PESARO / ROSSINI OPERA FESTIVAL – Eröffnung mit LE COMTE ORY
9.8.2022 (Werner Häußner)
Juan Diego Florez. Copyright: Amati Bacciardi
Was treiben allein gelassene Frauen, deren Gatten auf einen Kreuzzug aufgebrochen sind? In Gioachino Rossinis „Le Comte Ory“ müssen sie ein strenges Keuschheitsgelübde gegen raffinierte Versuchungen verteidigen; in Hugo de Anas szenischer Relecture zur Eröffnung des Rossini Opera Festivals in Pesaro geben sie sich einem stetigen Bewegungsrausch hin. Da wird getanzt, geflitzt, gehopst, ständig wedeln Arme und Hände. Der argentinische Regisseur mit über 30jähriger Karriere vor allem an italienischen Opernhäusern überschwemmt die breite Bühne der Vitrifrigo Arena am Stadtrand von Pesaro mit einer choreografischen Flut, deren Impertinenz die Musik immer wieder auf ein Begleitrauschen zu reduzieren droht. Gewonnen ist mit dieser Zappelorgie nichts.
Die Musik: Rossini schreibt sie so leicht und elegant dahinfließend, dass ihre meisterhafte Konstruktion wie selbstverständlich erscheint; ihr kalkulierter Übermut und ihre augenzwinkernden Sentimentalitäten, ihre parodistische Dramatik und ihr atmosphärischer Charme wie naturgegeben erscheinen. Rossinis durchdachte Bearbeitung lässt vergessen, dass ein Teil der Musik aus „Il Viaggio a Reims“ stammt; die neu komponierten Teile fügen sich ein, als gehöre alles schon immer zusammen. Ein Terzett wie „A la faveur de cette nuit obscure“ im zweiten Akt ist eine Perle Rossini’scher Ensemblekunst.
Solche Momente können sich in Pesaro zu unvergleichlichen Höhepunkten aufschwingen, wenn das hohe stilistische Niveau der Sänger sich mit einem sensiblen Dirigat trifft. Diego Matheuz lässt mit dem Orchestra Sinfonica Nazionale della RAI nur zu wünschen übrig, einmal aus der solide erarbeiteten Routine auszubrechen. Den Klang duftig zu gestalten, instrumentale Farben auszuhören, dem Rhythmus federndes Gewicht zu geben sind seine Sache weniger. Aber er sorgt für ein sängerfreundlich ausgewogenes Tempo und so für die Offenheit für eine flexible, akzentuierte Phrasierung.
Diese Chance nutzen die Sänger, an ihrer Spitze der künstlerische Direktor des Festivals Juan Diego Flórez: Er adelt die Titelpartie mit seiner Erfahrung aus mehr als 25 Jahren stilistisch schwer zu übertreffenden Belcanto-Gesangs. Schon seine Auftrittsszene „Que les destins prospères“ ist ein überwältigendes Beispiel des Spiels mit Worten und ihrer musikalischen Ausformung. Flórez steuert die Acuti immer noch sicher an und platziert sie gekonnt in strahlendem Ton. Allerdings ist auch zu bemerken, dass die Stimme nicht mehr so leicht beweglich ist wie einst, dass er sich eine korrekte Stütze mancher verzierter Passagen spart.
Eine Entdeckung für Pesaro ist das Debut der Französin Julie Fuchs als Comtesse – 2016 an der Wiener Staatsoper eine gefeierte Marie in „La Fille du Régiment. Die Stimme ist rund und das Timbre kann schimmern wie Perlmutt; ihre Tonbildung ist einwandfrei, ihr Legato erinnert an die Zaubertöne der Gesangslegenden aus alter Zeit. Gleichzeitig zeigt sie, wenn sie auch eher sinnfrei an einer Stange turnen muss, kein Fremdeln mit der Melange aus gefährdeter Empfindung und diskretem Übermut.
Die dritte Sängerin im Bunde, Maria Kataeva, erweist sich ebenfalls als bestens gebildete Stilistin. Die in Düsseldorf engagierte Mezzosopranistin glänzt mit geschmeidigem, das sanfte Vibrato wunderbar in die Tonbildung eingebundenem Klang und einem für die Rolle des Pagen Isolier passenden Hauch von Melancholie im Timbre. Ihr Pesaro-Debüt macht Lust auf Tschaikowskys „Jungfrau von Orléans“, die sie 2023 an der Deutschen Oper am Rhein singen wird. Dass sich in Pesaro nicht alles auf gleicher Höhe bewegt, demonstriert der allzu vibratosatte Alt von Monica Bacelli als Ragonde.
Auch die tiefen Männerstimmen tun sich schwer zu überzeugen: Andrzej Filonczyk singt Graf Orys Kumpanen Raimbaud mit sprödem Klang und harten Tönen, die auch mal kräftig forciert werden; Nahuel di Pierro gibt den besorgten Erzieher des gräflichen Leichtfußes mit standfest zuverlässigem Bass ohne charismatischem Reiz. Der Chor des Teatro Ventidio Basso aus Ascoli Piceno hat von a-cappella-Chören über einen frivolen Pilgerchor bis zum fünfstimmigen Finale viel zu bewältigen und schafft es mit Anstand und im Frauenchor des zweiten Akts mit einem Klang in feinstem Aquarellschimmer.
Gegen die musikalische Finesse bleibt Hugo de Anas Regie an einer Oberfläche, die das Publikum etwa mit den blinkenden Gesetzestafeln des als Moses vermummten Comte Ory prächtig amüsiert, zur Deutung von Rossinis geistreicher Musik und Eugène Scribes respektlos zweideutigen Versen aber nichts beiträgt. Der bloße Aktivismus auf der Bühne spielt sich dabei in einem Setting ab, das durchaus Potenzial mitbringt. De Ana selbst hat es nach dem „Garten der Lüste“ von Hieronymus Bosch entworfen. Das Zentrum bildet ein Wesen mit geborstenem eiförmigem Körper aus der „Hölle“, dem rechten Teil von Boschs Triptychon aus dem Madrider Prado. Dass aus der Leibeshöhle gleich buntschillernd verpackte Eier – wie in Italien zu Ostern üblich – verteilt werden, sorgt schon für erste Lacher. Motive aus dem Bild, etwa phantastische Vögel, werden bloß illustrativ auf die Bühne übertragen; die Saurier, die zum Can-Can-Beinewerfen im Finale einmarschieren, sind nur ein szenischer Überwältigungs-Gag.
In dieser Weise genutzt, bleiben alles Untergründige und Unheimliche, die Ironie und die Utopie, die in Boschs Werk zu entdecken sind, auf der Strecke. Kunst mit Anspruch trifft die quietschbunte Welt des italienischen Frühstücksfernsehens: De Anas konsequente Trash-Ästhetik sorgt, wie ein Zuschauer trefflich bemerkte, nicht für eine seelenreinigende Katharsis, sondern für Zerstreuung – zu mager für das elaborierte Spätwerk Rossinis, das durch Geist und nicht durch das komödiantische Feuerwerk seiner frühen Farcen brilliert.