PESARO: ELISABETTA, REGINA D‘ INGHILTERRA von Gioachino Rossini
21.08.2021 (Werner Häußner)
Warum, so fragt man sich nach der Aufführung von Gioachino Rossinis „Elisabetta, Regina d’Inghilterra“, warum ist diese Oper nicht öfter zu sehen? An den Ansprüchen an die Sänger – häufig erster Einwand – kann es nicht mehr liegen, denn es gibt inzwischen ausreichend brillant geschulte Stimmen für die Epoche Rossinis. Auch die Feststellung, dass die Oper über die englische Königin des 16. Jahrhunderts ein musikalisches Amalgam und lediglich eine Nummer ganz neu komponiert sei, spricht nicht gegen das Werk: Wer kennt schon „Aureliano in Palmira“ oder „Sigismondo“ – die Titel also, aus denen Rossini sich vornehmlich bedient hat? Die Frage nach Aufführungsmaterial entlegener Werke des „Schwans von Pesaro“ erübrigt sich zudem, seit die Fondazione Rossini kritische Editionen vorgelegt hat.
Auch das Libretto von Giovanni Schmidt muss nicht zurückstehen: Die Intrige von Lord Norfolc gegen den strahlenden Feldherrn Leicester, die uneingestandene Liebe der Regentin zu ihrem Heerführer, die heimliche Hochzeit Leicesters mit Matilde, der Tochter Maria Stuarts und damit einer automatischen Feindin der Tudor-Königin, aber auch der Hauptmann Guglielmo, der die Intrige durchschaut, aber zu machtlos ist, um zu handeln – sie sind alle charakteristisch erfundene, glaubwürdige Figuren, in einem Geflecht aufeinander bezogen, das mit seinen Heimlichkeiten und Bosheiten, seinen unterdrückten Gefühlen und skandalösen Offenbarungen eine spannende Vorlage für zeitgemäßes Theater liefert.
Davide Livermore, vielbeschäftigter Regisseur der Neuproduktion beim Rossini Festival in Pesaro (in Kooperation mit dem Teatro Massimo Palermo) hat sich das wohl auch gedacht, und die Handlung in eine nicht näher bestimmte jüngere Vergangenheit verlegt. Offenbar inspiriert von der Netflix-Serie „The Crown“ und Stephen Frears Film „The Queen“, zeigen die Bühne von Giò Forma und die Kostüme von Gianluca Falaschi sinnenfällige Parallelen zum Hof Elizabeths II.. Die Sänger erinnern en detail an historische Personen wie Tony Blair. Der Eröffnungschor gleicht einem Defilee von Hofdamen in konservativen pastelltönigen Kleidchen. Leicester und Matilde treffen sich vor geschlossenem Vorhang, der an einen der Flure von Buckingham Palace erinnert. Und im Hintergrund, in den Video-Episoden von D-Wok, verweisen Explosionen vielleicht auf den überstandenen Zweiten Weltkrieg mit seinen Angriffen auf London oder auf den Unfall von Lady Diana. Hin und wieder geistert ein Vierzehnender durch nebliges Licht, der an Frears Film anknüpft und auf die verdrängten Emotionen der Königin anspielt.
Die überdeutlichen Bezüge holen die Story in eine durch mediale Erlebnisse geformte Gegenwart, legen aber auch die Personen des Stücks unnötig fest und knüpfen assoziative Bande zu Filmfiguren, die mit Rossinis Konstellationen nicht viel zu tun haben: Elizabeth II. – auch die aus der Netflix-Serie – ist ein anderer Charakter als Rossinis Königin. Beide jedoch sind von ihren Zuträgern und Unterstützern bei Hof abhängig, beide sind einsam in ihrer verschütteten Menschlichkeit und ihren nicht ausgelebten Sehnsüchten. Und beide legen sich die strikte Disziplin des Amtes auf: die Queen von Anfang an, die Elisabetta der Oper im Finale als Folge einer bitteren Erkenntnis.
Doch die neuen Aspekte für die Opernfiguren grenzen auch ein. So bleibt Livermores sorgfältig ausgearbeitete Inszenierung an ihrer ausdrücklichen Bezüglichkeit und ihrem Detailreichtum hängen. Bei aller bühnentechnischen Beschränkung hatte die diesjährige Regiearbeit Jochen Schönlebers beim Rossini Festival in Bad Wildbad dem Szenezauber in Pesaro eines voraus: Sie hielt den Raum für die Figuren offen und ließ damit interpretierendes Zuschauen zu.
Bei den Sängern hielten sich Entzücken und Enttäuschung die Waage. Die gefeierte Karine Deshayes ist als Elisabetta am besten, wenn sie lyrisch und nicht laut zu singen hat. Dann führt sie ihre Stimme locker, während ihr erster Auftritt in einer mondänen roten Staatsrobe unter forcierter Tongebung, vor allem in der Höhe, leidet. Die Koloraturen laufen gut geölt; leider gleitet sie öfter über Töne hinweg, die sie mit flacher Atmung zu bilden sucht. Doch ihr Wille zur Gestaltung ist beeindruckend: Die herrscherliche Attitüde gelingt ihr ebenso wie die Gemütswallungen der genasführten und desillusionierten Frau.
Eine blanke Enttäuschung bereitet Barry Banks als Norfolc, in der Uraufführung 1815 in Neapel die Paraderolle für Manuel Garcia. Er ist einer jener enggeführten, gequält klingenden Tenöre, die Belcanto-Spezialist Rodolfo Celletti mit dem unvergleichlich lautmalerischen Wort „striminzito“ bezeichnet hat – was so viel wie mager, mickrig, eingeschnürt heißt. Mit Klang und Farbe zu gestalten, lässt solches Material kaum zu. Die Verschlagenheit dieser Figur – man darf sie Rossinis Jago nennen – bleibt auf diese Weise stimmlich uneingelöst. Der andere Tenor im Ensemble macht als Leicester eine bessere Figur: Sergey Romanovsky kann die Stimme ebenmäßiger führen als seine vom Vibrato geschüttelten Kollegen und lässt die Verzierungen gelöst und gleichmäßig perlen. Die große Arie des zweiten Akts entfaltet sich glorios.
Matilde hat im ersten Akt mit „Sento un’interna voce“ eine der musikalischen Kostbarkeiten der Oper zu singen. Salome Jicia bringt dafür ausladende Dramatik, leider aber auch ein ebensolches Vibrato mit, was die Angelegenheit ästhetisch nicht befriedigend löst. Marta Pluda (Enrico) gewinnt in ihren wenigen Sätzen viel Sympathie; Valentino Buzza ist ein etwas angerauter, aber zuverlässiger Guglielmo. Giovanni Farina hat den Chor des Teatro Ventidio Basso aus Ascoli Piceno auf ein ausgewogen rundes Klangbild eingeschworen. Das Orchester des italienischen Rundfunks RAI bietet ein tadelloses, manchmal allerdings auch recht neutrales Klangbild; Evelino Pidò dirigiert die wohlbekannte Ouvertüre – die aus „Aureliano in Palmira“ stammt und für den „Barbiere di Siviglia“ recycelt wurde – einen Tick zu zäh und zu gleichförmig, liebt in den Ensembles ein striktes Metrum, lässt es auch sonst hin und wieder am lockeren Schwung fehlen, hat aber einen Blick für die berückenden Lyrismen und instrumentalen Finessen dieses „modernen“ Rossini.