RAFFAELLA LUPINACCI: „In Pesaro lernte ich das Wesen der Oper kennen“
Raffaella Lupinacci. Fotocredit: Chiara Mirelli
Die italienische Mezzosopranistin Raffaella Lupinacci über ihr Debüt an der Oper von Amsterdam als Giovanna Seymour in „Anna Bolena“, den Belcanto im Allgemeinen und speziell Rossini, dem sie den Start ihrer Karriere beim Rossini Opera Festival in Pesaro zu verdanken hat.
Wie entstand Ihre Liebe zum Gesang? Erinnern Sie sich an die erste Oper, die Sie im Theater gesehen haben?
Die Liebe zum Singen habe ich meinem Vater und seiner Leidenschaft für Musik im Allgemeinen zu verdanken, die er an mich weitergetragen hat. Ich komme zwar nicht aus einer Musikerfamilie, aber sicherlich aus einer Familie, die alles liebt was schön ist. Die erste Oper, die ich im Theater sah, war eine „Carmen“ im Theater Rendano in Cosenza. Ich war 13 Jahre alt, total fasziniert und gleichzeitig beeindruckt von dieser Art von Kunst, die so allumfassend ist. Ehrlich gesagt hätte ich mir in diesem Moment nicht vorstellen können, dass ich eines Tages selbst die Rolle der Carmen singen würde.
Sie stehen kurz vor einem wichtigen Termin, Ihrem Debüt an der Dutch National Opera als Giovanna Seymour in „Anna Bolena“. Was ist Ihre Meinung zu diesem Charakter, sowohl aus einem stimmlichen Blickwinkel als auch aus der Sicht einer Schauspielerin? Finden Sie nicht, dass diese Frau ein wenig heuchlerisch ist? Wie schafft man es sie so darzustellen, dass sie vom Publikum nicht als Verräterin und Heuchlerin betrachtet wird?
Die Rolle der Giovanna Seymour stellt gerade einen Mezzo vor viele Herausforderungen. Stimmliche Herausforderungen an erster Stelle: Es handelt sich um eine Rolle, die eine enorme Kontrolle über die Stimme erfordert und was die Tessitura angeht extrem hoch liegt. Die Herausforderung besteht darin, den Atem zu kontrollieren und alle vom Komponisten geschriebenen Farben und Intentionen wiederzugeben, ohne die Natürlichkeit der Stimme zu opfern. Ebenso interessant ist sie aus darstellerischer Sicht. Man kann diesen Charakter auf verschiedene Art und Weise lesen und darstellen. Laut der Literatur ist Giovanna eine gute Person. Und ich glaube auch, dass sie das ist. Aber sie ist auch eine ehrgeizige und willensstarke Frau, trotz der Schuldgefühle gegenüber Anna; Schuldgefühle, die sie ständig begleiten. Daher ist es mein Ziel, einen sanften, sinnlichen, willensstarken und gequälten Charakter auf die Bühne zu bringen.
Wenn man Ihr Repertoire betrachtet, sticht ein Fokus auf den Belcanto ins Auge. Was gefällt Ihnen an diesem Repertoire so gut?
Ich liebe die Eleganz und die Herausforderungen dieser Rollen. Es ist ein Repertoire, das eine tiefe Beherrschung der Stimmtechnik und die Fähigkeit erfordert, große Gefühle und Leidenschaft mit Klasse und Spontaneität auszudrücken. Da ist kein Platz für irgendwelche Vulgaritäten. Außerdem finde ich, dass dieses Fach sehr gut zu meiner Stimme passt.
Fotocredit: Chiara Mirelli
Verraten Sie uns bitte mehr über die Belcanto-Rollen, die Sie interpretiert haben, von Cenerentola über Leonora in „La favorite“ bis hin zu Adalgisa in „Norma“.
Ich durfte schon verschiedene Belcanto-Partien singen und dabei habe ich eine besondere Vorliebe für die Rollen Donizettis und Bellinis entwickelt. Die weiblichen Charaktere im Belcanto haben viel Temperament und außergewöhnliche menschliche Tiefe. Eigenschaften, die mal mit großen, ausgedehnten Phrasen, dann wieder weich und delikat bis hin zu aufgeregten Kolotaturpassagen in Musik gesetzt werden. Ich denke, Rossini verdient hier eine separate Betrachtung. Rossinis Rollen erfordern größere Körperspannung und eine besondere Leichtigkeit. Die Agilità steht bei diesem Repertoire im Mittelpunkt. Die Herausforderung besteht darin, alle Noten, die Rossini geschrieben hat, mit extremer Sauberkeit, Weichheit und Brillanz zu singen. Rossinis Welt ist ausgesprochen faszinierend und ich bin ihr sehr verbunden.
Können Sie uns von Ihren Erfahrungen beim Rossini Opera Festival erzählen?
Ich verdanke dem Rossini Opera Festival den Beginn meiner Karriere. Im Jahr 2012 war ich so privilegiert, mit Maestro Alberto Zedda, einer fundamental wichtigen Persönlichkeit in meinem künstlerischen Leben, Studentin der Rossini-Akademie zu sein. Anschließend kehrte ich für mehrere aufeinanderfolgende Jahre nach Pesaro zurück und werde 2023 mit der wunderschönen Rolle des Arsace in „Aureliano in Palmira“ dort wieder auftreten. In Pesaro lernte ich das Wesen der Oper kennen. Ich lernte den Rossini-Stil, verliebte mich in den Belcanto und hatte das Glück, große Persönlichkeiten dieses Repertoires auf der Bühne beobachten zu können und die Spannung zu atmen, die man nur in derart große und wichtigen Institutionen atmet. Das Rossini Opera Festival ist einer der Gründe, warum ich stolz bin, Italiener zu sein.
Bleiben wir bei Rossini. Denken Sie, dass Ihnen stimmlich auch die Rollen „en travesti“ wie Tancredi liegen würden, oder wird es Ihnen vielleicht in Zukunft möglich sein, auch Colbran-Rollen zu singen, die letztendlich für eine Stimme geschrieben sind, die man heute als hohen Mezzosopran bezeichnen würde? Kurz gesagt, fühlen Sie sich eher nach Arsace oder Semiramide?
In der Vergangenheit, zu Beginn meiner Karriere, habe ich Tancredi gesungen. Das ist eine Rolle, die zweifellos für einen Alt geschrieben wurde. Ich finde aber, dass meine Stimme auf jeden Fall besser für die sogenannten Colbran-Rollen geeignet ist. Tatsächlich werde ich in der nächsten Saison als Desdemona beim Belcanto-Festival in Tokio debütieren. Ich fühle mich sicherlich viel mehr Semiramide als Arsace, viel mehr Elena als Malcolm, viel mehr Anna als Calbo.
Was wäre Ihre Partitur für eine einsame Insel?
Es ist schwierig, diese Frage zu beantworten. Ich liebe die meisten Rollen, die ich gesungen habe, aber die Stimme verändert sich im Laufe der Zeit. Neue Wege öffnen sich und manchmal verschließen sich dabei andere. Die Rolle, die mir emotional am Herzen liegt, ist sicherlich die der Donna Elvira in „Don Giovanni“, die ich immer wieder gerne und mit großem Enthusiasmus singe. Jedes Mal, wenn ich sie singe stellt sie mich vor neue Herausforderungen. Das finde ich sehr aufregend und anregend zugleich.
Wenn Sie Ihre Opernsaison selbst gestalten könnten, welche Werke und welche Rollen würden Sie in einer solchen Spielzeit singen?
Alle Belcanto-Rollen und außerdem würde ich einige Partien aus dem französischen Repertoire hinzufügen, wie zum Beispiel Charlotte in „Werther“.
Was machen Sie, wenn Sie nicht auf der Bühne stehen oder neue Rollen lernen?
Ich lese gerne, schaue gerne Filme, verbringe Freizeit mit meinen Freunden und mit meiner Familie, mache lange Spaziergänge und genieße die Natur. Ich bin in Kalabrien aufgewachsen und habe die Sommer meiner Kindheit auf dem Land bei meinen Großeltern verbracht: Ich suche immer diese Welt und diese Gelassenheit.
Ihre nächsten Engagements?
Ich werde als Romeo in „I Capuleti e Montecchi“ in Vilnius debütieren, dann werde ich für mein Desdemona-Debüt in Rossinis „Otello“ nach Tokio fliegen und anschließend nach Brüssel zurückkehren, wo ich die Rollen der Giovanna Seymour und Sara in „Roberto Devereux“ in dem brandneuen Projekt namens „Bastarda“ singen werde. Dann werde ich mit der Rolle des Arsace in „Aureliano in Palmira“ zum Rossini Opera Festival zurückkehren.
Isolde Cupak im Mai 2022