PESARO / Rossini Opera Festival: AURELIANO IN PALMIRA
15.8.2023 (Werner Häußner)
Rossinis ernste Opern stehen einer über vierzigjährigen Wiederaufführungstradition zum Trotz zumindest in Deutschland immer noch im Ruch, für den Alltag des Repertoires nicht zu taugen, obwohl fast jede der seltenen Aufführungen das Gegenteil beweist. Beispiel „Aureliano in Palmira“, eine wie der ungleich berühmtere „Tancredi“ 1813 entstandene opera seria. Felice Romani hat die historischen Ereignisse um die Expedition des römischen Kaisers Aurelianus gegen die revoltierende Königin Zenobia der wichtigen Handelsstadt Palmyra sehr frei in eine Geschichte verwandelt, die zunächst wie der übliche Plot klingt: Macht und Liebe geraten in Konflikt, der Kaiser verliebt sich in die Königin, kommt aber nicht ans Ziel, weil Zenobia den persischen Prinzen Arsace liebt, der wiederum heimlich von der Tochter des früheren Kaisers Valerian, Publia, angebetet wird. Am Schluss Entsagung, Milde, Versöhnung, damit dem lieto fine Genüge getan wird.
Doch so einfach liegen die Dinge nicht. Romani und Rossini gestalten wandlungsfähigere und facettenreichere Charaktere, als die alten Seria-Stereotypen vermuten lassen. Zenobia, ein in Literatur und Malerei häufiger Archetyp einer schönen, klugen, gebildeten, selbstbewussten Frau, widersteht mit mutiger Entschlossenheit dem Römer Aureliano, der selbst aber kein eindimensionaler Repräsentant einer militärisch überlegenen Macht bleibt, sondern sich als kompromissbereit und um Lösungen – wenn auch in seinem Sinne – bemühter Mensch zeigt, der sogar bereit wäre, seine Macht zu teilen statt starrsinnig an seinen Konzepten festzuhalten.
Das Erlebnis der unverbrüchlichen Liebe von Zenobia und Arsace bewirkt bei ihm eine Wandlung zu einer verstehenden humanen Haltung, deren letzter Anstoß von der Nebenrolle Publia kommt – weshalb deren Rezitative und die Arie „Non mi lagno che il mio bene“ kurz vor dem letzten Finale nicht als verspätete „aria del sorbetto“ nachhinkt, sondern für den Charakterwandel des Kaisers konstitutiv wirksam ist. Bemerkenswert auch die große Szene des Arsace im zweiten Akt, die den geflohenen Prinzen in eine bukolische Landschaft führt, in der ihn einfache Menschen einladen, das Glück fern der großen Schauplätze der Geschichte zu erlangen: ein originelles Bild, das Versuchung des Rückzugs ins Private, idyllische Paradiesvision, wissende Selbstbescheidung oder Gesellschaftsutopie bedeuten kann.
Was könnte ein sensibler Regisseur aus dieser Vorlage gewinnen! Mario Martone will das Stück bei der Wiederbelebung der Produktion von 2014 beim Rossini Opera Festival in Pesaro in keinem aktuellen Kontext diskutieren. Er erzählt es in Sergio Tramontis ästhetisch-malerischen Kulissen und mit Historismus vortäuschenden Kostümen von Ursula Patzak geschmackvoll nach, ohne die Konturen der Charaktere anzuschärfen. Zum Glück auch ohne die meisten Peinlichkeiten altitalienischen Regiekunsthandwerks, auch wenn die eifrig Futter suchenden Ziegen auf der Bühne eher erheitern als Spielräume der Interpretation eröffnen. Immerhin gelingen atmosphärische Bilder, die den Sängerinnen und Sängern den Raum lassen, ihre Partien ganz aus der Musik zu gestalten.
Diese Chance wird in Pesaro erfreulich qualitätvoll genutzt: Mit Alexey Tatarintsev ist in der Titelrolle der wohl beste Tenor dieser Festivalsaison zu hören. Die Cavatina des Aureliano „Vivi eterno“ und das grandiose Duett mit Arsace sind verspannungs- und verfärbungsfrei, mit Sensibilität für die Worte und Sinn für Melos und Metrum gesungen. Auch in den Szenen des zweiten Akts gestaltet Tatarintsev aufmerksam die Wandlung seines Charakters. Ebenso auf der Höhe ist Raffaella Lupinacci als Arsace, etwa mit ausdrucksvollem Rezitativgesang zu Beginn des Finales des ersten Akts („Eccomi ingiusti numi“) und mit ihren ausgefeilt gesungenen Arien. Rossinis sensible Musik trifft bei dieser Sängerin auf eine Vokalartistin von hohen Gnaden. Sara Blanch stellt als Zenobia ihre stimmliche Virtuosität in den Dienst einer packend durchdrungenen Rolle. Die heroischen Töne der der geschlagenen, aber nicht in ihrem Stolz geknickten Königin beherrscht Blanch ebenso wie den ungewöhnlich zärtlichen Ton des Duetts mit Aureliano im zweiten Akt, der vermuten lässt, dass es zwischen diesen beiden starken Menschen eine Brücke der Liebe hätte geben können, wären sie einander unter anderen Umständen begegnet.
Die kleine, aber wichtige Rolle der Publia erfüllt Marta Pluda mit einer warmen, leicht geführten Stimme; auch die Nebenrollen sind mit Sunnyboy Dladla (Oraspe), Davide Giangregorio (Licinio), Alessandro Abis (Hoherpriester) und Elcin Adil (Hirte) ansprechend besetzt. Der Chor, diesmal aus dem Teatro della Fortuna in Fano unter Mirca Rosciani, erfüllt seine Rolle anstandslos: Erstmals bei Rossini geht er über die stereotypen Männerchöre der Zeit hinaus und fächert sich in dialogisierende Männer- und Frauenstimmen auf.
Dirigent George Petrou hält den Klang des Orchestra Sinfonica G. Rossini leicht und geschmeidig, betont aber häufig die Melodiestimmen und verpasst so Chancen einer harmonischen Vertiefung der stupenden Musik Rossinis, deren Reichtum immer wieder erstaunt. Die Ouvertüre, die später für „Elisabetta, Regina d’Inghilterra“ herangezogen wurde und mit dem „Barbiere di Siviglia“ zum unsterblichen Opernhit avancierte, zeigt sich in anderem dramatischen Kontext gar nicht so zum turbulenten Witz neigend. Sie demonstriert, dass Rossinis musikalische Erfindungskraft der „Stimmung“ einer Szenerie nicht bedarf: Verdis „tinta musicale“ ist noch ein gutes Stück entfernt.
Für den 7. bis 23. August 2024 kündigt das Rossini Opera Festival für das Jahr, in dem Pesaro italienische Kulturhauptstadt ist, „Bianca e Falliero“ (Jean-Louis Grinda und Roberto Abbado als Dirigent) an, ergänzt durch „L’equivoco stravagante“ (aus dem Jahr 2018) und den Pier-Luigi-Pizzi-Klassiker „Il Barbiere di Siviglia“. Mit der Regie von Johannes Erath zu „Ermione“ (Dirigent Michele Mariotti) dringt deutsches Post-Regietheater nach Pesaro vor: Es wird spannend, wie das international durchsetzte Publikum darauf reagieren wird.
Werner Häußner /