RETZ / Stadtpfarrkirche: Leonardo Leos Oratorium KAIN & ABEL als digital erweiterte Kirchenoper
Juli 2024 – Österreichische Erstaufführung
Von Manfred A. Schmid
Nach einem Auftakt mit Franz Koglmann am Vorabend startet das neue Führungsteam rund um Intendant Christian Baier mit dem, was längst zum Markenzeichen des Festival Retz geworden ist: mit der alljährlichen Aufführung einer Kirchenoper. Leonardo Leos La morte d’Abele di quella del nostro Redentore, nach einem Libretto von Pietro Metastasio, 1738 in Bologna uraufgeführt, ist eigentlich ein Oratorium bzw. eine „accione sacra“, wie die Gattungsbezeichnung des Komponisten lautet. Im Begriff „accione“ ist schon der Verweis auf eine szenische Umsetzung gesetzt, was ganz im Sinne des Retzer Festivals ist, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, „für die szenische Realisierung von Oratorien neue Präsentationsformen zu entwickeln“ und die herkömmliche Darstellung durch den Einsatz digitaler Medien zu erweitern und so dem Publikum „neue Wahrnehmungsräume zu erschließen“. Ein ambitioniertes Vorhaben, das in der Umsetzung beim ersten Anlauf noch nicht ganz zu überzeugen vermag, an dem in den nächsten Jahren aber gewiss gefeilt werden wird.
Der Wiener Hofdichter Metastasio setzt in seinem Libretto den Brudermord in Beziehung zum Opfertod Jesu Christi, des Erlösers. Geschildert werden die familiären Spannungen, die dazu führen, dass Kain, von Neid und Eifersucht angetrieben, weil er von seinem Vater verachtet und misshandelt wird und sich gegenüber seinem Bruder Abel benachteiligt fühlt, seinen Bruder tötet. Das zerrüttete Verhältnis der beiden Brüder offenbart der auch für Lichtdesign und Bühnenbild verantwortliche Regisseur Sebastian Hírn schon im ersten Bild: Kain gibt vor, Abel bei seiner Opfergabe zu unterstützen, indem der die von ihm entzündetet Kerzen übernimmt und am Altar niederlegt, dabei aber immer mehr Kerzen einfach ausbläst: Er missgönnt ihm auch das stille, beglückende Gefühl des Einvernehmens mit Gott, weshalb er von seiner Mutter getadelt wird.
Die Bühne ist der leere Raum vor dem Altar, davor ein langer Tisch. Auf und vor dem Tisch liegen eine Riesenmenge von Plüschtieren aller Größen und Arten, auch Blumen sowie auf der rechten Seite ein paar kleine Totenköpfe. Es ist Adam, der sich daraus bedient und damit unterstreicht, dass er dem Auftrag, sich nach der Vertreibung aus dem Paradies die Welt untertan zu machen, nachkommt. Während seine Frau Eva von Gewissensbissen wegen des Sündenfalls gequält wird, weist er jede Schuld von sich, straft sie mit Verachtung. Érd ist das, was man heute wohl einen Macho nennen würde. Sein erster Auftritt erfolgt deshalb auch auf der Kanzel: Er ist der Herr! Eva wird sich später, in Trauer und Schmerz um den Tod Abels einen Blumenkranz flechten und auf ihr Haupt setzen: Eine Vorwegnahme der Dornenkrone? Am Schluss wendet sich Adam von seiner Familie ab, im Bewusstsein, an der Tragödie vollkommen schuldlos zu sein. Die Wahrheit, die ihm nachgerufen wird – „Du verurteilst Kain und trägst ihn dabei in dir!“ – gilt wohl der ganzen Menschheit.
Als Kain und Abel sich auf den Weg zum Feld machen, durchqueren sie das ganze Mittelschiff der Pfarrkirche St. Stephan. Nach dem Mord kehrt Kain alleine zurück, voll von Schund und Klage. Sein Gesang ist gut zu vernehmen, die akustischen Verhältnisse sind in Ordnung, aber für das Publikum in den vorderen Plätzen ist es kaum möglich, die Handlung optisch mitzuverfolgen. Nach hinten zu schauen, ist in den Kirchenbänken nur schwer möglich.
Was aber hat es mit der Einbeziehung digitaler Medien auf sich: Das barocke Altarbild, das die Steinigung des Kirchenpatrons, des Heiligen Stephanus, zeigt, darüber Gottvater, Gottsohn und der Heilige Geist in Form einer Taube, wird zum Ausgangspunkt eines darauf projizierten Films, der unablässig einen Trauerzug zeigt, der sich durch Retz und Umgebung fortbewegt. An den Dreharbeiten für diesen Film der Schweizer Animationsfilmerin Nicole Aebersold haben sich laut Programmheft rund 100 Bürgerinnen und Bürger der Region im Alter von 1,5 bis 85 Jahren beteiligt. Die damit angestrebte Einbeziehung der aktuellen „Lebensrealität des´Retzer Landes“ und die Einlösung des Umstands, dass auch heute noch ein jeder den Kain in sich trägt, ist ein ehrenwertes Unterfangen. Da der Film aber während der ganzen zwei Stunden dauernden Aufführung läuft, ist es schwer, ihn zu verfolgen, ohne die eigentliche Handlung aus den Augen zu verlieren: Ein Dilemma, das man vom Regietheater her kennt und das auch hier virulent wird. Ein etwas sparsamer Einsatz „komplexer animatorischer Prozesse“ in Hinkunft wäre anzuraten.
Musikalisch steht die Aufführung unter einem guten Stern. Das Ensemble Continuum Wien bringt das eindrucksvolle Werk von Leonardo Leo, rekonstruiert und gefasst von Luca De Marchi, der selbst am Cembalo mitwirkt und der musikalische Leiter ist, auf Originalinstrumenten nuancenreich zum Klingen. Sakrale, aber auch emotional aufgeladene Barockmusik von bezwingender Qualität, erstmals in Österreich aufgeführt.
Das Gesangsquartett überzeugt ebenso wie der von Jörg Espenkott einstudierte dreizehnköpfige Chor. Höchst erfreulich ist, dass bei der Besetzung der vier Hauptrollen junge Nachwuchskräfte zum Zug kommen und sich bestens bewähren. Die norwegische Sopranistin Eldrid Gorset gestaltet mit hellem Kang den in seiner Seligkeit mehr und mehr bedrängten und verunsicherten Abel. Die aus Wien stammende Altistin Cornelia Sonnleithner als Eva ist eine sorgenvolle, von inneren Konflikten heimgesuchte Mutter.
Der in St. Petersburg geborene Bassbariton Nikita Ivaschko, seit dieser Saison Ensemblemitglied der Oper Graz, ist ein selbstherrlicher, despotischer Adam. In der Rolle des biblischen Brudermörders Kain eröffnet der aus Norwegen stammende Tenor Markus Björlykke Einblicke in eine mit emotionalen Ausbrüchen reagierende, gequälte, verletze Seele. Ein farbenreicher Bariton mit großer darstellerischer Begabung.
Zu erwähnen die gut durchdachte Köstümierung von Constanze Knapp, die bei der Wahl der jeweiligen Farben für die Hauptdarsteller konsequent vorgeht: Blau-violett für die verunsicherte, bald tieftrauernde Eva, Rot für den machtbewussten Adam, Gelb für den neiderfüllten Kain und Blau für den unschuldsvollen Abel
Dem neuen Team von Festival Retz ist ein guter Start gelungenen. Ein Neuanfang durchaus mit Entwicklungspotenzial, was die Einbeziehung digitaler Möglichkeiten betrifft. Zu hoffen wäre, dass bei der Bearbeitung von Oratorien für die Bühne nicht nur Werke aus Barock, Klassik und Romantik zum Zug kommen werden, sondern auch Kompositionen aus der Moderne.