Albert Schweizer und die Königin von England pflegten hier abzusteigen) erwarb er mit seiner Stiftung und wird es in den nächsten Jahren behutsam renovieren und in eine Kreuzung aus Hotel und Kulturzentrum verwandeln.
Der grösste Coup jedoch gelang Giovanni N. mit der neben dem Hotel gelegenen sogenannten „Weissen Villa“, ebenfalls ein Zuckerbäckerfamilienvermächtnis. Dieser wunderbare Bau der Familie Jeghers (innen mit kostbaren Pariser Seidentapeten ausgekleidet) stand an einem Engpass im Dorf jahrzehntelang dem LKW-Schwerverkehr dermaßen im Wege, dass es schon mehrmals fast zu einem (zumindest teilweisen) Abriss gekommen wäre. Da hatten die Verkehrsbarbaren aber die Rechnung ohne den Hl.Giovanni gemacht, der sich ihnen unerschrocken in den Wegstelle, auch diesen Prachtbau erwarb und mithilfe einer auf derlei Aktionen spezialisierten Schweizer Ingenieursfirma deren „Verschiebung“ um 10 Meter weiter weg von dem Flaschenhals plante.
Die Verschiebung der singenden Villa. Foto: Benjamin Hofer
Als krönender Abschluss des heurigen Festivals war es dann soweit: die Villa „migrierte“ in der Nacht an ihren neuen Bestimmungsort. Aber Giovanni wäre nicht Giovanni, wenn er das Ganze sang-und klanglos den Technikern überlassen hätte. Während der ca. dreistündigen total lautlosen und erschütterungsfreien Verschiebung hatte er in der attraktiv beleuchteten Villa vielmehr vier Sänger/innen platziert (darunter den österreichischen Tenor Martin Mairinger), die während der „Migration“ des Hauses sehr melancholische Sehnsuchtslieder der ehemaligen Bündner Migranten (in allen fünf rätoromanischen Idiomen) zum Besten gaben.
Erlebt man nicht jeden Abend. Erlebt man eigentlich nie. Und wird das wohl auch nicht so bald wieder irgendwo erleben…
Robert Quitta, Riom