Paris:
„HULDA“ von César Franck im Théâtre des Champs-Elysées – 1 VI 2022
„Erstaufführung“ einer vollkommen unbekannten Oper mit einer geheimnisvollen Titelfigur: halb Isolde, halb Brünnhilde und rachedurstig wie Hilda (Kriemhild)
Die Stars des Abends: Jennifer Holloway (Hulda), Gergely Madaras (Dirigent) und das Orchestre Philharmonique Royal de Liège (in der dortigen Salle Philharmonique) © Anthony Dehez
Überraschungen gibt es immer noch. Sie haben richtig gelesen: eine Oper von César Frank! Denn César Franck (1822-1890) gilt als einer der bedeutendsten französischen Komponisten der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, doch man kennt von ihm nur Instrumentalmusik: seine Kammermusik- und Orchesterwerke und, vor allem, seine Kompositionen für Orgel mit dem evergreen „Panis angelicus“. Franck war ein hochgeschätzter Lehrer am Pariser Konservatorium und Organist an der vornehmen Kirche Sainte Clotilde, wo die damalige Pariser High Society andächtig seinem Orgelspiel lauschte und er galt – auch wegen seiner legendären Gutmütigkeit – als ein abgehobenes Zwitterwesen zwischen Engel und Gott. Dass dieser Mann auch noch menschliche, vielleicht sogar „teuflische“ Züge hatte, passte gar nicht ins Bild und deswegen wurden seine Opern durch seine Zeitgenossen und seine ersten Biografen standfest ignoriert. Soviel ich weiß, wurde keine seiner vier Opern zu seinen Lebzeiten aufgeführt und ist es einigen wenigen Vorkämpfern zu verdanken, dass seine wunderbare „Hulda“ nun endlich bekannt wird. Anlässlich seines 200. Geburtstags (am 10 Dezember 2022) präsentiert seine Geburtsstadt Lüttich (Liège im heutigen Belgien) allerhand Veranstaltungen um sein Werk und fand in der dortigen Salle Philharmonique im Mai diese neue „Premiere“ von „Hulda“ statt, in konzertanter Form und in Zusammenarbeit mit dem Palazzetto Bru Zane und dem Pariser Théâtre des Champs-Elysées, das Dankensweise auch solche Raritäten ins Konzertprogramm nimmt.
César Franck (1822-1890), so wie ihn seine Zeitgenossen in Paris kannten: als Organist ein abgehobenes Zwitterwesen zwischen Engel und Gott – aber kein „menschlicher“ Opernkomponist. (Gemälde von Rongier © Palazzetto Bru Zane / Fonds Leduc)
Auf dem Höhepunkt seiner Karriere machte César Frank 1879 eine Pause, um es noch mal mit der Oper zu versuchen. Nachdem seine beiden „Jugendsünden“, die Lustspiele „Stradella“ (um 1841) und „Le Valet de ferme“ (1851-53), keinen Anklang gefunden hatten, versuchte er es nun mit der „großen Oper“, ganz im Sinne des damaligen französischen „Wagnérisme“. Er scheint sechs Jahre an „Hulda“ gearbeitet zu haben, doch die Antwort der Pariser Oper um 1885 war vernichtend: „Pièce absolument impossible“ steht auf dem „rapport de lecture“. Auf deutsch: vollkommen unmöglich! Franck versuchte es noch einmal kurz vor seinem Tode mit „Ghiselle“ (1888-90), die er jedoch nie zu Ende orchestriert hat. So ist es der Hartnäckigkeit seines ältesten Sohnes zu verdanken, dass „Hulda“ posthum 1894 in Monte Carlo und in Folge bis 1899 in Toulouse, Den Haag und Nantes gespielt wurde. Danach wurde das Stück vergessen und überlebte nur die Ballett-Musik (im Konzertsaal und auf Platte). Fast 100 Jahre später wurde „Hulda“ 1979 und 1994 zum ersten Mal wieder an zwei englischen Universitäten gespielt, bis 2019 der äußerst verdienstvolle Dirigent Fabrice Bollon eine szenische Fassung in Freiburg durchsetzte, in einer Inszenierung von Tilman Knabe, mit einer „World Premiere recording“ auf Platte (bei Naxos). Doch nun stellt sich heraus, dass schon gleich bei der Premiere 1894 in Monte Carlo ganz erhebliche Striche gemacht wurden (die nicht in der Partitur verzeichnet sind), um „Hulda“ zu „wagnerisieren“. Deswegen hat das Palazzetto Bru Zane nun zusammen mit dem Verleger Choudens eine „vollständige Fassung“ erarbeitet, die man jetzt erst hören kann und die eines Tages in ihren berühmten CD-Buch-Serie „Opéra français“ erscheinen soll.
Eine „Mordgeschichte“ um ein „Mordsweib“
„Hulda“ bietet ganz wunderbare Musik, doch es ist verständlich, dass seine Länge (3 Stunden Musik) und, vor allem, seine mörderische Handlung die damaligen und heutigen Operndirektoren abschreckt(e). Das Libretto von Charles Grandmougin (der auch für Massenet gearbeitet hat) basiert auf einem Drama des norwegischen Autors Björnsterne Björnson „Hulda, die humpelnde“ (1870 als „Hulda la boiteuse“ übersetzt). Grandmougin bediente sich auch freizügig bei Wagner: das große Liebesduo im dritten Akt – quasi die zentrale Szene des ganzen Werkes – ist eine deutliche Paraphrase von der Liebesnacht aus „Tristan und Isolde“. Doch Hulda ist nur zum Teil eine Isolde, da offensichtlich noch viele andere Figuren und Vorlagen mit in sie einflossen: Sie stammt aus Island und ist kämpferisch wie Brünnhilde und gleichzeitig so rachedurstig wie Kriemhilde in „Kriemhilds Rache“ von Hebbel (1860) – heute vor allem bekannt durch den gleichnamigen Stummfilm von Fritz Lang (1924). Dazu kommen noch einige norwegische Vorlagen, so wie meines Erachtens die „Frithjofssage“, eine altnordische Heldensage aus dem 15. Jahrhundert, wo eine Ingeborg vergeblich einen Frithjof an der anderen Seite des Fjords vergeblich liebt, bis Frithjof seinen Nebenbuhler erschlägt und beide heiraten. Hulda erscheint anfangs als unschuldige Ingeborg, übt dann Kriemhilds Racheschwur, bevor sie sich am fremden Hofe in einer verbotenen Liebe zu einer hingebungsvollen Isolde wandelt, um schließlich als männermordende Brünnhilde (des Nibelungenlieds) alle Männer, die sie lieben, zu töten. Eine komplizierte Mordgeschichte, so wie der Name „Hulda“ es schon sagt: einerseits „die Holde“, anderseits „Hilda“ (aus dem althochdeutschen „hiltja“, der Kampf) wie die Hilde (Kriemhild) im „Sigurd“ (Siegfried) von Ernest Reyer (1884), einer der prägendsten Opern des französischen Wagnérisme.
In Tristan-ähnlichen „Vorspiel“ stehen Hulda und ihre Mutter vor dem Haus und warten auf die Rückkehr von der Jagd der Männer der Familie Hustawick. Bei ihrem Duett „Voici que le soleil décline sur la mer“ glaubt man sich beinahe schon bei Debussy. Doch die düstere Vorahnung der Mutter wird bestätigt und es erscheint des böse Gutleik, der älteste Sohn der verfeindeten Sippe der Aslak, die alle Hustawick-Männer erschlagen haben und die Frauen an ihren Hof verschleppen. 2. Akt: Zwei Jahre später soll Hulda dort mit Gutleik heiraten, doch die Schwiegermutter Gudrun ahnt Böses bei der festlichen Hochzeit: Gutleik hat vier eifersüchtige Brüder, die alle auch in die blonde Hulda verliebt sind… Diese erfindet nun eine List um der vorstehenden Zwangsheirat zu entgehen und gelobt ihre Hand dem starken Helden, der mit Gutleik kämpfen will. Daraufhin erschlägt blonde der Eiolf den Bräutigam zum allgemeinen Entsetzen, vor allem dem seiner eigenen Verlobten Swanhilde. 3 Akt: In einer Vollmondnacht oben auf dem Turm des Schlosses („sommet d’une terrasse crenellée par un clair de lune d’une nuit d’été“) gestehen sich Hulda und Eiolf wie Tristan und Isolde ihre Liebe: „divine extase, tout n’est qu‘ivresse, tout n’est que printemps“. 4 Akt: der Hof versammelt sich zu einem nächtlichen Fest im Park, wo Tänzer die widersprüchlichen Gefühle der Protagonisten in fünf Balletten zum Ausdruck bringen. Anfangend mit dem „Kampf zwischen Winter und Frühling“ („Lutte de l’hiver et du printemps“), in dem die lieblichen Elfen siegen. Die Liebe kehrt zurück, auch für Eiolf und seine (Ex-)Verlobte Swanhilde und zum Entsetzen für die betrogene Hulda, die nun wieder auf Rache sinnt. Nachdem Gudruns Mann Aslak aus Versehen seinen eigenen Sohn Arne erschlagen hat (als dieser verliebt vermummt an Hulda heranschlich), erstechen im Epilog die restlichen Brüder auf Huldas Geheiß den „Verräter Eiolf“ – wonach sich Hulda von der hohen Felsenklippe in den Fjord stürzt – in der Hoffnung, dass ihre „gramzerfurchte Seele dort endlich Ruhe findet“.
Was für eine Geschichte!
Links ein zwischen zwei Frauen schwankender „Tristan“: Edgaras Montvidas (Eiolf) zwischen Jennifer Holloway (Hulda) und Judith van Wanroij (Swanhilde). © Anthony Dehez
Musikalisches „raffinement“ einer „weitläufigen lyrischen Symphonie“
Nach dem Lesen einer solchen Handlung erwartet man eigentlich eine wuchtige Wagnertöne. Doch die musikalische Umsetzung von César Frank ist total anders: „Hulda“ könnte man als eine „weitläufige lyrische Symphonie“ bezeichnen, wie es der Musikwissenschaftler Gérard Condé in seinem leider viel zu kurzen Programmtext schreibt. Die Hauptperson des Abends sind das Orchester und der Chor, hier das fulminante und zugleich feinfühlige Orchestre Philharmonique Royal de Liège unter Leitung seines temperamentvollen Dirigenten Gergely Madaras und der exzellente Chœur de Chambre de Namur unter der Leitung von Thibaut Lenaerts (mit einem ganz besonderen Lob für die Soli des Männerchors). Das Orchester und der Chor sind nämlich die „Stimmungsmaler“ dieser fast oft impressionistischen Partitur, wo die Tageszeiten, Sonnenuntergänge und Mondaufgänge eine große symbolische Rolle spielen, in einer fein ausgearbeiteten, immer leicht changierenden Orchestrierung. So sind die Ballette einer der musikalischen Höhepunkte (und wurden deswegen schon durch das Orchestre Philharmonique Royal de Liège als CD eingespielt). Natürlich auch das lange Liebesduett des 3. Aktes, erstaunlicherweise der einzige wirklich leidenschaftlicher Akt für Hulda. Denn sie ist musikalisch weder eine brennende Brünnhilde noch eine kriegerische Kriemhild, sondern alles zusammen und gleichzeitig eine Geheimnis-umwobene Frau, aus der niemand schlau wird (wie einige Jahre später Mélisande). Sogar für die Männer, die sie umbringen lässt, zeigt sie noch Sympathie und …Liebe? Für eine solche Rolle braucht man eine Ausnahmesängerin und Jennifer Holloway scheint da eine Idealbesetzung, mühelos changierend von zarter Verträumtheit mit traumhaften Piani zu emotionsgeladenen Ausbrüchen, wo ihr dunkel gefärbter Sopran nie scharf wird (Sie singt auch Elsa, Sieglinde und Elisabeth). Und vor allem: man nimmt ihr die ganze komplexe und widersprüchliche Rolle bedingungslos ab. Dagegen verblasst Edgaras Montvidas als Ritter Eiolf. Er singt zwar tadellos mit großem Einsatz, aber eben mit französischer Kultur und ohne Wagner-Erfahrung. Vielleicht bräuchte man für diese Rolle einen Sänger, der auch wenn nicht Siegfried, zumindest Tristan singen könnte? Véronique Gens ist eine Luxusbesetzung als Huldas Schwiegermutter Gudrun und stellt damit die anderen Damen etwas in den Schatten: Judith van Wanroij als Swanhilde, Marie Gautrot als Huldas Mutter und Ludvine Gombert als (oben nicht erwähnte) Thördis. Matthieu Lécroart ist ebenfalls eine Luxusbesetzung als Gudleik, dem die Männer des Aslak-Stammes den Wikinger-Kelch reichen können: Christian Helmer (Aslak), Artavazd Sargsyan (Eyrick), François Rougier (Gunnar), Sébastien Droy (Eynar), Matthieu Toulouse (Arne) und Guilhem Worms (Thrond), der danach noch eindrucksvoll a capella einen imposanten Boten sang.
Rechts die böse Sippe der Aslak: Matthieu Lécroart (Gudleik), Véronique Gens (Gudrun), Artavazd Sargsyan (Eyrick), François Rougier (Gunnar), Sébastien Droy (Eynar), Guilhem Worms (Thrond) und Matthieu Toulouse (Arne). © Anthony Dehez
Nur Komplimente für alle Beteiligten für diesen hochinteressanten Abend auf höchstem musikalischem Niveau. Sie waren alle mit Feuer und Flamme bei der Sache und der Funke schlug auf das Publikum über, das ihnen einen riesigen Applaus schenkte. Pausen-Gesprächsthema war natürlich, warum diese wunderschöne Oper so gut wie nicht gespielt wird. Einer der Befragten, Stefano Pace, der neue Intendant der Oper in Lüttich (die das Projekt auch unterstützt hat), meinte offen, dass mit dem heutigen „Auslastungszwang der Opernhäuser“, er unmöglich ein Werk ansetzen kann, was wahrscheinlich nicht vier Abende lang den ganzen Saal füllt. Womit man ihm leider recht geben muss. Aber vielleicht wird sich dies mit dem aktuellen Interesse für den „Wagner-Kosmos“ noch ändern. Bis es soweit ist, kann man „Hulda“ auf Platte hören (bei Naxos), die jetzige Vorstellung auf MEZZO sehen (www.mezzo.tv, Ausstrahlungstermin noch nicht bekannt) und in absehbarer Zeit als CD-Buch hören und mehr zu der „vollständigen Fassung“ erfahren (in der Serie „Opéra français“ des Palazzetto Bru Zane). Waldemar Kamer
Weitere Infos: www.bruzanemediabase.com
(mit u.a. einem Konzert auf Francks legendären Cavaillé-Coll-Orgel in der Sainte-Clothilde am 15. Juni)
Waldemar Kamer/ Paris