Rathen/Felsenbühne: „DER FLIEGENDE HOLLÄNDER“ IN DER NATÜRLICHEN FELSEN-KULISSE DER SÄCHSISCHEN SCHWEIZ – 23.8.2022
Richard Wagners „Romantische Oper in drei Aufzügen“ „Der Fliegende Holländer“ auf einer, vom Wetter abhängigen Freilichtbühne in den Bergen des Elbsandsteingebirges/Sächsische Schweiz? Warum nicht! Schließlich beginnt die Handlung an „Norwegens Küste“ (in Wagners erster Fassung in Schottland). Da kann man sich gut vorstellen, dass Daland, der in der Inszenierung von Kai Anne Schumacher, der neuen Operndirektorin der Landesbühnen Sachsen, die auch die Felsenbühne bespielen, Schutz vor Gewitter und Sturm in einer felsigen Bucht sucht.
Sein Schiff ist zwar unversehrt, aber ein gestrandetes, zerfallenes, das die ganze Bühne einnimmt und dessen Planken (hier durch morsche Latten dargestellt) unter anderem auch den geborstenen Mast oder ein Grabkreuz bilden, das auf Sentas (Liebes-)Tod hinweisen könnte, dient symbolhaft als Grundlage der Handlung. Das Bühnenbild von Ralph Zeger besteht im Wesentlichen aus diesen vielen desolaten „Latten“, reichlich Plastikkisten und großen hellen Stoffbahnen, die wie ein Segel hochgezogen, als (sehr) einfacher löchriger Vorhang eines primitiven Theaters wirken und später als überlanges Tafeltuch, an dessen Ende Daland bei der Feier, wenn auch in Kapitäns-Uniform, so doch nicht als Handelskapitän, sondern Unternehmer der Fischverarbeitungs-Branche sitzt bzw. kinderbuchartig „thront“.
Das Bühnenbild verdeckt mehr die dekorative Natur-Kulisse von Deutschlands schönster Freilichtbühne als sie einbezogen wird, wenn auch der Holländer aus dem felsigen Hintergrund auftaucht oder der Chor dort gelegentlich agiert.
Während der Ouvertüre bzw. des (musikalischen) „Vorspiels“, das hier als Vorspiel sehr wörtlich genommen wird, findet die Handlung schon einmal vorausgreifend statt. Die „Schauerleute“ in gelben Wachsjacken, Gummihosen und Stiefeln schleppen Plastikkisten mit – was man hier noch nicht weiß – Fischen. Senta erscheint im schönen weißen (Braut-)Kleid und plumpen Fischerei-Gummistiefeln, die ihre Zugehörigkeit zur arbeitenden Bevölkerungsschicht andeuten, aus der sie sich mit ihrem Buch, das hier die „Hauptrolle“ spielt, herausträumt.
Der Holländer erscheint, begleitet von viel künstlichem Nebeldampf, blauem Licht und Komparsen mit großen Köpfen von Kalmar, Qualle, Fisch und Krebs (vielleicht auch als Hingucker für Kinder, die jedoch selten in Wagner-Opern mitgenommen werden). Von der schwarzen Holländer-Mannschaft (die im Original nicht agierend in Erscheinung tritt) umgeben, bedroht und langsam mit einer Stoffbahn „verhüllt“, liegt Senta schließlich wie in einem Leichensack am Boden und wird von Mary wiederbelebt, d. h. aus ihren Fantasien in die Realität zurückgeholt. Der Holländer umarmt jedoch Mary und geht mit ihr davon. Senta bleibt in ihrer Weltfremdheit traurig zurück.
Auf der realen Seite der Handlung wird das Geschehen von ihrem Vater dominiert, dem hier besonders gewinnsüchtigen und sich selbst erhebenden Unternehmer Daland, der von Michael König mehr darstellerisch als gesanglich überzeugend dargestellt wurde. Die verträumte Senta ist hier keine „höhere Tochter“ und wohlbehütet. Sie soll, in Arbeitskleidung wie die Matrosen (Kostüme: Valerie Hirschmann), in der Fischverarbeitung kräftig mit zupacken, greift aber immer wieder verträumt zu ihrem Buch mit der Holländer-Geschichte, das ihr immer wieder von irgend jemand entrissen wird, um sie in die Realität zurückzuholen. Trotz ihrer (platonischen) Liebe flieht sie bei jedem Kontakt mit dem Holländer (aus Angst vor „sexueller Belästigung“?). Sie will auch nicht von ihrem Vater, der ein gutes Geschäft wittert und in Geld wühlt, mit ihrem Idol verheiratet werden. Am Ende steht sie nach abgewiesener Liebe allein da, stürzt sich nicht – wie im Original – ins Wasser, um daraus, versöhnt mit ihrem Idol, in den Himmel aufzusteigen, sondern schneidet sich die Kehle durch.
In der zweiten Vorstellung nach der Premiere (21.8.2022) erfüllte die junge, schlanke, sehr anmutige Raffaela Linti mit gefühlsbetontem Gesang ihrer ausstrahlungsstarken, lyrischen Sopranstimme, mit der sie große Bögen spannt und Feinheiten weich fließen lässt, und guter Textverständlichkeit die Rolle mit Leben und wurde diesbezüglich zur zentralen Gestalt. Da blieben keine Wünsche offen.
Rhys Jenkins, der die geisterhafte Seite des in zweierlei Gestalt auftretenden Holländers, die Sagengestalt in Kleppermantel und mit (nur) einer Epaulette aus der Kaiser- oder Napoleon-Zeit verkörperte, erfüllte gesanglich seine Rolle, blieb aber darstellerisch eher zurückhaltend. Sein ziviles (stummes) Pendant stand mehr auf die junge attraktive Mary, dargestellt von der sehr verhalten singenden Anna Kudriaschova, die in der „Spinnstube“, in der die Frauen mit blutverschmierten weißen Plastik-Schürzen (Plastik-)Fische schuppen, wie eine gestrenge Aufseherin und weniger wie eine gütige, lebenserfahrene Amme umherschreitet. Die zu Wagners Zeiten geltenden Standesunterschiede sind hier „geglättet“ bzw. ausgeschaltet.
Als junger Steuermann, der bei der Wache auf einem Stapel Bücher eingeschlafen war, begann Florian Neubauer sehr verheißungsvoll und mit gut klingender Stimme. Offenbar interessiert er sich in dieser Lesart als Seelenverwandter auch für Senta und rettet sie vor ihrem, in Eifersucht erzürnten Verlobten Erik, der von Young Woo Kim im schwarzen trikotähnlichen Outfit und mit übergroßem Jagdgewehr verkörpert wurde. Kim sang mit persönlich vollem Einsatz seiner profunden Stimme und vertiefte sich auch im Spiel mit Leidenschaft in seine Rolle.
Am Ende stehen zwei Paare auf der Bühne, der geisterhafte Fliegende Holländer mit Senta und der reale Holländer mit Mary.
Hier wurde der Oper eine realistische und mögliche Story unterlegt, weitgehend durchdacht, mit vielen Einfällen und effektvollen Szenen und ohne den Inhalt gravierend zu verändern. Wie alle Modernisierungsversuche von Opern aus vergangenen Jahrhunderten kollidiert sie jedoch nicht selten mit Text und Musik und nimmt der ursprünglichen Handlung viel von ihrer Brisanz. Wagner war eine starke Persönlichkeit und hat nicht ohne Grund seine Libretti selbst verfasst, um ein in sich geschlossenes „Gesamtkunstwerk“ zu schaffen, für das er auch seine Vorstellungen für die Bühnengestaltung detailliert beschrieb.
Der Chefdirigent der Elbland Philharmonie Sachsen, Eckehard Klemm wählte für diese letzte Premiere der Felsenbühnen Festspiele 2022 die Urfassung der Oper, die 1843 in Dresden mit nur mäßigem Erfolg uraufgeführt und nach vier Aufführungen wieder abgesetzt wurde. Die überarbeitete Fassung, bei der musikalisch insbesondere Ouvertüre und Schluss verändert wurden, hatte dann mehr Erfolg und trat ihren Siegeszug an. Klemm führte das gut und zuverlässig spielende Orchester zu einer kontinuierlich überzeugenden Wiedergabe der Musik Wagners, wenn man sich auch die Bläser in den dramatischen Szenen etwas kraftvoller gewünscht hätte.
Sehr überzeugend und sicher sang und agierte auch der Chor aus Opernchor der Landesbühnen Sachsen, Extrachor der Sächsischen Staatsoper und Chor der Sächsischen Staatsoperette.
Wagner hatte den Sagenstoff im Geschmack seiner Zeit, in der Gespenster-Opern, und große Liebesdramen sehr beliebt waren, künstlerisch überhöht. Bei dieser Inszenierung wurde das Sujet sehr realitäts- und gegenwartsnah auf eine realistische und mögliche Story heruntertransformiert, weitgehend durchdacht und mit vielen Einfällen angereichert. Wie bei allen Modernisierungsversuchen von Opern aus vergangenen Jahrhunderten kollidiert dann aber nicht selten so manche Umdeutung mehr oder weniger mit Text und Musik und nimmt der ursprünglichen Handlung viel von ihrer Brisanz. Wagner war eine starke Persönlichkeit und hat nicht ohne Grund seine Libretti selbst verfasst, um ein in sich geschlossenes „Gesamtkunstwerk“ zu schaffen, für das er auch genaue Anweisungen gab, wie er sich das Bühnenbild detailliert vorstellte.
Der 10minütige, früher sehr sandige, jetzt befestigte Fußweg zur Felsenbühne Rathen lohnt sich immer, und sei es nur, um eine interessante Aufführungs-Version zu erleben. Die Bühne wurde nach längerer (Um-)Bauphase neu gestaltet. Das Orchester erhielt seitlich ein leichtes, aber festes Gebäude mit Öffnung zur Bühne, für Musiker und Instrumente bei unbeständigem Wetter sehr wichtig. Selbst wenn man Wagners Opern nur auf den Bühnen fester Opernhäuser mit guter Akustik kennt, ist eine Aufführung schon wegen der romantischen Stimmung den Weg dahin wert. Die Akustik ist hier anders, aber nicht schlecht. Die Sänger können sogar ohne Verstärkung singen.
Ingrid Gerk