“Come il mare profonda ed infinita” – La Bohème an der Prager Staatsoper, Aufführung vom 26.12.2023
Ohne Frage ist Puccinis Oper über das Leben und Leiden der jungen Künstler im Quartier Latin eine der klassischen Weihnachtsopern schlechthin. Und zwar nicht trotz, sondern wegen des tragischen Todes von Mimí, denn mit La Bohème zeigt Puccini eindringlich auf, daß jede echte Liebe das Leben lohnt, egal wie kurz sie währt und wie tragisch sie endet – ohne die Liebe gefühlt und erlebt zu haben ist alles nichts: „La più divina delle poesie è quella, amico, che c’insegna a amare“!
Die Staatsoper Prag gibt das Werk in der Inszenierung von Ondřej Havelka aus dem Jahr 2008, welche sich zurecht noch immer auf dem Spielplan findet. Denn die Produktion erinnert in ihrem Detailreichtum an die Ur-Version von Franco Zefirellis Bohème, hat jedoch das leicht Patinöse abgelegt und macht die Geschichte damit für heutige Zeiten greifbarer. So sehen wir Löcher unter den Ärmeln von Schaunards Mantel, passend zu dem Tiefparterre, in dem die Künstler hausen und vor Beginn des 1. Akts durch die Vibration der Stadtbahn geweckt werden und sprichwörtlich aus dem Bett fallen. Auch im Zusammenspiel der Künstler lässt sich ein zwangloses Miteinander feststellen und mit jedem Hinzukommen eines weiteren, steigert sich dieses in ein heiteres, unbeschwertes Spiel, welches die Armut ringsherum nicht nur ignoriert, sondern durch die künstlerische Phantasie von Rodolfo, Marcello, Colline und Schaunard ersetzt. Die kahlen Ziegelwände des Tiefparterres werden so zu Projektionsflächen der Phantasie der Charaktere.
Im 2. Akt wird bei Momus wird der an seiner grünlichen Farbe erkennbare Absinth getrunken, zahlreiche Spielzeuge sind bei Parpignol identifizierbar und auch allgemein erinnert das Bühnenbild des 2. Akts an ein impressionistisches Gemälde: Das Café Momus lehnt sich an die Plakate Toulouse-Lautrecs an, der im Hintergrund zu sehende Eiffelturm ist von Sternen umringt, die aus van Goghs Sternennacht entnommen sind. Zwischen der Menge der Statisten sind ebenso Aufsteller von Charakteren aus Gemälden Degas‘ und Manets montiert. Rodolfo und Mimì kommen aus dem Publikum auf die Bühne gestiegen – eine geschickte Einbindung des Publikums ins Geschehen, die uns vollkommen in das Quartier Latin der Belle Epoque mit hinein nimmt. Und auch im 3. Akt zitiert Herr Havelka bekannte Motive jener Zeit: Marcello und Musetta verweilen im „Cabaret Mer Rouge“, hier ist die Anlehnung an das Moulin Rouge klar erkennbar, das Bühnenbild nutzt erneut die gleiche Formensprache wie Toulouse-Lautrec in seinen berühmten Plakaten und spielt gleichzeitig auf den ersten Akt an, in welchem Marcello an seinem Gemälde „Der Durchgang durchs Rote Meer“ arbeitet. So wird dann zu Beginn des vierten Aktes die Heiterkeit der Künstler in ihrem Tiefparterre wieder aufgegriffen und Herr Havelka lässt noch einmal sein durchdachtes Konzept der Charakterzeichnung zum Zuge kommen: Selten sind die so unterschiedlichen Charaktere der Bohème so präzise herausgearbeitet, die Motive ihres Handelns und Wollens werden deutlich verständlich. Keine hineininterpretierte Psychoanalyse, kein erdachte Sozialkritik. Die daraus resultierenden Perspektiven auf die Geschichte zeigen einmal mehr, dass jede handwerklich gut gemachte und werktreue Produktion jedwedem Regietheater-Experiment vorzuziehen ist. Denn so bilden Musik und Bühne eine wunderbare Einheit, die ein Werk in seiner Gesamtheit erst vollkommen für das Publikum öffnet. Bravo, Ondřej Havelka!
Bechzod Davronov greift mit seinem Hausdebut als Rodolfo dieses Konzept bestens auf, tatsächlich sehen wir hier einen hochsensiblen Schriftsteller, dessen Figur nicht nur klischeehaft heruntergeleiert wird. Dieser Rodolfo ist ein junger, lebenslustiger Mann, der selbst Unmengen an Liebe und Zärtlichkeit zu geben hat und aus der sensitiven Wahrnehmung des Lebens seine Energie schöpft. So fährt der stimmlich angenehm ausbalancierte Tenor Herrn Davronovs nach dem Zusammentreffen mit Mimì dann auch zu Hochtouren auf und erinnert stimmlich ebenfalls an den Farbenreichtum eines impressionistischen Gemäldes. Spätestens bei „Per sogni e per chimere e per castelli in aria l’anima ho milionaria” entführt er uns mit bester Italianità gänzlich in die Gefühlswelt Rodolfos. In feinstem Legato beherrscht er sowohl Forti als auch Pianissimi, überzeugt durch herrlichen Schmelz, der gleichzeitig voller Leidenschaft und Lebensfreude strotzt und balanciert dabei exakt auf jenem schmalen Grat, der nicht in den Kitsch abgleitet, aber ein Höchstmaß an Gefühl ausdrückt. Gleichzeitig werden wir eindringlich Zeuge dessen, wie sich dieser Rodolfo im dritten Akt versucht, seine Trauer im Alkohol zu ertränken. Er hat die Krankheit Mimìs bereits in ihrem vollen Ausmaß bemerkt und versucht alles, von der Benebelung seiner Sinne bis hin zum Selbstbetrug, um sich das daraus resultierende Leid zu ersparen. „Chi nel ber trovò il piacer nel suo bicchier, d’una bocca nell’ardor trovò l’amor” – Nur leise klingt das Trinklied aus dem Cabaret und erinnert an die Sorglosigkeit vergangener Tage. Wunderbar, wie facettenreich die Inszenierung hier vorgeht und wie auch Herr Davronov die Höhen und Tiefen der Emotionalität Rodolfos lebendig macht. Seine Mimì-Rufe zum Ende des 4. Aktes gehen voll ins Herz, diese Stimme gilt es in Zukunft auf der Rechnung zu haben, bravo, bravissimo Bechzod Davronov!
Eine ideale Ergänzung bildet dabei Kateřina Kněžíková als Mimì, die vom ersten Auftritt an nicht nur durch eine unfassbar gute Technik überzeugt. Ihr gelingt es dabei insbesondere leise Partien mit unglaublich viel Emotion zu füllen, was eben gerade bei der Rolle der Mimì so wichtig ist. Wenn sie dann bei „Sì mi chiamano Mimì“ vom ersten Kuss der April-Sonne singt, fühlen wir uns tatsächlich von ihr zumindest akustisch geküsst und sind hellwach wenn „O soave fanciulla“ zu einem Moment reinen musikalischen Glücks wird, in dem Frau Kněžíková und Herr Davronov zu absoluter Höchstform auflaufen. Wieder einmal mehr zeigt sich, welchen Unterschied eine solide Stimmausbildung macht. Auch ausreichend Proben waren hier die Grundlage, um die Stimme Frau Kněžíkovás voll zum Wirken zu bringen. Ihr leicht dunkel timbrierter und doch kristalliner Sopran kann so bei den fröhlichen Szenen und Mimìs aufblühender Liebe genauso sehr strahlend funkeln, wie er bei ihrem nahenden Tod in zunehmende Düsternis verfällt. Wir spüren Mimìs intensive Sehnsucht nach dem Leben und auch die Angst vor dem Tod bei „Mentre a primavera c’è compagno il sol“ und ihre Erleichterung wenige Takte später bei „Vuoi che aspettiam la primavera ancor?“. Es ist die Hoffnung nach einem erfüllten Leben, die sich hier noch einmal bei Mimì empor schwingt und die hier meisterlich begreif- und fühlbar gemacht wird. So ist dann auch die Liebeserklärung an Rodolfo kurz vor ihrem Tod ein inniger, hoch emotionaler, ja privater Moment. Dabei strahlt Frau Kněžíkovás Stimme regelrecht von innen und zeigt, dass es jene kurze Liebe zu Rudolfo ist, die Mimìs Leben mit unglaublichem Glück erfüllt hat: „Ho tante cose che ti voglio dire, o una sola ma grande come il mare, come il mare profonda ed infinita… Sei il mio amor…e tutta la mia vita.” – brava!
Der romantisch-tragischen Ausrichtung des Paars Mimì und Rodolfo, steht das emotional-feurige Paar Musetta und Marcello gegenüber und feurig ist diese Kombination tatsächlich: Wenn Vera Talerko die Bühne im zweiten Akt die Bühne betritt, richten sich alle Augen tatsächlich umgehend auf sie. Mit außerordentlicher Dynamik und herausragender Spielfreude ist diese Musetta die wohl intensivste und leidenschaftlichste, die wir bislang überhaupt erlebt haben. Da fliegen Tablette über die Bühne und eigentlich fehlen nur noch ausgeteilte Ohrfeigen, um dieses Erlebnis abzurunden. Frau Talerko zeigt eine Frau, die bewusst eine Femme Fatale sein will und mit jeder Koketterie spielt, um sich ihren emanzipierten Status sichern zu können: Unabhängigkeit von Männern und Freiheit im eigenen Tun – egal um welchen Preis! „Quando m’en vo“ wird somit zu einem kraftvollen Spektakel, dem Frau Talerko auch stimmlich mehr als nur gewachsen ist. Die Arie gleicht einer rasanten Achterbahnfahrt, wobei sie niemals ins Schrille kippt und stimmlich tatsächlich ein Spiel zwischen süßlicher Verführung und expressivem Wollen anzustimmen weiß. Auch hier werden wir wieder Zeuge einer wirklich guten gesanglichen Technik, die weiß, wie weit sie die Ungezähmtheit der Rolle gehen lassen darf und dabei die Grenzen der Sauberkeit niemals überschreitet. Hinzu kommt der verlockende Klang von Frau Talerkos Sopran, der das Bild der Verführerin bestens abrundet. „Sirena“ ruft Marcello am Ende von Musettas Spektakel aus und treffender kann diese Musetta nicht beschrieben werden, denn es fällt uns noch schwerer als den Argonauten ihr nicht zu verfallen und wir wollen wie Butes in die klanglichen Fluten springen um auf den Wellen ihre Gesangs zu ihr zu schwimmen – Bravissima Vera Talerko!
Umso bemerkenswerter ist die Leistung von Jiří Brückler der sich neben diesem stimmlichen Kraftpaket nicht nur behaupten, sondern mit seinem fülligen Bariton durchaus Konter geben kann. Bereits im ersten Akt beweist er bei „abbasso l’autor“, welch großes Stimmvolumen in seinem Bariton steckt. Entsprechend fliegen im stimmlichen Duell mit Musetta tatsächlich die Fetzen und Herr Brückler leistet sich mit Frau Talerko ein Liebesdrama der Extraklasse, das eine unbändige Freude erzeugt. Ohne Zweifel ist dieser Mann Musetta noch mehr verfallen als alle anderen, er kann nicht mit ihr, aber auch nicht ohne sie. Dennoch gelingt es ihm zu Beginn des 4. Aktes wieder ein Gefühl der grundlegenden Heiterkeit aufzubauen und im Anklang an die jugendliche Leichtheit des 1. Aktes dieses Gefühl mit seiner vollen Stimme wieder zu erzeugen. Unterstützt wird er dabei durch eine noch größere, da jugendlichere Heiterkeit Schaunards, ebenso fabelhaft von Lukáš Bařák umgesetzt: Dieser hat die Rolle des Musikers als „Side-Kick“ in der Künstlergruppe ausgezeichnet verinnerlicht, wir wähnen uns fast in einer Opera Buffa als er im 4. Akt auf dem Esstisch Klavier spielt. „Mi sia permesso – al nobile consesso…“ Ein unverbesserlicher Optimist, dem auch stimmlich nur Positives abzugewinnen ist. So ergibt sich aus dem Duo Marcello und Schaunard ein weiterer Blickwinkel: Wir sehen jeweils einen älteren, gereiften und einen jüngeren, unbedarften männlichen Stereotyp. Der eine der sich jugendlich in seiner Kunst verliert und der andere, der seine Selbstverwirklichung in einem bestimmten Frauentypus sucht – zitiert hier Puccini aus seinem Leben? Beide liefern jedenfalls eine wunderbare Leistung an diesem Abend, Bravi Jiří Brückler und Lukáš Bařák!
Der autobiographische Charakter in Puccinis Bohème wird mit der Arietta „vecchia zimarra“ besonders deutlich. Der bis dahin eher vom Geschehen enttäuschte Philosoph Colline gibt seinen Mantel zur Pfändung, um Mimì zu retten. Er entledigt sich also jenem Gegenstand, in welchem er bislang seine Bücher verstaute, jenen Mantel, welchen er erst im zweiten Akt erstanden hat. Er steht als Symbol für das unbedarft-freie und romantisierte Leben als Bohémien, welches sich nun angesichts von Mimìs eintretendem Tod alles andere als romantisch darstellt. Armut, Hunger, Krankheit und Tod scheinen durch das idealisierte Bild der Bohèmiens und der verklärten Betrachtung von Puccinis eigener Studienzeit, die er in der Bohème mitverarbeitet hat. Colline wendet sich von diesem Leben mit dem Verkauf des Mantels ab und wie im Libretto von Puccini vorhergesehen, intoniert Edgars Ošleja „con commozione crescente“. Und so kurz diese Arietta auch sein mag, so wichtig ist sie doch für die gesamte Handlung: Colline wird zur Mahnung gegenüber den Bohèmiens und bringt uns – noch vor dem Tod Mimìs – zurück auf den Boden der Tatsachen. Es ist der Wärme von Herrn Ošlejas mächtigem Bass zu verdanken, daß dieses zwar deutlich, aber behutsam geschieht und wir aus dem illusorischen Traum von der Bohème nicht zu harsch herausgerissen werden – meisterhaft!
La Bohéme an der Staatsoper Prag ist somit ein natürlich endender Traum und in seiner gelungenen Ästhetik und erstklassigen Besetzung dabei ein in wohlwollender Erinnerung bleibender. Diese Bohème erinnert uns einmal mehr daran, daß ein Opernbesuch auch immer ein Stück weit Eskapismus vor der tatsächlichen Welt, dem oft grauen und traurigen Alltag sein soll. Auch wenn am Ende stets die Rückkehr in die Realität steht – was in der Oper jedoch träumerisch erlebt werden kann, lohnt alle Bürden des Alltags. Diese Bohème an der Staatsoper Prag ist jeden Besuch wert – bravi tutti!
E.A.L.