Ragna Schirmer spiels Bachs „Goldberg-Variationen“ beim Label belvedere/
Tiefe und geistiger Ausdruck
Die Goldberg-Variationen von Johann Sebastian Bach sind ein großartiges Beispiel für Variationskunst. Der Name bezieht sich auf Johann Theophilus Goldberg, einen begabten Schüler Bachs und Hauspianisten von Graf Hermann Carl von Keyserling, dem ehemaligen russischen Gesandten am kursächsischen Hof in Dresden.
Während der Corona-Pandemie führte die Pianistin Ragna Schirmer das Werk für ein kleines Publikum auf. Die Goldberg-Variationen seien für sie wirklich ein Lebensbegleiter. Sie spiele sie schon seit ihrem 14. Lebensjahr. Deshalb habe sie sie technisch schon beherrscht, bevor sie das Ausmaß und die Tiefe dieser Musik zu ahnen begann. Sie habe damals ihre Lehrerin mit dem Wunsch genervt, große Werke zu spielen. „Dann lern doch die Goldberg-Variationen“, habe diese gesagt. Sie habe gemerkt, dass es ihr damit ernst war, als sie mit der Aria und den ersten fünf Variationen angekommen sei. Seitdem betrachte sie diese Variationen immer wieder neu. Dies merkt man auch dem vorliegenden Album an, das stark verinnerlicht wirkt. Es gebe Konzertveranstalter, die sich dieses Werk alle paar Jahre von ihr wünschen würden. Es habe für sie nach der Corona-Pause gar keine andere Möglichkeit gegeben, wieder mit den Goldbergvariationen anzufangen. Die zyklische Abfolge von Geburt und Tod, Anfang und Ende sowie Struktur sei für sie ein lebendiger Kosmos. Geschlossenheit und Buntheit ergebe ein Spannungsverhältnis. Da sei so viel Architektur drin mit der gleichzeitigen Drei- und Zweiteilung.
Da die Zuschauerzahlen aufgrund der Pandemie stark minimiert waren, wollte Ragna Schirmer ihre Konzerte öfter spielen. „Und da mich die Goldberg-Variationen schon mein ganzes Leben lang begleiten, schienen mir dreißig Variationen für dreissig Zuschauer ein griffiges Format zu sein“, ergänzt die Pianistin. Bei der CD-Aufnahme schimmert deutlich die ungewöhnliche Bach-Expertin durch. Es gelingt ihr, einen großen Spannungsbogen zu schaffen, dessen geistiger Überbau beeindruckt. Das Thema der Variationen im ruhigen Dreiviertelrhythmus einer Sarabande zeigt sich hier in seinem unglaublichen Verzierungsreichtum und seinen geheimnisvollen Konturen. Dies betrifft vor allem die Nähe zum Fundament der Passacaglia. Jede dritte Variation als zweistimmiger Kanon über freiem Bass zeigt hier einen bemerkenswerten Klangfarbenreichtum. Es sind kanonische Variationen voller Glanz. Charakterstücke wie Siciliano, Fughetta, lyrisches Andante und pathetisches Adagio entfalten dabei eine ungewöhnliche Brillanz und Ausdruckskraft. Sprünge, Doppeltriller und Akkord-Vibrato besitzen starke Intensität. Auch der kapriziöse Charakter der 17. Variation kommt nicht zu kurz – und auch die Staccati der 20. Variation wirken nicht einfach hingetupft, sondern besitzen einen großen Hintersinn und eine erstaunliche Leichtigkeit. Und die 21. Variation mit ihrem dissonanten Intervall der Septime zeigt ebenfalls einen enormen Charakterisierungsreichtum. Satztechnisch ist die 23. Variation sicherlich ein Höhepunkt, den Ragna Schirmer auskostet. Die Aria gewinnt bei ihr in jedem Fall eine lyrische Schönheit, die einen tiefen Eindruck hinterlässt.
Alexander Walther