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Ramón TEBAR . Der Dirigent im Gespräch mit Peter Reichl

“Meine Schule war das Theater…”

27.03.2018 | Dirigenten

“Meine Schule war das Theater…”

Ramón Tebar im Gespräch mit Peter Reichl
Wien, 24. März 2018

 Bildergebnis für ramon tebar

 

Maestro Tebar, bienvenido a Viena! Sie haben soeben erfolgreich an der Wiener Staatsoper debütiert – was bedeutet dieser 19. März 2018 für Sie persönlich?

Sehr viel. Nach Wien zu kommen war natürlich ein Traum, dieses Haus, das ich in so vielen Videos gesehen habe, in Aufnahmen mit den grossen Dirigenten, und mit all seiner Geschichte, vor allem dem grossen Gustav Mahler – für mich hat es sehr viel bedeutet, hierherzukommen und die Gelegenheit zu diesem Debüt zu erhalten. Und vor allem an einem 19. März – das ist nämlich der wichtigste Feiertag in meiner Heimatstadt, in Valencia: es ist der Tag von San José, dem Stadtpatron, ein grosses Fest, zu dem wir Lichter an allen Monumenten entzünden. Zudem ist José auch mein erster Name, ich heisse eigentlich José Ramón, und es ist auch noch Vatertag… So habe ich natürlich Spanien vermisst, aber ich durfte an diesem Tag hier sein, und es war ein sehr spezieller Tag, mit den Wiener Philharmonikern im Graben, das ausverkaufte Haus – wirklich ein ganz besonderer Abend.

Sie haben ja sehr früh mit Musik als Beruf begonnen, schon mit fünfzehn…

Ja, das stimmt, aber als Korrepetitor, in Valencia im Theater, noch im alten Gebäude aus dem 19. Jahrhundert – jetzt haben wir ja ein neues. Dort habe ich das gesamte Repertoire gespielt, mit all den Sängern, dem Chor, hin und wieder auch dem Bühnenorchester… Ich assistierte grossen Maestri – als etwa Lorin Maazel das erste Mal nach Valencia kam, habe ich für ihn „Luisa Miller“ korrepetiert. Dann wurden er und Zubin Metha als Musikdirektor für den neuen Palau de les Arts engagiert, und Mehta bot mir einen Job als Pianist an. Ich habe damals überhaupt nicht dirigiert, man kannte mich nur am Klavier, und ich musste meine Heimatstadt zunächst verlassen, weil ich dort keine Möglichkeiten bekommen habe. Aber als sehr junger Pianist noch machte ich die Bekanntschaft von Montserrat Caballé, als ich 18 oder 19 war, und sie engagierte mich für ihre Liederabende. So kam ich nach Deutschland, nach Russland, an viele Orte. Als ich dann zu dirigieren begann, habe ich sie auch mit dem Orchester begleitet. Denn in der Zwischenzeit, in Alicante, einer Stadt südlich von Valencia, war ich Korrepetitor einer Produktion von „Don Pasquale“, als der Dirigent nicht auftauchte, und da bot man mir das Dirigat an. Ich sagte „ja, warum nicht“, und hab es einfach gemacht.

Sie haben es einfach gemacht…?

Ja, und es hat funktioniert. So kommt es, dass ich niemals formell Dirigieren studierte – meine Schule war das Theater. Seit ich 15 war, verbrachte ich meine gesamte Zeit hinter einem Notenständer, am Klavier – für mich war das die beste Schule, das wirkliche Konservatorium. Früher haben ja alle so begonnen, Furtwängler, Karajan, Toscanini, Solti, Kleiber… nur heute ist das ein bisschen anders geworden, jedenfalls ausserhalb der deutschsprachigen Länder: man bekommt oft einfach eine Gelegenheit und springt ein, und deswegen haben viele Dirigenten nicht mehr diese Opernerfahrung, die ich als existentiell erachte. Man kann so schon Sinfoniekonzerte dirigieren, aber erst dann zur Oper zu kommen, das funktioniert nicht immer.

Was genau macht diesen Unterschied aus?

Es hängt sehr mit dem Atmen zusammen, der Art und Weise, über das Atmen Musik zu phrasieren. Wenn man gewohnt ist, mit Sängern zu arbeiten, wird dadurch die Phrasierung eine andere. Das gilt übrigens auch für Instrumentalisten: manchmal, wenn ich mit einem Orchester arbeite, gibt es da Oboisten, die sehr, sehr lange Phrasen spielen können, ohne zu atmen. Das ist natürlich grossartig, eine besondere Form von Virtuosität, aber es ist das eine, das zu können, und etwas ganz anderes, zu sehen, ob die Phrase das überhaupt braucht.

Man sollte dazu in der Lage sein, es aber nicht immer anwenden…?

Ja, genau. Für mich bedeutet Atmen, am Leben zu sein. Ohne Atem ist Musik nicht lebendig. Es heisst ja auch „Arie“, das kommt von „aria“, Luft, Atem. Deswegen muss man immer Atem holen, und zwar genauso, wie wir das beim Sprechen tun. Dort gibt es auch Kommata, Satzzeichen, die man beachten muss, sonst klingt das nicht natürlich. Und so gesehen ist für mich die Stimme das vollkommene Instrument. Natürlich hat sie auch Unvollkommenheiten, aber jedenfalls ist sie das natürlichste der Instrumente, und deswegen sollte jedes andere Instrument die Stimme imitieren. Das wussten auch die grossen Meister der Vergangenheit, angefangen bei Bach: er schrieb sein „Wohltemperiertes Klavier“ und auch die „Inventionen“ im Cantabile-Stil – immer singbar, und das auf dem Cembalo…

… auf dem man ja überhaupt nicht „singen“ kann…

…ja, aber was er meinte, war: dies wenigstens zu imitieren, und das heisst, dass man sich entsprechend Zeit lässt und die Phrase gestaltet. Für mich sind das die wichtigsten Dinge in der Musik überhaupt: die Phrasierung, und dann die Artikulation – auch das hat sehr viel mit Worten zu tun: man muss wissen, wann man eher über Konsonanten artikulieren muss, und wann über Vokale, damit man das auch Streichern erklären kann. Deswegen glaube ich, dass man zwar ohne diese Erfahrung mit Sängern durchaus ein sehr guter Dirigent sein kann, mit guter Gestik, grossem Talent, viel Intuition, aber wenn man das nicht im Blut hat, macht es doch einen Unterschied. Von daher fühle ich mich sehr glücklich und privilegiert, dass ich von früher Jugend an in Kontakt mit Sängern sein durfte, und wenn ich heute mit Orchestern arbeite, dann versuche ich immer, sie auf eine lyrische Art und Weise zum Singen zu bringen. Das hängt natürlich auch von der Musik ab, es gibt eher rhythmische Musik, aber diese kann man wenigstens tanzen. Jedenfalls muss Musik mit unserem Körper verbunden sein, um natürlich zu werden. Das gilt übrigens auch für das Dirigieren, und deshalb versuche ich, nicht einfach nur sehr präzise einen Takt zu schlagen, sondern dies immer etwas zu runden. Natürlich, manchmal springt man ein, hat keine Probe, dann muss man genauer agieren, aber idealerweise sollte man eher ein wenig unpräzise bleiben…

… um diesen Fluss zu erreichen…

Genau. Orchester können ja zählen, sie wissen, wo der Schlag ist, deswegen geht es eher darum, die Phrase zu gestalten, die Atmosphäre… Das ist mein Grundansatz: Stimme und Dirigieren – alles sollte so natürlich wie möglich sein. Dirigiergesten habe ich beispielsweise nie studiert, denn sie sollten einfach fliessen, so natürlich wie wir sprechen.

Da haben Spanier, Italiener natürlich einen Vorteil…

Vielleicht, wir gestikulieren einfach von Haus aus viel mehr… Ich erinnere mich, als ich als Pianist arbeitete und Kammermusik probte, oder auch mit Sängern, da habe ich mich dabei ertappt, beim Erklären auch ständig bestimmte Gesten zu verwenden, und das waren dann tatsächlich schon Dirigiergesten. Sie kamen ganz natürlich, und so haben mich dann nach und nach Musiker darauf hingewiesen, ich sei doch eigentlich ein Dirigent, mit all diesen Gesten.

Das heisst, Dirigieren heisst, den Orchesterspielern Musik durch solche Gesten zu „erklären“…?

Ja, das ist die Aufgabe eines Dirigenten. Wir gestikulieren, mit den Händen, dem Gesicht, dem ganzen Körper, wo und wie wir stehen: all das dient dazu, dem Orchester zu kommunizieren, was wir in diesem Moment wollen. Natürlich gibt es da Grenzen, und manche Nuancen müssen wir schon erläutern, aber wenn eine Geste beispielsweise klein ist, kann niemand laut spielen.

Die Essenz von Musik ist also Bewegung

…gemeinsam mit dem Atmen, denn Atem ist Bewegung, und auch Artikulation. Letzten Endes geht es um Kommunikation, denn Musik ist eine Sprache, die sich über Klang artikuliert. Aber um durch Klang etwas sagen, kommunizieren zu können, muss man ihn auch modulieren. Das hängt auch mit einer Art Rhetorik zusammen, worüber beispielsweise Beethoven so viel gesprochen hat. Ich fürchte, wir haben dies heute ein wenig aus den Augen verloren… Aber ich denke, ein Dirigent sollte versuchen, auf diese Weise die Orchestermusiker zu motivieren. Und deshalb haben auch die meisten grossen Dirigenten des letzten Jahrhunderts dort angefangen, im direkten Kontakt mit der Oper, nicht nur wegen der Stimmen.  Da geht es auch nicht nur um schöne Melodien, sondern um das Drama, das Erzählen einer Geschichte. Letzten Endes ist auch eine Mahlersinfonie eine Geschichte, die man dem Publikum erzählen muss. Drama, Humor, Ironie – all diese Nuancen unseres Lebens können darin enthalten sein, Leidenschaft, alles. Aber es muss eine Erzählung sein, und sie muss irgendwie artikuliert werden. Und das, denke ich, sollte unser Ziel sein, mein Ziel wenigstens.

Sie verwenden also das Orchester, um mit dem Publikum zu kommunizieren.

Absolut. Und letzten Endes, selbst wenn einige dieser Gesten unpräzise aussehen mögen und nicht sehr klar, können sie aus musikalischer Sicht sogar klarer sein. Es gibt einige Dirigenten, die ich mein ganzes Leben lang sehr bewundert habe, Prêtre zum Beispiel, mit Gesten, wo ich mir denke: mein Gott, ich verstehe überhaupt nicht, wo ist die Eins, die Zwei, wo ist der Schlag….? Er hat einmal „Prélude à l’apres-midi“ von Debussy dirigiert, davon gibt es ein Video, und er schlägt überhaupt nicht, er macht kaum etwas, und das ganze Orchester funktioniert trotzdem. Und auf eine gewisse Weise ist es vollkommen klar, denn er erklärt die Musik, nicht die Takte…

Prêtre hat ja sein allerletztes Konzert hier in Wien dirigiert, und da war es ähnlich bei Ravels „Bolero“, vollkommen frei…

….und das macht einen Dirigenten zu einem Künstler. Natürlich hängt das auch von den Umständen ab, wenn man beispielsweise wenig oder keine Proben hat, dann muss man einfach manchmal sagen: Hier bin ich, es gibt mich noch. Aber idealerweise, wenn ich die Proben für eine Produktion beginne, oder auch für eine Sinfonie, dann mache ich die Partitur auf und versuche als erstes herauszufinden, was der Komponist im Sinne hatte. Ich gehe immer vom grossen Ganzen aus: was ist die Geschichte, was ist die Botschaft, die der Komponist dem Publikum überbringen möchte. Es gibt heute Komponisten, die sich weigern, für das Publikum zu schreiben, aber daran glaube ich nicht – warum sollte man dann überhaupt ein Publikum suchen? Dann lass uns diese Musik gleich zu Hause spielen, für uns selbst – auch ok, aber wir brauchen damit gar nicht erst in den Konzertsaal gehen. Sobald Zuhörer da sind, muss man Ihnen etwas mitteilen, sonst macht das keinen Sinn, und Komponisten sollten sich nicht schämen, für das Publikum zu schreiben. Es gibt da diesen wunderbaren Brief von Mozart an seinen Vater, als er in Paris war, in dem er sagt: so und so fange ich an, denn die Pariser lieben diesen Effekt – er hat also beim Komponieren schon an den Effekt gedacht, den seine Musik hervorrufen würde. Das gilt auch für die Oper. Puccini und Verdi haben manche Dinge in genau dosierter Art und Weise verwendet, um letztlich eine grosse Steigerung zu konstruieren. Da kann man nicht einfach hundert Steigerungen hintereinander schreiben, dann verliert das Drama nur seine Spannung…

Und das macht ja deren Meisterschaft aus, sie waren darin unübertrefflich. Ist das der Grund dafür, dass Sie sich – bei aller Breite, die Ihr Repertoire hat – doch auf zentrale Werke beschränken: das Wichtigste aus dem Belcanto, die grossen Verdis, Don Carlo, Ballo in Maschera, Trovatore, Traviata, der ganze Puccini, Tosca, Boheme, mehrere Produktionen von Butterfly, La Rondine… aber kaum französisches Repertoire, und kein deutsches Fach, und irgendwie hört es bei Puccini auf, mit Ausnahme von Catán? Hat die Musikgeschichte da einen gewissen Höhepunkt erreicht, den man nicht mehr wirklich steigern kann?

Na ja, es hängt einfach auch von den Umständen ab. Als ich in Spanien studierte, und dann in Rom, hat man mir halt zunächst Belcanto angeboten, und ich liebe dieses Repertoire, habe da mit Künstlern wie Montserrat Caballé und Teresa Berganza gearbeitet, und auch gute Kritiken bekommen. Dann hat man mich für andere Produktionen empfohlen, und so erweiterte sich nach und nach mein Repertoire, zuerst Verdi, dann Puccini… Ich habe auch französisches Fach gemacht, aber nicht viel: Thais, Carmen (wenn man das französisches Fach nennen mag), und im deutschen Repertoire war das tatsächlich sehr wenig, Zauberflöte…

… und Fledermaus…

… ja, und Gluck, Iphigenie auf Tauris, aber insgesamt nicht viel. Ich hoffe natürlich, dass das noch mehr wird, aber ich habe ja auch noch Zeit. Ich bin ja noch nicht einmal 40…

… und haben schon eine Karriere von 25 Jahren hinter sich. Es ist ja auch interessant, dass beispielsweise Rafael Frühbeck de Bourgos, der uns vor wenigen Jahren verlassen hat, und auch Jesus López-Cobos, der erst vor wenigen Wochen leider verstarb, eine sehr enge Beziehung zu Deutschland hatten – Sie haben ihm ja sogar neulich eine Gedenkminute in einem Konzert gewidmet, das hat mich sehr berührt, als ich das gelesen habe…

Das war sogar genau sein Todestag… Er studierte ja in Wien, und hatte von daher eine enge Beziehung dazu. Bei mir ist das anders gelaufen, Deutschland war eines der Länder, das mich interessierte, aber dann bekam ich die Chance, in die Vereinigten Staaten zu gehen, und habe sie ergriffen. Aber, wie gesagt, Belcanto ist für mich die Basis, nicht nur für den Gesang, sondern für die Oper überhaupt, auch Mozart, und deswegen muss man sich sowieso damit beschäftigen, bevor man Wagner dirigiert. Natürlich gibt es Kollegen, die machen Wagner mit 20, das ist wunderbar, aber ich denke, man muss seine musikalische Reifung Stück für Stück aufbauen und festigen, und dann wird das kommen…

Es ist eine Evolution…

… bei der es nicht darum geht, sich ein bestimmtes Repertoire als Ziel vorzunehmen, das man unbedingt erreichen muss, möglichst schnell und umfangreich. Ich habe keine Eile – schauen wir mal in 20 Jahren… Und es macht mich schon jetzt glücklich, dass ich in meinem Repertoire die meisten zentralen Stücke bereits dirigieren konnte. Denn in der gesamten Operngeschichte gibt es für mich fünf Monumente: Monteverdi, Mozart, Verdi, Puccini und Wagner. Diese Komponisten haben wirklich alles zusammengebracht, nicht nur in Sachen musikalischer Genialität, sondern auch aus dramatischer Sicht – sie konnten Drama in Musik verwandeln. Diese fünf stellen den Gipfelpunkt der Musikgeschichte dar. Leider habe ich noch nie Monteverdi gemacht, aber sehr wohl Mozart, Verdi und Puccini. Wagner möchte ich eines Tages unbedingt machen, aber das wird kommen – das hängt auch an der Sprache, die ich leider immer noch nicht gut genug beherrsche.

Es ist interessant, dass Sie Monteverdi erwähnen. Er hat ja die Oper in einem gewissen Sinne „erfunden“ und gleich auf ein vollkommenes Niveau gebracht.

Ja, er hat gleich dieses ganze neue Genre auf eine Grundlage gestellt. So hat er beispielsweise, bevor er Melodien geschrieben hat, erst einmal die besten Schauspieler seiner Zeit engagiert und sich den Text rezitieren lassen, um sich genau an die Flexionen der Worte halten zu können. Von daher schon stammt diese besondere Wichtigkeit der Phrasierung, des Atmens und der Artikulation – daraus wurde die Oper geboren, und die Musik überhaupt. Verdi und Puccini sind ihm dort nachgefolgt, und natürlich auch Mozart, den ich besonders liebe. Aber Mozart hat einen ganz anderen Weg eingeschlagen, um das zu erreichen, anders als etwa die Italiener.

In welchem Sinne?

Nehmen wir zum Beispiel Così fan tutte, das habe ich zusammen mit den anderen Da Ponte-Opern schon sehr früh dirigiert. Während Puccini, Verdi und Monteverdi diese Flexion erreichen, indem sie sehr nahe am dramatischen Ausdruck des gesprochenen Textes bleiben, macht Mozart das über die Atmosphäre. Così hat auf den ersten Blick nicht unbedingt die interessanteste Handlung, da sind Figaro oder Don Giovanni viel besser, aber dafür so viele schöne Melodien auf jeder Seite der Partitur – ich habe nirgendwo mehr so viele wunderbare Melodien pro Quadratzentimeter gefunden. Mozart erreicht das also einfach durch die Schönheit der Melodie selbst – ein sehr kleiner, aber entscheidender Unterschied zu den Italienern, obwohl er natürlich selber trotzdem in Italienisch schreibt. Zum Beispiel in der Zauberflöte, wenn die drei Knaben da ganz homophon singen…

…“schon prangt, den Morgen zu verkünden“…

…ja, genau, und nur die Atmosphäre, die er da erschafft, erzählt von ganz alleine, was passiert. Er bringt da einfach Licht auf die Bühne, und damit macht er es den Regisseuren eigentlich fast zu leicht, denn wenn man sich mit der Instrumentation beschäftigt, der Art und Weise, wie diese Komponisten schreiben, dann steht damit schon die ganze Beleuchtung fest…

… was natürlich heisst, Regisseure sollten dringend Noten lesen können… Sie bevorzugen also  Inszenierungen, die sich von dem her entwickeln, was in den Noten steht? Ich denke da gerade an die Tosca dieser Tage in Salzburg, bei der Scarpia ja zunächst überlebt und erst im dritten Akt dran glauben muss…

Oh… Na ja, ich bin nicht gegen moderne Interpretationen, Kostüme oder Inszenierungen. Aber ich bin wirklich dagegen, das, was geschrieben ist, falsch zu interpretieren. Ich habe nichts dagegen, wenn man im Figaro alle in Strassenanzüge mit Krawatten steckt, im 21. Jahrhundert ist das ok, und es ändert Mozart ja auch nicht. Aber wenn man in eine Oper geht, in der der Regisseur beispielsweise dem Chor nicht erlaubt, hinter der Bühne zu singen, obwohl der Komponist genau das vorgeschrieben hat, weil er das so wollte, dann geht das gegen die Essenz des Werkes. Oder in der Butterfly, wenn sich Cio-Cio-San da nicht umbringen würde, dann geht die Tragödie verloren – und ich habe solche Produktionen gesehen. Natürlich kann man vieles hineininterpretieren, vielleicht sogar einen Scarpia, der überlebt – er hat es wohl noch ins Spital geschafft, und das kann sogar eine interessante Idee sein, sehen wir. Aber ich habe zum Beispiel einmal eine Aida gemacht, in der es keine Ägypter gab, sondern Samurais, alle möglichen wilden Volksstämme und Menschen aus allen Himmelsrichtungen, aber keine Ägypter. Man spielte Verdi, alles war da, aber hinterher sagten mir Besucher, die zum ersten Mal in der Oper waren: war das vielleicht ein anderes Stück – ich dachte, Aida spielt in Ägypten…? Wenn man wirklich alles ändert, dann bleibt zwar Verdis wunderbare Musik, aber er hat das ja in einen bestimmten Rahmen gesetzt, der ihm auch die Inspiration dafür gegeben hat. Natürlich kann man in einem kleinen Haus keinen Triumphmarsch mit Elefanten und Kamelen veranstalten, aber man kann ja wenigstens etwas machen, das denselben Eindruck evoziert, und ändert nicht die Essenz. In dieser Produktion hatte ich zum Beispiel auch keine Trompeten auf der Bühne – Verdi wollte aber diesen Effekt, und ohne Trompeten wird man ihn verlieren. Und damit verliert man ein Stück weit die Essenz. Wir sollten daran denken, dass in dem Moment, in dem wir eine Partitur aufschlagen, es darin eine Botschaft gibt, eine Botschaft des Kunstwerks an sich. Und wenn man diese Essenz verändert, dann ist man auch nicht ehrlich dem Komponisten gegenüber. Für so etwas würde ich eher ganz neue Musik hernehmen – wir haben viele Komponisten um uns herum, und man kann neue Opern in Auftrag geben, bevor man die grossen Werke verunstaltet…

Kommen wir nochmal auf Ihre Vita zurück. Sie haben also 2005 Valencia in Richtung der USA verlassen und begonnen, sich dort eine Karriere aufzubauen, zunächst in Florida, wo Sie als erster Spanier überhaupt die künstlerische Leitung eines Opernhauses angetragen bekamen, in Miami…

Es gab natürlich vorher schon spanische Dirigenten, Enrique Jordá zum Beispiel, als Musikdirektor des Sinfonieorchesters in San Francisco, und natürlich López-Cobos, Garcia Navarro und viele andere, die sehr oft in allen möglichen Opernhäusern dirigiert haben, aber tatsächlich keinen spanischen Dirigenten als Künstlerischen Leiter eines grösseren Opernhauses, und Miami ist immerhin eines der ältesten Häuser in Amerika, mit grosser Tradition. Angefangen habe ich aber als Assistent in Palm Beach, zwei Jahre später wurde ich dann Chef des Sinfonieorchesters dort, und dann dirigierte ich einige Spielzeiten an der Oper von Cincinnati. 2010 dann wurde ich Musikdirektor in Miami, später dann auch noch in Naples, gleich nebenan, bin aber immer noch regelmässig nach Cincinnati zurückgekehrt.

War das dann der Zeitpunkt, an dem Sie sich wieder dem sinfonischen Repertoire zuwandten?

Nein, das war schon etwas früher. Noch in Spanien, zwei Jahre, bevor ich weggegangen  bin, habe ich einen Wettbewerb des Spanischen Jugendnationalorchesters gewonnen. Das ist ein sehr wichtiges Orchester, das viele zukünftige Profis bereits in jungen Jahren zusammenbringt; es wurde sogar schon von Carlo Maria Giulini geleitet, sie haben zusammen Aufnahmen gemacht. Das war meine erste offizielle Position als Dirigent, mehrere Spielzeiten lang, und wir haben nur sinfonisches Repertoire gemacht, Tourneen usw. Das erste Repertoire, das ich dirigiert habe, war also eigentlich sinfonisch, aber dann habe ich einfach so viele Sänger getroffen, wurde hierhin und dorthin empfohlen… Inzwischen bin ich aber auch Chef des Sinfonieorchesters in Valencia, dort entwickle ich jetzt mein sinfonisches Repertoire weiter.

Sie haben diese Position ja letztes Jahr angetreten – ich war sehr überrascht über das Programm des allerersten Konzerts: Finlandia von Sibelius, Schostakowitsch und die Erste Mahler, etwas ungewöhnlich als Visitenkarte für ein spanisches Publikum…

Ja, das stimmt. In Wahrheit stand die erste Hälfte des Programms schon vorher fest, aber den Mahler habe ich ausgewählt. Ich wollte unbedingt mit Mahler eröffnen, weil ich mich ihm auf vielfältige Weise verbunden fühle. Ich liebe seine Musik, seine Persönlichkeit, das, was er als Künstler ausdrücken wollte, in dieser speziellen geschichtlichen Umgebung der Jahrhundertwende, kurz vor dem Krieg, mit all dieser Dekadenz– es lag ja etwas in der Luft damals, nicht nur in Wien, sondern überall in der Welt. Aber auch sein Hintergrund – er war ja Direktor und Dirigent an diesem grossartigen Haus…

… gerade einmal 200m von hier entfernt…

…und hat trotzdem nie eine Oper geschrieben, ausser die Drei Pintos, als er noch sehr jung war. Aber es sind natürlich seine Sinfonien, die als Erbe geblieben sind, und die Lieder, die wahrscheinlich sogar noch wichtiger sind. Denn sein sinfonisches Schaffen gründet sich in seinen Liedern, und ich würde sogar sagen: in der Oper, denn in jeder Mahlersinfonie kann ich wieder eine Geschichte hören, die gar keinen Text braucht. Das kommt daher, dass er eben ein Operndirigent war, und wenn man versteht, dass in jeglicher Musik, egal ob mit oder ohne Text, eine Geschichte, ein Drama, eine Erzählung stecken sollte, dann versteht man, warum Mahler es gar nicht nötig hatte, eine Oper zu schreiben… Die Erste ist deswegen besonders wichtig für mich, weil sie ja bereits seinen ganzen Weg festlegt, indem sie von der Menschheit handelt: ein Held, seine Kämpfe ein ganzes Leben hindurch, und wie er am Ende gegen die Kräfte des Bösen triumphiert. Das genau ist unser Leben, und es geht um dich und mich, wenn er von einem Held spricht, nicht um Superman. Stattdessen um ein menschliches Wesen, das seinen Weg durchs Leben findet und versucht, siegreich zu bestehen – dann ist man ja bereits ein Held, mit bestimmten Werten. Und all das wurzelt in der Natur: Musik kommt aus der Natur, die Stimme sowieso, Dirigieren sollte möglichst natürlich sein… alles kommt letztlich aus den Klängen der Natur. Wir sind damit verbunden, und gerade heute brauchen wir das mehr denn je. Diese ganze Technologie, die Umweltverschmutzung… wir brauchen ein neues Bewusstsein dafür, dass wir auf unsere Welt viel mehr aufpassen müssen, anstelle uns selbst zu zerstören. Auch deshalb ist Mahler so wichtig für mich, gerade die Erste, mit ihren vielen Botschaften, die ich unterstreichen und als Statement weitergeben möchte. Denn Musik ist mehr als nur etwas Angenehmes für unsere Ohren – das natürlich oft auch, aber die Schönheit einer Melodie ist wie das Antlitz eines schönen Menschen, welches letzten Endes doch oberflächlich bleibt. Die grossen Komponisten hatten beides: das äusserliche Wohlgefallen und die innere Schönheit.

Und doch kommt es auch auf den Interpreten an. Leonard Bernstein hat dies ja exemplarisch vorgeführt, bei seinen grossen Mahlerzyklen hier in Wien – mehr Herzblut kann man kaum in Musik investieren, als er es damals tat. Carlos Kleiber andererseits hat keine einzige Note Mahler dirigiert, obwohl er sie alle auswendig kannte. Braucht es also speziell im Fall von Mahler diese innere Verbindung, vielleicht mehr als bei anderen Komponisten?

Um sich als Interpret zu entwickeln, ist es nicht nötig, sich nur mit seinen Lieblingskomponisten zu beschäftigen. Ich liebe beispielsweise Rossini, aber er ist nicht mein Lieblingskomponist, wenn es ums Dirigieren geht. Ich liebe Mozart, aber Mozart hat seine Musik nicht dazu geschrieben, dass man sie dirigiert, jedenfalls wie wir Dirigieren heute verstehen. Deswegen liebe ich es, ihn zu proben, aber für Vorstellungen habe ich seine Stücke nicht so gern wie etwa Verdi oder Puccini. Als Dirigent wohlgemerkt – als Musiker ist das anders. Deswegen spiele ich lieber Mozarts Kammermusik, während das bei Puccini ganz anders ist: da kann man als Dirigent schwimmen in diesem Ozean aus Klang, Drama, Stimme, und ähnlich auch bei Verdi, da kann man manchmal Shakespeare in der Luft berühren, das ist unglaublich. Aber Rossini dirigieren – das ist jetzt nichts, wofür ich mein Leben hergeben würde. Für Mahler aber schon, hier muss die Verbindung zwischen Dirigent und Musik wirklich eng sein. Es stimmt, dass Kleiber keinen Mahler dirigierte, aber er hatte vielleicht das Gefühl, er solle nur die Stücke dirigieren, denen er sich wirklich, wirklich verbunden fühlte. Das ist natürlich das Grösste, wenn man sich aussuchen kann, was man dirigieren möchte, wann und mit wem, und er hat das geschafft. Vielleicht dachte er auch, Mahlers Musik sei auf eine Art schizophren, und es könnte zu hysterisch werden. Aber natürlich muss man nicht selbst hysterisch sein, um einen Komponisten zu dirigieren, der dazu neigt. Als Interpret kann man ja auch eine Art Schauspieler sein – man muss ja auch niemanden umbringen, um in einem Film einen Mörder darstellen zu können. Diese Gedanken über das Repertoire sind natürlich interessant, denn inzwischen komme ich langsam in ein Stadium, wo ich als Musiker und als Dirigent mit dem breitestmöglichen Spektrum an Kompositionen experimentieren möchte, fühlen möchte, wie sich Rossini anfühlt, wie er Humor verstanden hat, oder Mozart, oder hoffentlich eines Tages sogar Monteverdi. Ich würde sehr gerne auch einmal Ausflüge in die historische Aufführungspraxis unternehmen, das finde ich einen sehr ansprechenden Gedanken. In Cincinnati war ich zum Beispiel Assistent von Roger Norrington, ich habe Figaro mit ihm gemacht, besser gesagt entdeckt, und wenn ich heute über Artikulation und ähnliches spreche, dann kommt das von ihm. Ich verehre Harnoncourt, auch wenn ich nie die Gelegenheit hatte, unter ihm zu arbeiten, aber alle seine Ideen… Und so können wir heute Partituren nicht mehr genauso ansehen wie vorher, nachdem Leute wie Harnoncourt oder Norrington gemacht haben, was sie taten. Wenn ich zum Beispiel Verdi studiere, dann schaue ich mir das genauso an, wie sie sich Beethoven, Mozart oder Haydn angeschaut haben.

Aber es ist doch auch interessant, dass gerade diese beiden, Harnoncourt und Norrington, sich auch niemals darin festgebissen haben. Der späte Harnoncourt hat Aida gemacht, und jeder wunderte sich, Bruckner sogar, bis hin zum Neujahrskonzert, und es war grossartig…

Absolut – als Künstler muss man sich entwickeln. Und wenn man mit diesen Leuten gesprochen hat, Norrington zum Beispiel, so war ihre Überzeugung, man könne dies auf alles anwenden. Nehmen wir beispielsweise Metronomzahlen: Bach kannte das nicht, Beethoven schon, und Verdi auch. Und wenn Beethoven dies aufschrieb, wollte er damit auch etwas sagen, ansonsten hätte er kaum die Zeit dafür verschwendet. Verdi war einer der ersten italienischen Komponisten, die das ebenfalls taten, er hat ganze Listen mit Metronomzahlen an seinen Verleger Ricordi geschickt, und bittet in einem Brief sogar darum, sicherzustellen, dass der Kopist das gleiche Metronom verwendet wie er selbst…

… während das ja bei Beethoven ein Problem darstellt: sein Mälzel ging vermutlich anders als heutige Metronome.

Ja, das stimmt. Aber das bedeutet auch etwas, nämlich dass sie sehr genau auf das achteten, was sie wollten. Wenn man heute Puccini hört oder Verdi, und dann in die Partitur schaut, wo Verdi 60 für eine Viertel vorschreibt, dann sollte man genau 60 schlagen, nicht 62 oder 58. Denn es gibt einen Grund, warum er 60 geschrieben hat. Aber es gibt natürlich auch noch eine andere Sichtweise darauf: Beethoven hat ebenfalls sehr genau notiert, aber alle, die ihn im Konzert erlebten, Czerny zum Beispiel, berichten, dass er selber regelmässig davon abwich: die Metronomzahl hatte nur für die ersten paar Takte Gültigkeit, danach konnte sich sein Tempo durchaus ändern, zum Beispiel zwischen dem ersten und zweiten Thema…

… was uns ja wiederum zurück zum Atmen bringt: man atmet an einer lyrischen Stelle eben anders als an einer dramatischen Stelle?

Genau, und deswegen nimmt man auch ein unterschiedliches Tempo. Wenn ein Thema eher männlich ist, dann ist auch das Tempo anders als bei einem Thema, das eher weiblich ist; das sind unterschiedliche Charaktere, und man kann dann nicht stur dieselbe Metronomzahl durchhalten.

Das ist also kein wissenschaftlicher Algorithmus, sondern eher eine Lebensweise?

Ja, eine Lebensform, und für mich ist auch die Sonatensatzform wie das Leben: es gibt die Exposition, etwas wird geboren, wächst dann in der Durchführung als Teenager auf, man leidet an der Liebe, erlebt vielleicht eine Scheidung, verliert einen geliebten Menschen, und dann sollte die Reprise auch nicht mehr genau dasselbe sein, sondern enthält all diese Erfahrungen…

… so dass sich dann die Spannungen aufzulösen beginnen, beide Themen in der Tonika…

… und dann stellt sich die Frage: wie hat sich die Wahrnehmung verändert, durch all die Erfahrung, die wir zwischenzeitlich gewonnen haben. Die Essenz ist wahrscheinlich gleichgeblieben, aber wird auf eine andere Weise ausgedrückt. Vielleicht mit weniger Leidenschaft, weil man sie nicht länger benötigt. So ist das Leben, die Schönheit des Lebens…

… und dann gibt es ja hinterher immer noch eine Coda… Eine andere Frage: auch wenn Sie noch relativ jung sind, liegt Ihnen doch die Förderung des Nachwuchses sehr am Herzen. In Naples haben Sie dazu eine Opera Academy aufgebaut, mit Renata Scotto, Sherill Milnes, Veronica Villarroel, Bruce Ford. Wie kam es dazu – man könnte meinen, Sie sind noch nicht genügend ausgelastet?

Ja, es scheint so… Für mich ist einfach wichtig, dass Erfahrung an jüngere Generationen weitergegeben wird –  ich würde es nicht unbedingt Unterricht nennen, denn das bedeutet irgendwie, ich weiss etwas und du weisst nichts. Es geht um die Weitergabe von Erfahrung, und nachdem ich glaube, dass die menschliche Stimme das natürlichste, das beste Instrument überhaupt darstellt, dachte ich, eine solche Akademie für Sänger und Sängerinnen könnte der Mühe wert sein. Renata Scotto, die ich verehre und von der ich so viel gelernt habe, kenne ich schon seit über 15 Jahre, sie war eine der ersten in den USA, die mir geholfen hat: in meinem ersten Jahr sah sie mich als Pianist und sagte mir: Du spielst wie ein Dirigent – dasselbe, was mir Montserrat Caballé gesagt hatte. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte, aber beide sagten mir genau dasselbe, und so erhielt ich meinen ersten Vertrag in Italien, beim Festival von Spoleto, dank ihrer Empfehlung. Ich schlug ihr also vor, bei diesem Projekt als Hauptdozentin dabei zu sein, und sie war mit grossem Enthusiasmus einverstanden – so fingen wir an. Jetzt sind wir im zweiten Jahr und hoffen natürlich, dass sie möglichst schnell wieder zu uns stösst. Bis dahin ist die Idee, die Akademie zu expandieren, indem wir Künstler von der Statur eines Sherill Milnes miteinbeziehen, Villarroel, Bruce Ford, die ich sehr verehre, und ich glaube, es ist wichtig für uns, nicht nur als Künstler, die wir nie fertig sind, sondern auch für die Institution – in diesem Fall die Oper in Naples…

… die es ja selber noch gar nicht so lange gibt. Und in der Tat planen Sie ja gerade die Errichtung eines neuen Opernhauses, was ein grossartiges Projekt ist.

Das war auch einer der Hauptgründe, warum ich das Angebot akzeptierte, die Künstlerische Leitung zu übernehmen. Denn auch wenn ich natürlich meine Erfahrung hier an der Wiener Staatsoper für mein Leben nicht vergessen werde, als ein Traum, der wahr geworden ist – aber was ich auch über alles liebe: ein Projekt zu entwickeln und dabei mitzuhelfen, wie etwas nach und nach wächst und grösser wird. In Naples begann alles erst vor ungefähr 10 Jahren, wir haben noch nicht einmal die Kinderjahre hinter uns gebracht, und als man mir dieses Angebot machte, haben wir sehr genau meine Pläne besprochen, die jetzt, trotz aller Beschränkungen, nach und nach Realität werden. So schlug ich zum Beispiel diese Akademie vor, denn ich bin davon überzeugt, dass weder ein Sinfonieorchester noch ein Opernhaus einfach nur da sein sollte, um einen Spielplan anzubieten… eher so, wie es bei den alten Meistern war, den Malern, die ihr eigenes Studio hatten, um dort ihre Erfahrung an ihre Schüler weiterzugeben. Mir gefällt diese Idee eines Lehrer-Schüler-Verhältnisses sehr, man lernt und arbeitet gleichzeitig…

… und es hat ja auch noch einen lokalen Aspekt, wenn ich es richtig verstehe: Sie halten ja vor allem auch Ausschau nach Begabungen in der direkten Umgebung.

Ja natürlich, denn letzten Endes sollte Kunst ja ein Ausdruck der Welt sein, die dort beginnt, wo wir uns selbst konkret befinden. Das ist wichtig für die Gesellschaft, und man muss ja auch noch berücksichtigen, dass in den Vereinigten Staaten all das auf Privatinitiativen basiert. Man erbittet also Geld und Unterstützung, und dann muss man auch direkt etwas zurückgeben. Das darf man natürlich nicht interpretieren als falschverstandenen Provinzialismus, was eine Gefahr ist, wenn Leute zu engstirnig sind. Aber ich glaube wirklich, wir müssen uns auf die Suche nach den Talenten machen, die für uns greifbar sind. In Valencia haben wir beispielsweise eine grosse Tradition bei den Blasinstrumenten, wir haben Musikvereine mit jahrhundertelanger Tradition, und es gibt Dörfer mit mehreren Blasorchestern, welche Rivalitäten miteinander austragen, die an Capuleti und Montecchi erinnern. Es gibt da so viel Talent und unglaubliches Potential, da muss man doch etwas an die Gemeinschaft zurückgeben, um dann auch wieder etwas zu erhalten. Das ist etwas anderes als eine Institution, die von der Regierung Geld erhält, um Aufführungen zu organisieren, die dann von anderen bestritten werden. Natürlich muss man dafür sorgen, dass die Meisterwerke weiterhin aufgeführt werden, aber wir haben daneben auch noch andere Verpflichtungen. Zum Beispiel in Valencia: einer unserer grössten Komponisten, Joaquín Rodrigo…

… mit seinem Concierto de Aranjuez…

…ja, eines der meistverkauften Musikstücke in der Geschichte überhaupt, stammte aus Valencia. Und das ist nur ein Beispiel unter vielen. Wir müssen daher auch Komponisten unterstützen, deswegen haben wir in Valencia zum Beispiel zum ersten Mal in der Geschichte einen „Composer in Residence“ ernannt, Francisco Coll. Er ist Mitte Dreissig, und hat schon Aufträge von Covent Garden, vom LSO unter Simon Rattle, vom Los Angeles Philharmonic Orchestra… und er stammt aus Valencia. In Spanien haben wir halt manchmal diesen Minderwertigkeitskomplex, dass wir uns dessen schämen, was wir haben, und alles, was von draussen kommt, ist immer besser. Aber das ist nicht überall so, und ich bewundere die Länder, die ihre Leute unterstützen.

Das bringt uns noch einmal zu Daniel Catán, einem Komponisten, der hier in Wien nicht sehr bekannt ist – am ehesten noch durch die bemerkenswerte Produktion von „Il Postino“ 2010 im Theater an der Wien, mit Plácido Domingo und Jesús López-Cobos. Sie haben ja „Rappaccini’s Tochter“ gemacht und „Florencia“, demnächst ja sogar noch ein weiteres Mal…

Ja, denn so sehr ich Mozart, Verdi, Wagner bewundere, so haben wir doch auch die Verantwortung, neuen Stücken wenigstens eine Chance zu geben. Dann soll das Publikum entscheiden, die Opernhäuser, die Orchester – die Zeit wird es zeigen, aber wir haben diese Verpflichtung, auch deutlich zu machen: da gibt es neue Musik, Musik für unsere Zeit. Ich hatte das Privileg, mit Catán persönlich zu arbeiten, im Jahr 2008 in Cincinnati. Wir haben dort „Florencia en el Amazona“ gemacht, und ich verbrachte beinahe einen Monat lang jeden Tag mit ihm, in der Arbeit am Klavier, mit den Sängern. Er machte viele Bemerkungen, und ich habe da sehr viel mehr über die Arbeit eines Komponisten verstanden. Deswegen habe ich auch so grossen Respekt davor, was ein Komponist mit seiner Partitur aussagen wollte, aber auch, dass man sich nicht immer sklavisch an sie halten muss. Denn ich habe gesehen, wie ein Komponist, beispielsweise eben Catán, mit Sängern arbeitet, und schon einmal sagt: kein Stress, sehen Sie, als ich das geschrieben habe, hatte ich den oder jenen anderen Sänger vor Augen, aber bei Ihnen funktioniert das nicht, also ändern wir diese Note hier, oder diese Phrase da…

Da ist sein Stück also wirklich wie ein Kind, dem er die Freiheit lässt, sich zu entwickeln…

Ja, genau. Heute dagegen bekommt man oft den Eindruck vermittelt, wenn man an einer Beethoven-Sinfonie nur eine Note ändert, bricht gleich die ganze Architektur zusammen. Ich glaube nicht, dass die Komponisten selbst auf diese Weise über Musik denken. Mahler schrieb einmal, er habe das jetzt so und so gemacht, aber wenn jemand in der Zukunft der Ansicht sei, man müsse etwas daran ändern, dann nur voran.

So ähnlich wie Mozart, der ja auch Händels „Messias“ bearbeitet hat…

Zum Beispiel, und Mozart selbst hat ja Arien geschrieben für ganz bestimmte Sänger, im Don Giovanni etwa, den er für Wien geändert hat, gleich mit einer ganz anderen Arie für Don Ottavio. Und auch von Beethoven wissen wir, dass er seine eigenen Werke jedesmal anders gespielt und sogar zu improvisieren begonnen hat. Hören Sie sich einmal die Welte-Mignon-Rollen an mit Carl Reinecke, dem Komponisten, wie der Mozart spielt und improvisiert, und zwar nicht nur ein Ornament hie und da, sondern ganze Takte lang. Und auch von Mozart wissen wir, dass er seine Musik nicht so spielte, wie er sie aufschrieb. Er war daran interessiert, dass seine Partituren verkauft wurden, deswegen musste sie so gemacht sein, dass man sie bei sich zu Hause spielen konnten. Aber er selber hat viel mehr Noten dazu gespielt…

… und das bringt uns noch einmal zur Oper zurück, wo man als Korrepetitor vor derselben Aufgabe steht: eine Partitur so zum Leben zu erwecken, dass die Essenz des Stückes transportiert, aber mit viel Freiheit drumherum.

Richtig. Dazu passt eine andere Erfahrung, die ich einmal mit Montserrat Caballé gemacht habe und die mich ziemlich schockiert hat. Ich hatte gerade das Konservatorium abgeschlossen, war also 18 oder 19, ganz jung, und wir probten eine Arie aus „Rita“ von Donizetti. Ich kannte die Arie nicht, und spielte also für sie, als sie plötzlich begann, eine Änderung nach der anderen einzubauen. Ganze Takte, ganze Phrasen, und das hat mich zunächst wirklich schockiert. Zuerst habe ich nichts gesagt, natürlich nicht, aber ich dachte mir: wie kann sie es wagen, all diese Sachen zu ändern, bei einem so berühmten Komponisten? Dann sagte ich ganz vorsichtig: sehen Sie, das ist aber doch so und so geschrieben, und sie meinte nur: Denkst Du nicht, Donizetti hätte das so für mich geändert? Damals dachte ich, das sei ja nun wirklich arrogant, aber dann las ich nach, und natürlich hätte er alles, alles geändert… Hätte Donizetti Montserrat Caballé getroffen, mit ihrer göttlichen Stimme, dann hätte er bestimmt gesagt: Montserrat, was hättest Du gerne, was brauchst Du, denn genau das hat er gemacht, mit der Malibran, mit der Colbran, mit all diesen Sängerinnen, alles geändert, was auch immer nötig war, damit es den Stimmen besser liegt. Das heisst, wir sind heute wirklich zu strikt…

…auch was etwa diese „Fächer“ betrifft? Norma zum Beispiel ist ja geschrieben für zwei Soprane, Pasta und Grisi, und wenn man solche Stimmen zur Verfügung hat, sollte man das doch so machen, und Adalgisa ist ja teilweise sogar oberhalb der Norma, wenn sie im Duett singen…

… was ja gar nicht geht, wenn man sie als Mezzo besetzt. Ja, das stimmt…

… und das haben wir ja letztes Jahr im Merker-Salon mit grossem Erfolg so gehört, und jetzt dann im Mai in derselben Besetzung mit Donizettis „Anna Bolena“.

Und da sind wir wieder bei Harnoncourt und Norrington. Harnoncourt hat ja sogar Bartok aufs Programm genommen, denn auch wenn man einmal damit angefangen hat, sich der historischen Aufführungspraxis zu widmen, heisst das ja nicht, dass man sich auf Mozart und Beethoven beschränken muss. Es geht vielmehr darum, wie man Musik versteht, und das betrifft alles. Natürlich haben wir Traditionen, und wenn wir eine Partitur aufschlagen, dann haben wir sofort so viele grossartige Aufnahmen im Ohr, in bester Qualität, und die Aufnahmen selbst sind ja schon Kunstwerke. Ich habe aber damit manchmal ein Problem, mit diesen Traditionen. Ich verehre Karajan beispielsweise, aber das bedeutet nicht, dass man alles genauso machen muss wie er, denn heute wissen wir so viel mehr, zum Glück. Für mich war es zum Beispiel eine echte Entdeckung, als ich auf Youtube eine Aufnahme der Fünften Beethoven unter Richard Strauss gefunden habe, aus den 1920er Jahren. Ich glaube nämlich nicht an diesen Grundsatz, dass man ein Tempo immer strikt durchhalten muss, von Anfang bis Ende, daran habe ich nie geglaubt, das schien mir immer unnatürlich, aber das war einfach Intuition. Später dann habe ich gelesen, dass das eben gar nicht immer und überall der Fall war, und so war diese Aufnahme für mich eine echte Entdeckung. Wenn man sie hört, kommen einem sofort Leute wie Harnoncourt und Norrington in den Sinn, was die Freiheit, die Flexibilität, die Tempi betrifft – Richard Strauss ist hier erstaunlich. Er macht riesige Accelerandi, und die Art und Weise, wie er atmet, zwischen den Fermaten,“ta-ta-ta-taaaa“ (Pause, Atem), „ta-ta-ta-taaaaaaa“ (Pause, Atem), ta-ta-ta-ta… Und das ist richtig so, denn dadurch gibt es Stille, da gibt es Atem dazwischen, Drama. Heute dagegen, wenn man vor einem Orchester steht, erwarten sie „ta-ta-ta-taaaaa-ta-ta-ta-taaaaaaaa“, ohne jeden Atem. Sehen Sie, und Strauss war natürlich viel näher dran an der Tradition, er kannte ja noch Leute, die Beethoven kannten…

… natürlich, und sein Vater sass als Hornist im Orchester, als „Tristan“ uraufgeführt wurde…

…ja, sehen Sie. Und als man Strauss fragte, welche Tempi man denn in seinen Opern wählen solle, war seine Antwort: versuchen Sie’s zu sprechen, und das ist das Tempo. Wenn man dann ein Stück weiter in seinen Beethoven hineinhört, dann gibt es da ein grosses Accelerando – in den letzten Jahrzehnten war das verboten, überall bekam man zu hören, es sei ein Fehler, während eines Crescendos das Tempo anzuziehen, und man ist dann ein schlechter Musiker. Nein, das stimmt nicht immer! Und dann beim zweiten Thema – heute nimmt man da normalerweise das Originaltempo, und alle Orchester erwarten das von einem. Aber nicht Strauss: er macht genau das, was Beethoven im Sinn hatte, wird breiter, und genau darum geht es. Jede Phrase hat einen unterschiedlichen Charakter, und sogar eine andere Rolle. Mozart hat deshalb seinem Vater einmal geschrieben, über einen Pianisten, der ihm nicht gefallen hat: wenn er nicht weiss, wie meine Opern gespielt werden müssen, kann er auch meine andere Musik nicht verstehen. Und Ton Koopman, mit dem ich oft Meisterklassen gemacht habe als Pianist, hat einmal von Zeitzeugen erzählt, die Bach beim Improvisieren beobachtet hätten, wenn er seine Fugen spielte, und er war dabei sehr theatralisch – überhaupt nicht steif, sondern mit vielen Gesten, und sogar Liszt: es gibt Überlieferungen, die berichten, wie er die letzten Töne seiner h-moll-Sonate spielte, die ja das Böse vorstellen, dass er dann, am Klavier sitzend, seinen Mantel mephisto-mässige vor das Gesicht warf. Das zeigt natürlich, wie sehr er in Bildern dachte, aber in einer Musik ohne Worte. Deshalb, obwohl ich Toscanini sehr bewundere, glaube ich doch nicht, dass die Fünfte Beethoven einfach nur „allegro con brio“ gespielt gehört. Da ist viel mehr darin enthalten, Drama, Schicksal, wenn man das so nennen will, jemand, der um sein Leben läuft… Das ist es, glaube ich, worum es geht, und das ist für mich das Wesen der Musik – sonst wird sie uninteressant.

Maestro Tebar, herzlichen Dank, muchas gracias, und alles Gute für die weiteren Vorstellungen!

 

 

 

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