POTSDAM / Schlosstheater Neues Palais Sanssouci ADRIANO IN SIRIA; Premiere; 9.6.2024
CARL HEINRICH GRAUNS Oper mit neu komponierten Intermezzi ein musikalischer Genuss, inszenatorisch mit Krachen gescheitert
Copyright: Stefan Gloede/Musikfestspiele
Ballette in der Oper sorgen ja nicht erst seit der repräsentativen französischen Grand Opera für spannende Allianzen und kurzweilige, bisweilen merkwürdige Kontraste. Seit Ende des 17. Jahrhunderts sorgten in Frankreich sog. Opéra-ballets als beliebte Erscheinungsform der französischen Oper des Hochbarock für Furore. Auch in Preußen war man für Einflüsse aus Versailles offen. So beschäftigte Friedrich II. ab 1744 eine Tanzkompanie, für die er den französischen Ballettmeister Lany an den Potsdamer Hof berief. 1746 spielte diese Truppe mit der Startänzerin Barbara Campanini („La Barberina“) an der Spitze bei der Uraufführung von Carl Heinrich Grauns „Adriano in Siria“ an der Königlichen Oper Berlin eine künstlerisch gewichtige und vom Publikum bejubelte Rolle.
Das heißt nicht, dass das auch für das Heute gilt. Tänzerin und Choreografin Deda Cristina Colonna hat die Oper rund um den Kaiser Hadrian, der gerade den syrischen König Osroa besiegt und dessen Tochter Emirena geraubt hat, als behäbiges „Jalousien rauf, Jalousien runter“ Verwirrspiel inszeniert. Sie wissen schon, Jalousien, das sind – auch wenn beidseitig mit Motiven aus der syrischen Kunstgeschichte bedruckt – jene widerborstigen Dinger, die mit einem Schnurbündel händisch bewegt, sich gerne verfangen und einseitig hängenbleiben. So auch an diesem Abend, wo auf zwei hintereinander platzierten Metallrahmen insgesamt 20 solcher Jalousien montiert waren, die von den Protagonisten des Stücks andauernd mehr oder minder geräuschvoll bedient, Szenenwechsel symbolisieren sollten, manipulative Missgeschicke inklusive.
Barockopern leben von der affektgeladenen Musik, einer handfesten wie temperamentvollen musikalischen Leitung sowie tollen Stimmen, die in ihrer Virtuosität, Leichtgängigkeit und einzigartig timbrierten Qualität das Publikum mit ihren Da-capo-Arien staunen machen, ja wie im Zirkus an Hochseilakte erinnern und die Luft anhalten lassen. Wenn ein Libretto wie jenes von Pietro Metastasio dann noch reichlich Stoff für Ironie bietet, wie das bei „Adriano in Siria“ der Fall ist, kann die Regie mit schrägem Witz und Brechungen arbeiten bzw. das Ganze als rasante Satire anlegen. Wie das geht, hat Max Emanuel Cencic in Bayreuth-Barock mit der Oper „Alessandro nell’Indie“ von Leonardo Vinci vorgeführt.
Denn dass gerade Aquilio, römischer Tribun und Adrianos Vertrauter, der heimlich in die Verlobte des Kaisers, Sabina, verliebt ist, das ganze emotionale und staatspolitische Desaster um den in amourösen Angelegenheiten wankelmütigen Adriano ins Rollen bringt, ist ein Hit und etwas anderes als viele sonstige, in wahnwitzige Polit- und Liebesintrigen verfangene Opere serie. Dabei spielt in „Adriano in Siria“ auch die Politik eine klare Rolle, denn der Kaiser könnte in seinem unentschiedenen Hin – und Her zwischen seiner Verlobten oder der begehrenswerten Emirena mittels einer arrangierten Ehe mit der Partherprinzessin auch Frieden mit dem Partherkönig Osroa stiften. Wie der Schluss der Oper zeigt, gelingt einem aufgeklärten Herrscher in seiner Großmut ein lieto fine auch ohne falsche Kompromisse.
Copyright: Stefan Gloede/Musikfestspiele
Dass Frau Colonna zu der pikanten Ausgangslage nur Flachdekor (Ausstattung Domenico Franchi) und hübsche Arrangements der Figuren zwischen oder hinter den Jalousiewänden mit Hackenporsche (=Einkaufstrolley), Fahrrad, Ölfass und gelbem Koffer als Requisiten ohne tiefere Charakterisierung einfiel, wurde beim Schlussvorhang auch mit entschiedenen Buhs quittiert. Ihre Choreografie der Aktschlüsse hat sie ohne Corps de ballet mit einer einzigen Tanzsolistin gestaltet. Colonna wollte in ihrer Choreografie Verhaltensmuster der weiblichen Opernfiguren aufgreifen und transformieren. Valerie Lauer als von der historischen Barberini inspirierte Kunstfigur mischt Genres, Tanzstile und Geschlechter gehörig auf und machte ihre Sache in einer gekonnten Verwebung von klassischem Tanz, Menuett und modernen Bewegungselementen gehörig gut.
Massimiliano Toni hat sich der Komposition dieser „Barberina Suite“ (Preludio, Sarabande e Giga; Labirinto und Passacaglia Dorica) angenommen und arbeitete anders als Grauns Barockorchester mit arabischen Flöten, Clavicytherium (eine Art von Cembalo) und traditioneller syrischer Perkussion, die in der Regel solistischerweise aufspielten und fallweise vom Orchester unterstützt wurden. Die Inspiration dazu hat er vom Ausstattungskonzept („Syrien als Schauplatz der Geschichte“) genommen, aber auch kleine Details der Partitur, also einzelne Intervalle oder Akkorde, sind in seine durchaus ansprechende, stark orientalisierende Musik eingeflossen. Bei diesen Intermezzi hat Dorothee Oberlinger das Dirigieren ruhen lassen und selbst als Flötistin mitgemischt.
Ob allerdings diese hineingekünstelten Tanzeinschübe, so gut sie auch waren, dramaturgisch etwas beigesteuert haben, steht auf einmal anderen, nämlich einem für mich leeren Blatt.
Kommen wir zur Musik, die abgesehen von einer dreiteiligen Ouvertüre, einem Eröffnungs- und einem Schlusschor, stimmakrobatischen Da-capo-Arien vom Feinsten und ein spektakulär schönes Duett zwischen dem Liebespaar Emirena und Farnaspe (zwei Sopranstimmen) bot. Dorothee Oberlinger, künstlerische Chefin des Festivals und Dirigentin dieser nach Jahrhunderten wieder szenisch zu erlebenden Oper, sieht Graun als einen „Großen seiner Zeit“. Immerhin wurde die Berliner Lindenoper mit dessen Oper „Cleopatra e Cesare“ am 7.12.1742 feierlich eröffnet. Dass Grauns Opern nach wie vor im Verhältnis zu ihrer musikalischen Qualität eher selten auf den Spielplänen zu finden sind, liegt nach Oberlinger vielleicht auch daran, dass die Musik des Übergangs zwischen Barock und Klassik ein besonderes stilistisches Einfühlungsvermögen verlangt. Man müsse „Farben, und Affekte, Dynamik, Artikulationen, Ornamente sehr differenziert und geschmackvoll herausarbeiten.“
Da es auch in der Barockoper um Wiedererkennbarkeit und Prägnanz der melodischen Eingebungen, um dramatische Effekte, drastisch zugespitzte Affekte in den Da-capo-Arien mit ihren kreativ uferlosen Variationen in den Wiederholungen geht, ist gerade Carl Heinrich Graun neben dem sicherlich unüberbietbaren G. F. Händel ein heißer Tipp, wie wir das von seinen Opern „Polydorus“, „Iphigenia in Aulis“, „Silla“ oder „Montezuma“ (von denen hervorragende Einspielungen bei cpo oder Capriccio vorliegen) wissen.
Von Dorothee Oberlinger und dem Ensemble 1700 – abgesehen von ein paar Unebenheiten in den Streichern – mit Verve, Spielfreude, erzählerischen Impulsen und rhythmischer Akkuratesse begleitet, führte eine erste Sängerschar auf unterschiedlichem Niveau vor, wie Barockoper funktionieren kann.
Als erstes ist der Sopranist Bruno de Sá in der Rolle des Patherfürsten Farnaspe, Verlobter der Emirena, zu nennen. Wohl auf dem Höhepunkt seines außergewöhnlichen Könnens erlebte das Publikum gestern ein Lehrstück an stilistischer Anverwandlung, gestochenen Trillern in bester Joan Sutherland-Manier, großartigen Koloraturen, Fiorituren und was es sonst noch an schnörkeldrehenden vokalen Formen des 18. Jahrhunderts zu vermelden gibt. Selbst die höchste Höhe klingt und schwingt frei, das Legato sitzt. Auch von Farnaspes unerschütterlichen Kampf um und seinen Glauben an die Liebe, nicht zuletzt von seinem exquisiten Timbre her, bot der in Berlin lebende Brasilianer eine zauberhafte Performance. In Berlin darf man auf seine Elvira in Mozarts „Don Giovanni“ gespannt sein. Die Komische Oper hat ihn mit dieser Rolle für die Premiere am 27.4.2025 engagiert.
Seine angebetete Emirena wurde von der italienischen Sopranistin Roberta Mameli mit Charisma und schauspielerischem Können verkörpert. Ihre Interpretation bestach vor allem durch dramatische Effekte des dunklen, aber in den kleinen Noten nicht mehr allzu flexiblen Soprans. Im betörend interpretierten Sopranliebesduett mit Bruno de Sá gelang sogar ein Stück entrückter Opernewigkeit. Das sind die Momente, für die Melomanen alle Mühsal und Kosten auf sich nehmen, um dabei sein zu dürfen.
Der südfranzösische Haute contre David Tricou, allen Freunden nicht nur französischer Barockoper ein Begriff, versah den Partherkönig Osroa, Brandstifter im feindlichen Palast, mit der gehörigen Wut und Empörung. Mit hellem Tenor schmetterte er seine Arien in das Rund des Schlosstheaters Neues Palais, das aufgrund von Baumaßnahmen am Neuen Palais ab 2025 leider für mehrere Jahre geschlossen sein wird.
Exzellente Leistungen boten auch die Britin Keri Fuge als gelackmeierte, zwischendurch abgelegte und wieder angenommene Verlobte Sabina sowie der stimmjunge und in dieser mit Personenregie gerade nicht großzügig bedachten Produktion auffällig spielfreudige veronesische Countertenor Federico Fiorio als nach ihr verrückter Aquilio.
Und Valer Sabadus als Adriano? Noch immer hat er ein vanillecremiges Timbre, noch immer versteht der Hörer seinen Rang im internationalen Konzert der vielen Countertenöre. So eindringlich er die Arien emotional auch anlegt, so problematisch verwischt Sabadus so manche Verzierung bzw. kämpft mit den Akuti im dritten Akt.
Fazit: Ein langer, fast dreieinhalbstündiger Abend mit viel toller Musik. Die Regie beschränkte sich auf das Arrangement von Auf- und Abtritten mit unzähligen nervenden Jalousienbewegungen. Die drei Tanzeinlagen, so gut sie auch waren, erscheinen in der Gesamtschau des Abends dramaturgisch nicht zwingend.
Fotos: Stefan Gloede
Dr. Ingobert Waltenberger