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POTSDAM / Pflanzenhalle Orangerieschloss Sanssouci ORLANDO GENEROSO; Premiere im Rahmen der Musikfestspiele Potsdam Sanssouci;

24.06.2025 | Oper international

POTSDAM / Pflanzenhalle Orangerieschloss Sanssouci ORLANDO GENEROSO; Premiere im Rahmen der Musikfestspiele Potsdam Sanssouci; 23.6.2025

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Sreten Manojlovic (Atlante), Hélène Walter (Angelica), Morten Grove Frandsen (Ruggiero). © Stefan Gloede/Musikfestspiele Potsdam Sanssouci

Im Folterkeller der Gefühle

Ob dieser Roland so „großmütig“ wirkt, wie es der Operntitel der 1691 im Schlosstheater Hannover uraufgeführten Oper von Agostino Steffani suggeriert? In der Inszenierung der deutsch-britischen Tänzerin, Choreografin und Regisseurin Jean Renshaw ist der Held jedenfalls ein armes Würschtel in brauner Generalsuniform, der seinen eigenen Fantasien von weiblicher Schönheit unterliegt. Ein Ideologe der Liebe ist dieser Orlando. Seine Angebetete, die chinesische Prinzessin Angelica, liebt Medoro und hat auch nichts dagegen, sich von Ruggiero schmeichelduettierend trösten zu lassen. Also fuchtelt der rasend eifersüchtige wie besitzergreifende Orlando mit der Pistole und trifft seine Adorierte. Die überlebt, wie das in heutigen Thrillern von Netflix & Co gewöhnlich so geschieht, wenn die Staffel weitergehen soll.

Derweil läuft das Machtmatch zwischen dem Joker-ähnlichen Zyniker Atlante und Angelicas Vater, Galafro auf Hochtouren. Atlante hat längst erkannt, dass nicht die Hochzeit von Ruggiero mit Bradamante (aus der nach der Prophezeiung ein großes Herrscherhaus erwachsen soll) seinem Einfluss gefährlich werden kann, sondern dieser Oligarch vielmehr den Gegenspieler Galafro loswerden muss. Nichts leichter als das: Da Galafro völlig hirnrissig seine Tochter nicht mehr erkennt und ihr nachzustellen beginnt, bezichtigt Atlante ihn der Vergewaltigung der eigenen Tochter. Orlando, den dieser ganze erotische Wahnsinn abstößt und vorübergehend selbst in den Wahnsinn treibt, verzichtet auf die Liebe. Nichts als Lug und Trug. Das lieto fine wirkt bei Renshaw im Gegensatz zur Musik nicht versöhnlich. Galafro erniedrigt gewaltsam Angelica, Bradamante und Ruggiero trennen sich und Angelica und Medoro gehen ihrer Wege. Galafro bleibt allein zurück.

Die Regie verlegt die Handlung ins Hier und Jetzt. Die Bühne im langgestreckten Glashaus besteht aus einem Laufsteg und zwei Türen links und rechts, die das Rein und Raus aus dem Leben symbolisieren sollen. Das 18-köpfige Orchester sitzt nach hinten versetzt auf eben dieser weißen Bühne. Handys läuten, Atlante filmt seine Intrigen in diesem Raum von „Sein oder Schein“. Als Folterknecht der Mächtigen fungiert Brunello, der – ganz dunkler Spießgeselle – seine vor nichts Halt machenden Übergriffe bewegungstheatergerecht absolvieren muss.

Überhaupt regiert viel Aggressivität auf der Bühne, Kostüme, Körper und Gesichter blutverschmiert, muss das Publikum realistisch in Szene gesetzte, kaum aushaltbare Prügelorgien von Atlante, Galafro und Brunello über sich ergehen lassen. Die Opfer? Angelica, Bradamante, Ruggiero und Medoro. Diese Art von Hyperrealismus ermüdet rasch bzw. stößt in ihrer brutalen Direktheit ab. Soweit die subjektive Wirkung auf mich.

Was künstlerisch entschiedener gegen diesen Ansatz spricht, ist die grandiose Schönheit und Zartheit eines Großteils der Musik. In zahllosen melancholischen Lamenti bzw. den einzigartigen neun emotionsverbindenden Duetten geht es vielmehr um das fragile Innenleben der einzelnen um Liebe ringenden, ja um sie kämpfenden Protagonisten. Da werden lebendige Sterne angerufen, um Liebesleiden zu beenden, die Viper sexueller Lust angeprangert, das Begehren als flüchtiges Vogerl entlarvt. Das Politische, die hintertriebigen Machenschaften der Mächtigen fühlen sich in „Orlando generoso“ eher als Katalysator denn als zentrale Antriebsfedern an. Denn am Ende lässt sich auch mit noch so viel Brutalität, Gefangenschaft und Folter Zuneigung nicht erzwingen. Diese Erkenntnis ist es, die die finale Versöhnung herbeiführt, die von der Regie ins Gegenteil verkehrt wird.

Strenggenommen wirkt die Aufführung „Semi-konzertant“, weil auf der kleinen kahlen Bühne nur auf die Interaktion der Sängerinnen und Sänger gebaut wird. Die Personenführung folgt einem „Chaos Konzept“ aus Lügen und Täuschungen. Letztere sind nötig, um die eigenen Bedürfnisse durchzusetzen und Vorteile für sich herauszuschlagen. Wenn zu einer mehrköpfigen Gemengelage noch Amor und Schicksal/Zufall als zusätzliche Gewürze im Spiel des Lebens stoßen, wird die launische Aleatorik des Daseins unüberblickbar. Nur die Vernunft kann dann noch retten, was aus dem scharfen Mahlwerk der menschlich sadistischen Verletzungsmaschine übrig ist. Oder doch nicht? Illusion und Täuschung führen zu einer klaren loose-loose Situation für alle. Die Flasche mit dem Verstand Orlandos, den er auf Erden verloren hat und die auf dem Mond gelandet ist, wird in dieser Logik dort wahrscheinlich auch bleiben.

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Shira Patchornik (Bradamante), Terry Wey (Orlando), Morten Grove Frandsen (Ruggiero), Natalia, Kawalek (Medoro), Martin Dvořák (Brunello), Gabriel Díaz (Galafro), Hélène Walter (Angelica), Dorothee Oberlinger (Musikalische Leitung), Sreten Manojlovic (Atlante), Ensemble 1700. © Stefan Gloede/Musikfestspiele Potsdam Sanssouci

Neben dem diskussionswürdigen Regiekonzept erfreut die musikalische Seite der Premiere fast uneingeschränkt. Der Theologe, Diplomat und Musiker Steffani bekleidete ab 1688 den Posten eines Hofkapellmeisters beim welfischen Herzog Ernst August von Hannover. Schon ein Jahr später wurde das neue Opernhaus am Leineufer mit seiner Oper „Enrico Leone“ eröffnet. Die Oper „Orlando generoso“ nach einem Libretto von Ortensio Mauro folgte 1691. Sie bietet Raum für sieben große Rollen. Die Fassung, die speziell für die Musikfestspiele Potsdam 2025 erstellt wurde, folgt dem Orchesternoten von Olga Watts auf Basis des modernen Aufführungsmaterials von Bernward Lohr. Außer der Partitur zu „Orlando generoso“ wurden speziell für die Tanzeinlagen auf Steffanis Sonate da camera à 3 sowie in Auszügen auf Steffanis Opern „Niobe“ und „Regina di Tebe“ zurückgegriffen.  

Die musikalische Sprache Steffanis als Amalgam italienischer, französischer und deutscher Kompositionsvariablen folgt den Gepflogenheiten des Frühbarocks, wo hochexpressives rezitativisches Parlando sich in virtuos verzierte Ariosi wandelt und hier von einzigartig fluiden Duetten gekrönt ist. Melodisch reizvolle Arien mit obligater Begleitung von Flöten, Oboe oder Cello bzw. eine instrumental streicherdissonant aufgeschürfte Wahnsinnsarie des Orlando bieten doch völlig andere Hörerlebnisse als das bei den hochbarocken Arienabfolgen in den Schwesterwerken von Antonio Vivaldi (Orlando furioso 1727) bzw. Georg Friedrich Händel (Orlando 1733) der Fall ist.

Dorothee Oberlinger, Leiterin der Musikfestspiele Potsdam Sanssouci, gelingt es, ihr exquisites Ensemble 1700 auf ein tänzerisch beschwingtes, elastisch federndes Musizieren einzuschwören. Olga Watts leitete vom Cembalo aus die Continuogruppe

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Sreten Manojlovic (Atlante), Hélène Walter (Angelica), Morten Grove Frandsen (Ruggiero). © Stefan Gloede/Musikfestspiele Potsdam Sanssouci

Die Rolle des Orlando war dem schon auf eine lange Karriere bauenden schweizerischen Countertenor Terry Wey, einstmals Solist der Wiener Sängerknaben, anvertraut. Gesangstechnisch top of the top mit präzise funkelnden Verzierungen und einer freien, zu weiten Legatobögen befähigten Höhe, bleibt das charaktervoll individuelle Timbre doch Geschmackssache. Die Schweizerin Hélène Walter erfreute als Angelica mit ihrem üppig aufblühenden lyrischen Sopran, während die polnische Mezzosopranistin Natalie Kawalek als geschundener Underdog Medoro für mich die eigentliche Überraschung des Abends war. Darstellerisch von einer unglaublichen Intensität, packte ihr Vortrag mit einer stupenden Rollenidentifikation, differenziertem Ausdruck, Wortdeutlichkeit und hoher dramatischer Entäußerung. Das zweite Liebespaar war mit dem flauschig timbrierten dänischen Countertenor Morten Grove Frandsen und der glutvollen israelischen Sopranistin Shira Patchornik fantastisch und rollengerecht besetzt. Sreten Manojlovic gab den scharfzüngigen Atlante mit heldenbaritonalem Machismo und zynischem Hüftschwung. Der aus Sevilla stammende Countertenor Gabriel Díaz verkörperte trotz einnehmender Stimmfarben einen hinreichend unsympathischen Galafro.

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Natalia Kawalek (Medoro), Hélène Walter (Angelica). © Stefan Gloede/Musikfestspiele Potsdam Sanssouci

Weitere Aufführungen finden am 24., 26., und 27.6.2025, jeweils um 19h, statt.

Hinweis: Wer die wirklich empfehlenswerte Musik hören möchte, kann dies am Sonntag, dem 13. Juli 2025 im Rahmen des ARD-Radiofestivals tun. Danach ist die Oper 30 Tage auf der Website des Senders radio3 rbb und in der radio3-App verfügbar. Siehe radiodrei.de

Dr. Ingobert Waltenberger

 

 

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