Online Merker Logo

Die internationale Kulturplattform

PRAG/ Ständetheater: LOLITA von Rodion Shchedrin. Premiere

06.10.2019 | Oper

Rodion Shchedrin: „Lolita“ (Premieren am 3 & 5.10.2019 im Prager Ständetheater)

Rodion Shchedrins Oper „Lolita“ erlebte erst wenige Produktionen. 1992 als Auftragswerk des weltberühmten Cellisten und Dirigenten Mstisilav Rostropovich komponiert, ließ sich die Uraufführung an der Pariser Bastille-Oper nicht realisieren, so dass das Werk 1994 an der Königlichen Oper in Stockholm (in schwedischer Sprache, unter Rostropovich) erstmalig zu sehen war. Zu hören war es dann in konzertanter Form 2008 beim Rostropovich-Festival in Samara und am Mariinsky-Theater, beide Male unter Leitung Valery Gergievs, bevor es erst 2011 die nächste szenische Produktion in Wiesbaden gab (in deutscher Sprache). Erstaunlicherweise unterschlägt der deutsche Verleger des Komponisten, dass es zwei weitere Inszenierungen gab: 2003 in Perm und 2004 an der Novaya Opera, Moskau. Somit ist die Prager Produktion außerhalb Russlands erst die dritte und die erste in russischer Sprache.

In einem Interview erzählte Rodion Shchedrin, dass für die Stockholmer Premiere die Bewerberinnen für die Titelrolle ihm und dem Dirigenten im Badeanzug vorsingen mussten. Verständlich, dass man für Lolita, die in Vladimir Nabokovs Romanvorlage zu Beginn der Handlung 12 Jahre alt ist, keine Sängerin mit der Figur einer Wagner-Heroine haben wollte. Diesbezüglich brauchte man bei der Prager Lolita keine Bedenken zu haben.


Pelageya Kurennaya (Lolita) und Piotr Sokolov (Humbert). Foto: Petr Hornik

PELAGEYA KURENNAYA, die am St. Petersburger Mariinsky-Theater so etwas wie eine Shchedrin-Spezialistin ist, ist ein wahrer Glücksfall für diese Produktion. Von Figur und jugendlicher Ausstrahlung her nimmt man ihr völlig die Kindfrau ab, der der ältere Literaturprofessor Humbert Humbert verfällt, so dass sie Lolita nicht zu spielen braucht – sie ist Lolita! Eine eindringliche, ausdrucksstarke, faszinierende stimmschauspielerische Leistung, die den Zuschauer mit auf die Reise nimmt von der Verführten / Verführenden des Beginns bis hin zur an der Geburt ihres Kindes Sterbenden des Endes der Oper.

Stimmlich war Pelageya Kurennayas Leistung gleichfalls makellos. Die Vorstellungen des Komponisten erfüllend, war sie ein junger lyrischer Sopran mit Koloratur mit einem ganz aparten Timbre von hohem Wiedererkennungswert. Gewohnt, sich in ihren anderen Shchedrin-Rollen (Zamarashka in „Christmas Tale“, Floh in „The Lefthander“) in Pianissmo-Höhensphären zu bewegen, schien sie es zu genießen, dass der Komponist ihre Rolle in einer „normaleren“ Tessitura geschrieben hatte. Mit ihrem rollengemäß fragil geführten Sopran (viele Höhen-Pianissimi), der aber tragfähig genug war, um klar über das Orchester zu kommen, war sie von Stimme wie Ausstrahlung eine ideale Lolita.            


Piotr Sokolov (Humbert) und Pelageya Kurennaya (Lolita). Foto: Petr Hornik

Es machte den Rang dieser Aufführungen aus, dass es dem Prager Nationaltheater gelungen war, ein ausgesprochen homogenes Stückensemble für diese Neuinszenierung zu verpflichten. Humbert Humbert war mit dem Russen PETR SOKOLOV besetzt, zu dessen aktuellem Repertoire solche Kavaliersbaritonpartien wie Posa, Yeletsky oder Barbiere-Figaro gehören. Mit seinem angenehmen, wohlklingenden Material fand ich ihn mehr vokal als darstellerisch überzeugend. Anfangs zu zurückhaltend, zu steif, gewann er als Schauspieler erst im zweiten Teil mehr an Profil, in dem er nach dem Unfalltod von Lolitas Mutter mit seiner Stieftochter durch die USA reist, um sie letztendlich zu verlieren. Beide Protagonisten hatten die Aufgabe übernommen, ihre umfangreichen, vokal wie emotional belastenden Rollen mit nur einem Tag Pause an beiden Premierenabenden singen zu müssen. Kompliment, dass es ihnen gelang, ihre Leistung ohne Abstriche zu wiederholen, sie sogar (Kurennaya) noch zu steigern.

Die anderen beiden Protagonisten, Lolitas Mutter Charlotte und der Filmproduzent Clare Quilty, waren alternativ mit russischen (3.10.) und tschechischen (5.10.) Interpreten besetzt. Beide Charlotte-Sängerinnen, DARIA ROSTISKAYA wie VERONIKA HAJNOVÁ, besaßen dieselbe attraktive Ausstrahlung der Frau, die von Humbert als die „schlechteste Version von Marlene Dietrich“ bezeichnet wurde, während die russische Mezzosopranistin noch ein gewisses Plus dadurch hatte, dass sich diese Sinnlichkeit auch im Timbre widerspiegelte.


Der Komponist mit seinen beiden Protagonisten. Foto: Archiv Sune Manninen

Mit Clare Quilty, dem mehr an Jungen als an Mädchen interessierten, dazu impotenten Filmproduzenten, der Lolita in Pornofilmen spielen lässt, hatte man zwei Sänger betraut, die sich ihrer Partie von total gegensätzlichen Polen näherten: mit dem russischen Charaktertenor ALEXANDER KRAVETS und dem tschechischen Tenor ALE BRISCEIN, der ein weit gefächertes Repertoire von Mozart bis hin zum Lohengrin singt. Beide meisterten auf ihre Art die vertrackt hoch notierte Tessitura ihrer Rolle gleichermaßen hervorragend. Von der Regie in der Darstellung grotesk überzeichnet, wurde zumindest mir nicht klar, warum Lolita von Quilty (in den englischen Obertiteln) singt: „Quilty broke my heart, Humbert broke my life“. Eine frühreife Nymphe, die ihren Stiefvater geradezu zum ersten Sex mit ihm provoziert, sollte sich ihr Herz von diesem Monster Clare Quilty brechen lassen?

Die diversen Episodenrollen waren mit tschechischen Künstlern besetzt, von denen besonders die Damen mit klangvollen Stimmen auffielen.

Der Erfolg dieser Neuinszenierung hatte an beiden Abenden viele „Väter“. Natürlich abgesehen von der Komposition des beide Male anwesenden Komponisten und dem gut abgestimmten Solistenquartett war es die musikalische Leitung der Aufführung, die begeisterte. Shchedrins Komposition bedeutet harte Arbeit für alle, auch für die Zuhörer. Seine erste Oper („Not Love Alone“) und seine letzte („A Christmas Tale“) sind mit Sicherheit vergleichsweise eingängiger, einfacher wiederzugeben, aber auch einfacher zu „verdauen“. Es war faszinierend mitzuerleben, wie der junge Dirigent SERGEY NELLER, 2016 Gewinner des 2. Preises beim Gustav-Mahler-Dirigierwettbewerb, Bühne und Graben schlagtechnisch perfekt zusammenhielt, jeden Sänger mit exakten Einsätzen bedenkend und die ebenso komplexe wie kompakte Partitur so auffächerte, dass sie nie das Bühnengeschehen dominierte. Ich bin sicher, dass dieser Dirigent, der auch Pianist und Komponist ist (u.a. von zwei Opern) am Anfang einer großen Karriere steht. Es wird interessant sein, seinen Weg zu verfolgen.


Dirigent Sergey Neller, Lolita Pelageya Kurennaya und Regisseurin Sláva Daubnerová. Foto: Archiv Sune Manninen

Wie in Wiesbaden 2011 war die szenische Umsetzung auch in Prag einer Frau anvertraut, der Regisseurin SLÁVA DAUBNEROVÁ. Shchedrins Oper ist nicht nur musikalisch, sondern auch szenisch schwierig zu realisieren, die Erzählebene ständig wechselnd, zwischen der Retrospektive (das Stück beginnt bei Shchedrin mit der Gerichtsverhandlung, in der Humbert Humbert zum Tode verurteilt wird) und der Gegenwart der Handlung. Viele kurze, kleinformatige Szenen erfordern eine Bühnenbildlösung, die raschen Szenenwechsel zulässt. Dies ist dem Team um Sláva Daubnerová maßstäblich gelungen: BORIS KUDLIĈKA (Bühnenbild), NATALIA KITAMIKADO (Kostüme) und den für die Videoart verantwortlichen DOMINIK ŽIŽKA und JAKUB GULYÁS. Durch den Kunstgriff der Videoprojektionen konnte Frau Daubnerová meisterhaft, die verschiedenen Ebenen zu verklammern. Sie formte aus jeder Rolle in der Personenführung klar umrissene Charaktere, und wenn das Buch wie auch die Oper von Sex handeln, so gibt es im ganzen Stück im Grunde nur zwei „Sexszenen“, die von dieser Regisseurin wohltuend dezent, äußerst geschmackvoll, nicht voyeuristisch umgesetzt wurden, wenn Lolitas „Footjob“ bei Humbert eine Ejakulation verursacht bzw. wenn Lolita ihren Stiefvater so lange reizt, bis dieser nicht an sich halten kann und sie vergewaltigt.

Das Stück sowie seine musikalische wie auch szenische Umsetzung übten eine ungeheure Faszination aus, bewegten mich tief und machten es mir schwer, mit in den Jubel einzustimmen, der mir am zweiten Abend die heimischen Künstler patriotisch etwas bevorzugend vorkam. In der ersten Premiere blieben nach der Pause diverse Plätze leer, bei der zweiten schon von Anbeginn. Trotzdem: diese beiden Aufführungen hinterließen bei mir einen unauslöschlichen Eindruck, ebenso hörens- wie sehenswert.  Der Komponist kann hoch zufrieden sein, solch ideale Interpreten für SEINE Lolita gefunden zu haben. Bravi tutti!

Sune Manninen

 

Diese Seite drucken