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PILSEN (Tschechien): INTERNATIONAL THEATRE FESTIVAL

22.09.2022 | Theater

PILSEN (Tschechien): INTERNATIONAL THEATRE FESTIVAL

vom 14.-18.9.2022

Mit einer von Covid-Einschränkungen weitesgehendst verschonten Ausgabe feierte das Internationale Theaterfestival von Pilsen gerade sein 30jähriges Jubiläum.

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Lepage vor seinem Geburtshaus. Foto: Theater-Festival Pilsen

Die Eröffnungspremiere war Robert Lepage und seiner One-Man-Performance „887“ anvertraut worden, und sie gestaltete sich sofort zum Triumph. 887 war die Hausnummer von Lepages Kindheitswohnung, und als er schwarzgekleidet auf die leere (bzw.leer erscheinende) Bühne kommt und die Vorgeschichte des Stücks erzählt, befürchtet man das Schlimmste. Doch dann öffnet sich der schwarze Würfel hinter ihm und man kommt für den Rest des zweistündigen Abends aus dem Staunen nicht heraus. Denn alle paar Minuten kommt ein andere, neue, bis ins kleinste Detail liebevoll gestaltete Szenerie (Bühnenbild: der Meister selbst) zum Vorschein, in der Lepage – wie immer vom Hundersten zum Tausendsten kommend – ja was eigentlich ? erzählt: die Erinnerungen an seine Kindheit, den kanadischen Sprachenkonflikt, die Quebecische Unabhängigkeitsbewegung, den Quebecischen Terrorismus, seine Tätigkeit als Zeitungsausträger, das Leben seines Vaters als Taxifahrer usw.usf. etc. etc….Aber all diese Erzählungen gehen nahtlos und scheinbar mühelos ineinander über, und Lepage als Performer ist überhaupt eine Sensation, denn wie er mit kleinsten, minimalsten, bescheidenen Gesten den Übergang zwischen den einzelnen Szenen und den einzelnen Themen gestaltet, macht ihm so schnell keiner vor und keiner nach. Beim Schlussapplaus kommen dann acht schwarz gekleidete Heinzelmännchen-und weibchen auf die Bühne, die dieses Wundertüten-Kaleidoskop unsichtbar am Laufen gehalten haben…aber man versteht trotzdem nicht, wie das alles zwei Stunden lang möglich war. Besser konnte das Festival gar nicht beginnen…

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Valentine gegen den Rest der Welt. Foto: Theater-Festival Pilsen

Ein zweiter großer internationaler Name zierte den zweiten Abend: Christoph Marthaler. Seine jüngste Hervorbringung für das Théâtre Vidy aus Lausanne trug den schönen Titel „Aucune Idée“ und war eigentlich eine Hommage an seinen ikonischen Schauspieler, den schrulligen Schotten Graham F.Valentine (der wunderbare Cellist und Gambist Martin Zeller wurde hier – mit einer hässlichen Perücke angetan – zum Nebendarsteller degradiert). Tja, was soll man sagen. Dass Valentine schräge Personen darstellen, absurde Szenen erfinden und eigenartige Lieder von sich geben kann, hat er ja oft genug bewiesen, und das macht er auch hier. Sonst war das alles aber in ein größeres Ganzes eingebettet, in ein Ensemblesspiel, in eines der berühmt-berüchtigten Bühnenbilder von Anna Viehbrock – und hatte auch irgendwie einen wie immer brüchigen roten Faden. Das fehlt hier alles schmerzlich. „Sie haben schon bessere Marthalers gesehen!“ sagte mir eine Mitarbeiterin des Festivals auf den Kopf hin zu, als sie mein nicht gerade erfreutes Gesicht beim Verlassen des Saals sah. Ja, haben wir….

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Marianne tanzt. Foto: Theater-Festival Pilsen

Eine grosse positive Überraschung stellte hingegen das Gastspiel des Valstybinis Jaunimo Theaters aus Vilnius mit „Tales from the Vienna Woods“ dar. Als gelernter, promovierter und habilitierter Wiener, der Horvaths Meisterwerk hundertmal gesehen hat und in-und auswendig kennt, war man anfangs natürlich extrem skeptisch. Aber Yana Ross und ihrem spielfreudigen, aber nie outrierenden Ensemble gelingt es, die Vorlage auf intelligente und witzige Weise so sehr zu „litauisieren“, dass man am Ende nicht einmal mehr die unvergleichliche Horvathsche Sprache vermisst. Großartig.

Wenn man dann aber im Programmheft liest, dass diese Inszenierung, die einem gerade so sehr gefallen hat, von derselben Regisseuse stammt, die im Sommer in Salzburg eine ganz schreckliche Reigen-Bearbeitung tief in der Salzach versenkt hat, erblasst man: wie ist denn so etwas möglich ? Mysterium des Theaters.

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Die wilden Chasaren. Foto: Theater-Festival Pilsen

Die allergrößte Verblüffung des gesamten Festivalprogramms hielt dann zum Abschluss noch eine tschechische Produktion für einen bereit. Das Brünner Theater mit dem schönen Namen „Gans an einer Schnur“ präsentierte „Das chasarische Wörterbuch“, eine Dramatisierung des gleichnamigen Kultromans des serbischen Schriftstellers Milorad Pavić.

Der wiederum ein Kultroman ist, weil er gar kein Roman ist, sondern ein Lexikon. Die Kapitel sind alphabetisch geordnet, sodass sich jeder Leser seine eigene Handlungsabfolge „zusammenbasteln“ kann. „Thema“ sind die Chasaren, ein mythisches Volk, das sich im Dunkel der Geschichte verliert, über das die absurdesten Theorien zirkulieren und über das man eigentlich genau gar nix weiß. Insofern dienen sie Pavić nur als Vorwand, um auf unfalsizierbarste Weise über Gott und die Welt und das Leben und die Religion und überhaupt alles zu räsonieren und zu philosphieren.

Der erste Teil des Abends zählt zu den spannendsten Stunden, die man in den letzten Jahren im Theater verbracht hat. Denn von den sich rasch abwechselnden kurzen, immer originell gestalteten und bildermächtigen Szenen versteht man am Anfang ganz und gar nichts, nicht einmal Bahnhof, ist aber permanent fasziniert und atemlos gespannt, welcher weiterer komplett unverständliche Wahnsinn einen in den nächsten Minuten noch erwarten wird. Nach der Pause nimmt dann die Krimihandlung überhand, es wird alles logischer und zusammenhängender und verständlicher – was in meinen Augen dem Charakter des Werks einen großen Abbruch tut. Dennoch : ein einzigartiges Erlebnis. Eine tolle Inszenierung von Jan Mikulašek, die – wenn es in der Theaterwelt mit rechten Dingen zuginge (was es bekanntlich nicht tut) – auch auf vielen anderen Festivals zu sehen sein müsste.

Robert Quitta, Pilsen

 

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