
Matthias Helm (Elias) und Monika Schwabegger (Der dunkle Engel). Alle Fotos: Festival Retz / Barbara Pálffy
RETZ / Stadtpfarrkirche: ELIAS – Wiederaufnahme der szenischen Aufführung
9. Juli 2023 (2. Auführung)
Von Manfred A. Schmid
Liest man bei einer Aufführung von Felix Mendelssohn-Bartholdys Oratorium im Textbuch mit, kann es einem an manchen Stellen eiskalt über den Rücken laufen. Elias, der größte Prophet im Alten Testament, ist nämlich alles andere als eine sympathische Lichtgestalt, sondern der asketische Einsiedler, Mahner, Kritiker, Eiferer und Glaubenskrieger hat durchaus widersprüchliche Wesenszüge aufzuweisen. Mal depressiv und von Zweifeln geplagt, dann wieder zornig-aggressiv, zweiweilen auch spöttisch und beleidigend, und einmal – wenn es darum geht, seine Gefolgsleute dazu aufzufordern, 450 Baalspriester abzuschlachten, nicht nur ein fanatischer Hetzer, sondern … Es fehlen einem die Worte. Zum Glück aber geht die großartige Musik ja ohnehin weiter, man verdrängt die ungeheuerliche Episode und freut sich auf das himmlische Doppelquartett „Der Herr hat seinen Engeln“, das das Konzert in seliger Ruhe ausklingen lassen wird.
Bei einer szenischen Aufführung des Oratoriums, wie sie heuer – nach der erfolgreichen Premiere im Rahmen von Festival Retz im Vorjahr – aufgrund des Publikumserfolgs wieder in der Stadtpfarrkirche St. Stephan zu erleben ist, klappt das mit dem Verdrängen und schnell Vergessen freilich nicht. In der Inszenierung von Monika Steiner wird man Zeuge, wie die Häscher den Flüchtenden geifernd nacheilen, um dann später, mit blutbefleckten Händen und Kleidern, siegreich zurückzukehren. Einspielungen von Videoclips weisen darauf hin, dass sich solche, z. T. von schwer gestörten Anführern ausgerufenen Kriege und Übergriffe im Namen Gottes durch die Geschichte der Menschheit bis in die unmittelbare Gegenwart ziehen. In Retz lernt man Elias, die biblische Gestalt wie auch das Oratorium, mit anderen Augen kennen, was sich in weiterer Folge wohl auch auf das Gehör auswirkt. Man wird hell- und dunkelhörig.
Wie schon im Vorjahr gestaltet der Bariton Matthias Helm den Elias, der in dieser Inszenierung eindeutig bipolare Züge aufweist, mit erschütternder Genauigkeit. Allein seine Mimik und Gestik, auf der Leinwand im Hintergrund sehr oft auch monumental vergrößert zu sehen (Videodesign Fabian Chaundy), verweist auf ein phänomenales Einfühlungsvermögen. Das gilt auch für die erschütternd dargebotene Arie „Es ist genug! So nimm nun, Herr, meine Seele“, die überhaupt nicht larmoyant klingt, sondern die Erkenntnis des Scheiterns an einer übergroßen Aufgabe ausdrückt, die ihm Gott, aber auch er sich selbst, aufgebürdet hat. Die darin steckende Glaubwürdigkeit ist aber wohl auch darin zu finden, dass der gesangliche und darstellerische Aufwand, der Helm in dieser Partie abverlangt wird, tatsächlich enorm ist. Die Artikulation ist ausgezeichnet, die musikalischen Bögen stets weitgespannt und tragfähig.

Philipp Gruber-Hirschbrich (Knabe), Matthias Helm (Elias), Monika Schwabegger (Der dunkle Engel).
Zum Erfolg der Wiederaufnahme tragen auch die ausgezeichnet besetzten weiteren Rollen und die fein gestalteten kleineren Solistenpartien bei. Bernarda Bobro und Monika Schwabegger glänzen in den Doppelrollen als Der helle Engel/Witwe bzw. Der dunkle Engel/Königin. Neu ist bei der Wiederaufnahme die Besetzung für Obadjah, Freund und Berater von Elias, sowie die des starrköpfigen Königs Ahab. Nach Daniel Johannsen ist es diesmal der polnische Tenor Jan Petryka, der diesen beiden zentralen Figuren Farbe verleiht und in seiner zweiten Arie die Sonne hellleuchten lässt. Hervorgehoben sei schließlich noch Philipp Gruber-Hirschbrich als Knabe mit silbriger Stimme und entrücktem, geheimnisvollem Auftreten.
Mendelssohn-Bartholdy wünschte sich für die Aufführung seines Oratoriums bekanntlich „recht dicke, starke volle Chöre“. Dass das auch mit einem rund 30-köpfigen Ensemble möglich ist, spricht für dessen Qualität. Der von Andrés García einstudierte Chor, der, in drei Gruppierungen aufgeteilt, zum Einsatz kommt und stark in die Handlung einbezogen ist, verdient jedenfalls höchste Anerkennung. Das Orchester Festival Retz unter der Leitung von Andreas Schüller, seitlich vor dem Hochaltar positioniert und somit unsichtbar aus dem Off spielend, meistert die lieblichen lyrischen Passagen ebenso vorzüglich wie die hochdramatischen Ausbrüche.
Mendelssohns Oratorium ist ein Gesamtkunstwerk. Das bedeutet, dass Solisten, Chor, Orchester und Dirigent gleichermaßen zum Resultat beitragen. In Retz kommt noch die aufrüttelnde, unbarmherzig zum Kern der biblischen Überlieferungen vorstoßende szenische Gestaltung hinzu. Der große Applaus zeigt, dass die dabei offengelegten irritierenden, durchaus auch schockierenden Erkenntnisse angekommen sind. Der Blick auf das Oratorium und seine Hauptgestalt mag sich verändert, das Gehör verschärft haben. Was aber bleibt, ist die Wiederbestätigung der Erkenntnis: Was für ein großartiges, geniales, letztlich unausdeutbares und stets von neuem faszinierendes Werk!