PESARO / Rossini Opera Festival: ADELAIDE DI BORGOGNA – Premiere
13.8.2023 (Werner Häußner)
Foto: Amati Baciardi
Tief ins Herz trifft dieser Konflikt: Der politische Gefangene, den Adelberto zu befreien hat, ist sein eigener Vater Berengar. Natur, Familienbande, Sohnespflicht rufen ihn zur Tat. Im Inneren hört er das Stöhnen des Vaters, aber seine Seele fühlt gleichzeitig unerträgliche Qual: Denn mit der Befreiung Berengars verlöre er die angebetete Adelaide, ohne die er sich kein Leben vorstellen kann. Mitleid und Liebe führen einen aussichtslosen Kampf, der den jungen Mann an die Grenzen seiner psychischen Stabilität führt: Er fühlt sich von Gott und den Menschen verlassen.
Gioachino Rossini hat diese existenzielle Erschütterung im zweiten Akt seiner Oper „Adelaide di Borgogna“ in hinreißende Musik gebettet, die seine Kunst auf der Höhe seiner unmittelbar zuvor entstandenen „Armida“, mit der emotionalen Tiefe seines danach komponierten „Mosé in Egitto“ zeigt. Und das Rossini Opera Festival in Pesaro hat mit René Barbera einen Tenor aufgeboten, der mit flammenden Höhen, leuchtendem Zentrum, unangestrengter Geläufigkeit und souveräner vokaler Gestaltungskraft demonstriert, wie ein vor 200 Jahren entfesselter Gefühlssturm heute noch die Herzen der Zuhörer von 2023 erfassen kann. Eine der Szenen, für die man in die Oper geht.
Jetzt bräuchte es eine Regie, die szenisch beglaubigt, was sich in der Musik ereignet. Der französische Debütant beim Pesareser Festival, Arnaud Bernard, lässt erst einmal allerlei Dekor aufbauen, das den Hintergrund der Seelenerschütterung Adelbertos bildet. Und während die Arie auf ihren Höhepunkt zustürmt, beginnen Bühnenarbeiter im Rücken des Protagonisten, Kulissenteile zu demontieren und wegzuschleppen. Arnaud nennt das in einer Regienotiz im Programmheft eine „brechtische“ Art der Distanzierung. Man könnte es auch als schlechten Regieeinfall bezeichnen.
Dabei wäre die Grundidee, den sich realistisch gebenden Theaterillusionismus aufzubrechen, gar nicht übel. Durchbrüche, Meta-Ebenen, Kommentare und Assoziationen können Charaktere verdeutlichen, Handlungsstränge plausibel machen und Antriebsmotive aus psychischen Dispositionen oder ideologischen Vorstellungen heraus erklären. Frank Castorf hat’s in seinem Bayreuther „Ring“ exemplarisch vorexerziert. Bernard versucht das, indem er die Konflikte der Oper über die privaten Konstellationen der Darsteller begründet.
Während bei Rossini der intrigante Berengar den Gatten Adelaides, König Lothar von Italien, vergiftet und sich die burgundische Königstochter damit zur ewigen Feindin macht, lässt Bernard den Zwist aus einem Techtelmechtel des Tenors in der Garderobe entstehen. Als Setting dient ihm ein von Alessandro Camera gebautes Proben-Ambiente: Bühnenteile stehen herum, ein historisierender Thron konkurriert mit Plastikstühlen für den Chor, an einem Flügel probt der Korrepetitor, Darsteller vermischen sich mit Bühnenarbeitern. Das Heben des Vorhangs wird simuliert, die Choristen auf ihre Plätze gescheucht: Achtung – Aufmerksamkeit bitte, die Probe beginnt.
Diesen Entwurf zeichnet die Aufführung recht detailliert durch. In den mittelalterlichen Ritterrüstungen im Plastik-Look oder den opulenten Frauenroben Maria Carla Ricottis, den überdrehten „arte scenica“-Gesten oder den improvisierten Verständigungsversuchen unter dem schauspielernden Personal mag man sogar den Versuch bemerken, das alte italienische Provinztheater auf die Schippe zu nehmen. Aber die Ironie, auch im Bühnenbild – historisierende Requisiten, komplett gemalte Hänger mit prächtiger Architektur –, läuft ins Leere. Rossini und Bernard berühren sich nicht, „Adelaide di Borgogna“ bleibt unerzählt, und der Zoff zwischen einer Primadonna und einem Tenor geht übers Anekdotische nicht hinaus. Am Schluss gibt’s dann sogar noch eine reichlich aufgesetzte Diversitäts-Demonstration: Ottone, der deutsche Kaiser Otto I., gesungen von einem Contralto, wandelt sich aus der Hosenrolle zur Frau, und Varduhi Abrahamyan ergötzt sich mit der Adelaide Olga Peretyatko an den Freuden lesbischer Liebe. Wieder einmal ein Versuch, Regietheater zu spielen, der nicht weiterführt.
So bleibt es den Sängerinnen und Sängern, dem Dirigenten Francesco Lanzillotta und dem Orchestra Sinfonica Nazionale della RAI, den Zauber der Musik Rossinis zu entfalten. „Adelaide di Borgogna“ enthält neben der großen Tenorszene des zweiten Akts manch Inspiriertes, aber auch versierte Routine, die dem immensen Zeitdruck während der Komposition in wahrscheinlich maximal zwei Monaten geschuldet sein dürfte. So erklärt sich wohl auch, dass die Oper, geschrieben für die römische Karnevalssaison 1817/18, erfolglos blieb und bald von den Bühnen verschwand.
Lanzillotta arbeitet energisch daran, das Orchester über füllige Klänge hinaus zu eleganter Phrasierung und akzentuierter Tongebung zu führen. Als Adelaide verlässt sich Olga Peretyatko auf ihre Erfahrung, auf einen klangvollen, gereiften Sopran für den Ausdruck des Leidens und der Ausweglosigkeit. Varduhi Abrahamyan als Ottone bringt geschmeidige Noblesse für die zärtlichen Momente der Begegnung mit Adelaide mit, beherrscht das dynamische Abschattieren und die flexible Phrasierung, kann der Stimme auch schneidenden Schliff für das Quartett des zweiten Akts und den Triumph des Finales geben. Leicht und leuchtend singt Paola Leoci die Arie von Adelbertos Mutter Eurice, die spritzig komponiert ist, wenn auch wahrscheinlich nicht von Rossini selbst. Riccardo Fassi kann mit aufgerautem Bass dem notorischen Bösewicht Berengario nicht mehr Facetten geben, als ihm Rossini zugestanden hat. Auch die neuerliche Bemühung um „Adelaide di Borgogna“ in Pesaro nährt die Annahme, dass diese Rossini-Oper ein Artefakt der Vergangenheit bleibt, das wohl nur noch Kenner und Liebhaber in Entzücken versetzen wird.
Werner Häußner