PESARO: MOÏSE ET PHARAON
12.8. 2021(Werner Häußner)
Copyright: Sudio Amati Bacciardi/Rossini-Festival
Das Stichwort fällt an prominenter Stelle am Schluss der Eröffnungsszene: „Liberté“ fordert Moses von ägyptischen Pharao. Freiheit für die Hebräer im Exil auf fremdem Boden. Ein Thema, das bei der Pariser Uraufführung von Gioachino Rossinis „Moïse et Pharaon“ am 26. März 1827 reizte wie Brandgeruch in der Luft. Der Kampf der Griechen gegen das Osmanische Reich fand breite Sympathie bei westeuropäischen Intellektuellen. Aber auch in den Ländern Europas brodelte der Wille zur Freiheit unter der Kruste des Staatensystems des Wiener Kongresses.
So ist Rossinis Oper keineswegs nur eine Vertonung der biblischen Geschichte vom Durchzug der Israeliten durch das Rote Meer. Er lässt zumindest zu, zeitgenössisches Freiheitsstreben in sein Werk hineinzulesen. Mit der eingehenden Bearbeitung des schon 1818 in Neapel uraufgeführten und zunächst ausdrücklich als „Oratorium“ betitelten biblischen Dramas „Mosé in Egitto“ wertet Rossini spektakuläre Massenszenen auf und greift vor auf die „grand opéra“, zu der er – nach Daniel François Esprit Aubers „La Muette de Portici“ (1828) – zwei Jahre später mit „Guillaume Tell“ ein Schlüsselwerk beisteuern sollte. Sieben der 17 Nummern komponiert er teils unter Verwendung von Material aus anderen Opern neu und fügt im dritten Akt entsprechend der Pariser Gepflogenheiten rund 20 Minuten Ballett ein. Aus dem neapolitanischen Ursprungswerk bleibt nur etwa die Hälfte der Musik übrig, und diese auch gründlich revidiert und neu instrumentiert. Ebenso neu sind die Rezitative.
Trotz der monumentalen Anlage achtet Rossini auf die ursprünglich angelegte Balance zwischen der locker den biblischen Quellen entnommenen Befreiungsgeschichte und dem Drama einzelner Personen: Sein Librettist Andrea Leone Tottola fügte nämlich aus einer Tragödie mit dem Titel „L’Osiride“ eine Liebesgeschichte zwischen einer Hebräerin und dem ägyptischen Thronerben ein. Was wie eine opportune Zutat zum Genre der Oper wirken könnte, trägt einen entscheidenden Aspekt bei: „Moïse et Pharaon“ thematisiert den Konflikt zwischen individuellen Lebensentwürfen und dem Schicksal eines Volkes. Gott steht dabei nicht auf der Seite der Individuen: Anaï, Nichte von Moses‘ Bruder Éliézer (der biblische Aaron) verzichtet auf ihre Liebe zu Aménophis, dem Sohn des Pharaos, und erklärt ihre Rückkehr zur Mutter, zum eigenen Volk und zum Gott Israels.
Spannend bei Rossini ist, wie er mit dem Thema der Macht umgeht. Die spektakulären bühnentechnischen Effekte sind zwar auch, aber nicht in erster Linie ein Tribut an die Show: Der von einem Meteor in Brand gesetzte Busch, der angelehnt an den „brennenden Dornbusch“ nicht verbrennt, das Zusammenstürzen der großen Pyramide in einem Vulkanausbruch, die „ägyptische Finsternis“, der Sturz der Isis-Statue, das geheimnisvolle Erscheinen der Gesetzestafeln und der Bundeslade erweisen eine Macht, die nur mittelbar von Moses ausgeht und die direkt mit dem Eingreifen Gottes verbunden wird. Sie setzt der willkürlichen Machtausübung des Pharao und seines Sohnes unbezwingbare Schranken und führt zuletzt zum Untergang der bewaffneten Ägypterscharen im Roten Meer.
Beim Rossini-Festival in Pesaro, dem Geburtsort dieser musikalischen Schlüsselfigur des 19. Jahrhunderts, steht die Pariser Fassung des Werks zum zweiten Mal nach 1997 auf dem Spielplan. Pier Luigi Pizzi, der inzwischen 91 Jahre alte Doyen der italienischen Opernregie, hatte bereits in den achtziger Jahren die italienische Version des Moses-Dramas an der Bayerischen Staatsoper München in dekorative Bühnenbauten gestellt. In Pesaro gleitet er elegant über die inhaltlichen Konstellationen hinweg. Er deklassiert die Figur des Moses zu einem bärtigen Eiferer, einer Art Zauberer, dessen Gegensatz zum Pharao vor allem im Kostüm liegt: Der ägyptischen Herrscherklasse gönnt Pizzi nobles Blau und antikisierenden Kopfschmuck, während die Israeliten in braun getönten Fellachengewändern stecken.
In der Inszenierung dominieren abgelebte Gesten und Gänge. Sie zeigt bloße Opernfiguren, die ohne einen Hauch psychologischer Anmutung in ausreichendem Corona-Abstand ins Publikum singen, würdig einherschreiten und so tun, als habe schon der Exodus in Form eines altbackenen Chorauftritts stattgefunden. Im Hintergrund fahren derweil von Matteo Letizi animierte feurige Felsbrocken wie in einem alten Videospiel in die Tiefe. Mit einigem visuellen Reiz gelingt in der Videoprojektion nur das allmähliche Auftauchen und spätere Zerbrechen einer bleich leuchtenden Pyramide als Zeichen der ägyptischen Macht auf tönernen Fundamenten; auch der Zug durch das Meer lässt sich als düster-visionäres Endzeitbild lesen.
In Pesaro spielt man Rossinis monumentale Großwerke ungekürzt. So vermittelt sich das untrügliche Formgefühl des Komponisten. In „Moïse et Pharaon“ erklingt daher auch die Ballettmusik, die im dritten Akt ein „Fest der Isis“ begleiten soll. Aber die Chance, einen Gegenentwurf zu der strikten, klar definierten religiösen Welt Israels darzustellen, wird von Gheorghe Iancu mit harmloser Ästhetik vertan. Giacomo Sagripanti leitet das Orchester des italienischen Rundfunks RAI mit Gespür für den würdevollen Ton und mit aufmerksamer Bewältigung des weiträumigen formalen Aufbaus der Musik. Der Chor des Teatro Ventidio Basso aus Ascoli Piceno ist von Giovanni Farina hörbar auf räumlich-plastischen Ton eingestimmt, der vor allem in leisen Momenten sauber und homogen projiziert wird.
Unter den Solisten ragen der – manchmal zu einförmig stimmgewaltige – Bass Roberto Tagliavini als Moses und die Sopranistin Eleonora Buratto als tragisch verliebte Hebräerin Anaï heraus. Buratto gestaltet trotz Schwächen in der Höhe ihr Duett mit Aménophis (Andrew Owens) und ihre Arie im vierten Akt mit einer souverän aus den Mitteln der musikalischen Gestaltung geschöpften Interpretation. Beachtlich auch Vasilisa Berzhanskaya als Pharaonengattin Sinaïde mit stilsicherem, wenn auch technisch nicht immer einwandfreiem Mezzosopran. Ausgerechnet die prominenteste Besetzung erweist sich als fragwürdig: Erwin Schrott als Pharaon gibt selbstbewusst einen schablonenhaft bösewichtigen Pharao und singt grob und laut jenseits aller stilistischen Finessen. So werden die von Rossini kostbar ausziselierten Ensembles zu rüden Parforce-Nummern, in denen sich die Solisten nicht finden und Schrott Linie und Balance auseinanderreißt.
Werner Häußner