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PARIS/ Théâtre des Champs-Elysées: „FAUSTO“ von Louise Bertin und „ROMANTISCHE KOMPONISTINNEN“

PARIS: „FAUSTO“ von Louise Bertin und „ROMANTISCHE KOMPONISTINNEN“ am Théâtre des Champs-Elysées – 20 + 23 6 2023

Erstaunliche Funde: Eine vollkommen unbekannte Oper (seit 1831 nicht mehr gespielt) und ein Konzert & CD-Box mit 165 Werken von 21 unbekannten Komponistinnen.

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Wiederentdeckte Komponistinnen, deren Werke ab 2024/25 auch auf deutschen Opernbühnen zu sehen sein werden. Von links nach rechts: Louise Bertin (1805-1877, bald „Fausto“) Clémence de Grandval (1828–1907, „Mazeppa“), Augusta Holmès (1847–1903, „La Montagne noire“), und Pauline Viardot-Garcia (1821–1910, „Der letzte Zauberer“). © Palazzetto Bru Zane

Gab es wirklich so viele heute völlig unbekannte Komponistinnen? Man kommt aus dem Staunen nicht heraus… Komponistinnen sind so alt wie die Musik und die Musikgeschichte, die bekanntlich mit der legendären Sapho in Griechenland anfing im Jahre 612 vor unserer Zeitrechnung. Und man hat sich immer schon für sie interessiert: vor 10-15 Jahren habe ich zum Beispiel Konzertserien organisiert über Beginen, die im Rahmen der „Rheinländischen Mystik“ direkten Kontakt mit Gott über die Musik suchten. Das waren nicht nur Hildegard von Bingen (1098-1179), sondern da gab es auch eine Marguerite Porète (1250-1310), die der damaligen Kirche überhaupt nicht gefiel und deswegen als „Hexe“ vor dem Rathaus in Paris verbrannt wurde. Ihre Kolleginnen im Minnesang hatten es da leichter, denn das waren meist adelige Damen wie die Gräfin Beatrix de Die in der Provence, wo Niemand wagte zu protestieren. Und in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts gab es in Florenz eine vielbeachtete Riege von Komponistinnen um Francesca Caccini (1587-1640) und Barbara Strozzi (1619-1664), beide Töchter von Komponisten, die am Hof der Medici hoch in Ehren standen – auch wunderbare Musik! Also das Thema ist nicht ganz so neu und nicht alle Komponistinnen wurden furchtbar schlecht behandelt, so wie man es jetzt öfters liest. Aber gerade wenn man sich schon mit diesem Thema befasst hat, kommt man aus dem Staunen nicht heraus: dass nun in einem Ruck so viele bis dato völlig unbekannte Damen zusammen das Podium betreten, das hätte man sich nicht vorstellen können!

Im Rahmen des allgemeinen Interesses für Frauen in der Musik, hat das Palazzetto Bru Zane ihnen nun sein jährliches Juni-Festival in Paris gewidmet. Und wie üblich bei dieser Stiftung für unbekannte französische Musik aus dem 19. Jahrhundert, geht man besonders gründlich und wissenschaftlich verantwortlich vor. So fing man im Januar in Avignon an mit „Serenade“ (1818), einer opéra-comique von Sophie Gail (1775-1819), die nun szenisch durch Frankreich tourt. Im Februar gab es in Metz ein Konzert Richard Wagner – Augusta Holmès (1847-1903). Denn die „Walküre“ (so wurde sie in Paris genannt), war schon 22-jährig zum Meister nach Bayreuth gereist und nahm es in ihren Kompositionen mit ihm auf – riesige Werke, wo sie manchmal selbstbewusst 1.200 Mitwirkende forderte! Im Juni entdecken wir nun „Fausto“ von Louise Bertin, ein Konzert mit sieben „Romantischen Komponistinnen“, eine CD-Box mit 21 Komponistinnen und mehrere Bücher über Komponistinnen. Ein beeindruckendes Programm, an dem offensichtlich viele Jahre gründlich gearbeitet wurde – Bravo!

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Fausto-Schlussapplaus in Paris : Christophe Rousset, sein Spezialisten-Ensemble Les Talens Lyriques & Vlaams Radiokoor. Links und rechts von ihm die beiden Hauptprotagonisten: Karine Deshayes (Fausto) und Ante Jerkunica (Mefistofele)., © Gil Lefauconnier

 

„Faust“ auf Italienisch mit „französischer Musik“  

Louise Bertin (1805-1877) ist keine Unbekannte. Ihr Hauptwerk, die spektakuläre „La Esmeralda“ nach „Notre-Dame de Paris“ von Victor Hugo (der eigenhändig das Libretto für sie schrieb), wurde 1836 an der Pariser „Grand Opéra“ gespielt und wird in den letzten Jahren regelmäßig gegeben: 2002 szenisch in Besançon, noch ohne Orchester (es gab vor 20 Jahren nur einen Klavierauszug von Franz Liszt, der die Proben geleitet hatte) und 2008 konzertant in Montpellier mit Chören & Orchester (zu sehen und zu hören auf YouTube). Ein Riesen-Werk so wie die grands-opéras von Meyerbeer. Das war schon ihre fünfte Oper in zehn Jahren. Erst gab es „Guy Mannering“ (nach Walter Scott, 1825), „Le Loup-garou“ (von Scribe, 1827) und den besagten „Fausto“ (nach Goethes „Faust“, 1831). Und nicht irgendwo in Paris: an der Opéra-Comique, der Pariser Oper und am Théâtre-Italien – Sie war anscheinend die erste Komponistin, die es schaffte quasi gleichzeitig an allen drei damaligen Opern in Paris gespielt zu werden. Dass eine so junge und unverheiratete Frau – sei es mit Hilfe von Liszt und Berlioz – den damaligen Operndirektoren selbstbewusst ihre Werke vorlegen konnte, hatte erst einmal mit ihrer Familie zu tun. Bertins Vater war der Herausgeber des damals sehr einflussreichen Journal des débats politiques et littéraires, das in den Jahren 1825-30 mehrere Regierungen stürzte und mit dem Jeder, der irgendwelche Ambitionen in Kunst und Politik in Paris hatte, auf gutem Fuß stehen wollte/musste. Dazu war Louise Bertin zwar körperlich behindert (sie lief wegen Kinderlähmung mit Krücken), aber geistig sehr rege und höchst belesen. Denn schon 1826 veröffentlichte sie eine „Ultima scena di Fausto“ („Letzte Szene“ ihrer also dann schon vollendeten Oper „Fausto“) und das war zwei Jahre vor der berühmten Übersetzung von Gérard de Nerval (1828), die unter anderem Hector Berlioz zu seinen „Huit Scènes de Faust“ (1829) inspirierte – und eine ganze „Goethemanie“ in Frankreich einläutete. Und ganze 23 Jahre vor dem „Faust“ von Gounod (1849), vielleicht die meist gespielte Oper des 19. Jahrhunderts (siehe unsere letzte Rezension aus Paris). Die Entstehungsgeschichte von 1826 bis zur Aufführung 1831 ist komplex: Bei der Edition der Partitur – „Fausto“ wird zum ersten Mal seit 1831 wieder gespielt – stellte man beim Palazzetto fest, dass das ursprünglich französische Libretto ins Italienische übersetzt worden war, damit das Werk an dem Théâtre-Italien aufgeführt werden konnte, und es unzählige Varianten für die Hauptrolle gab, die gleichzeitig für einen Tenor und einen Mezzosopran angedacht war.

Es gab also viele Kompromisse, die für unsere Ohren erst einmal recht gewöhnungsbedürftig sind: französische Oper auf Italienisch nach Goethes „Faust“. Denn in der ersten Szene hören wir nicht: „Habe nun, ach! Philosophie, Juristerey und Medicin, Und leider auch Theologie! Durchaus studirt, mit heißem Bemühn. Da steh’ ich nun, ich armer Thor! Und bin so klug als wie zuvor.“ Sondern: „Tutte volsi e rivolsi de’ legisti e filosofi le carte; studiai teologia, pur troppo! Oh quale, qual di tanto sudor frutto raccolsi?“. Auch musikalisch wird man nicht ganz schlau aus dieser „Opera semi-seria en quatre actes“ (italienisches Genre in französischer Form). Die Ouvertüre und viele Rezitative erinnern an Mozarts „Don Giovanni“, manchmal fast wie ein „Pasticcio“ (man erkennt z.B. Leporellos „Katalog-Arie“), gleichzeitig hört man im Orchester Beethoven und den „Freischütz“ durchschimmern, in den Tenor-Arien Rossini und Donizetti und in den großen Chören Meyerbeer. Auch Fausto selbst ist stilistisch und im Ambitus sehr breit angelegt. Karine Deshayes – offensichtlich etwas ermüdet durch die Plattenaufnahme gleich davor – schlägt sich tapfer durch diese riesige Hauptrolle. Da haben es Karina Gauvin (Margarita, stilistisch perfekt) und Nico Darmanin (Valentino, wunderbare cantabile-Arien) wesentlich leichter. Die beste Partie des Abends ist der listige und teuflische Mefistofele, der durch Ante Jerkunica beeindruckend gesungen wird (in Berlin schon als König Marke und in Wien schon als Sarastro zu hören). Neben ihm verblassen Marie Gautrot (Catarina), Diana Axentii (Una strega, Marta) und Thibault de Damas (Wagner, Un banditore) – aber das liegt mehr an den Rollen als an den Sängern. Die musikalische Umsetzung war – wie immer beim Palazzetto – sehr genau und historisch informiert: Christophe Rousset dirigierte mit Verve sein Spezialisten-Ensemble Les Talens Lyriques (ein Extra-Lob für die Bläser mit den so schwierig bespielbaren (damaligen) Naturtrompeten und Naturhörnern!) und den Vlaams Radiokoor. Im Januar kann man sich das alles auf Platte anhören und in einem neuen CD Buch des Palazzettos sicher viel Interessantes dazu lesen und gleichzeitig wird es eine allererste szenische Fassung geben im Aalto Musik- Theater in Essen (mit Tenor). Wir sind gespannt!

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CD-Box „Compositrices“: 8 CDs mit 165 Werken (meist Ersteinspielungen) von 21 unbekannten Komponistinnen: über 10 Stunden Musik zum Kennenlernen. © Palazzetto Bru Zane

Sieben unbekannte „Romantische Komponistinnen“

Zwei Tage später gab es im gleichen Théâtre des Champs-Elysées – akustisch und optisch ideal für diese Art von Musik – ein Konzert für Orchester (in mittlerer Besetzung) und Klavier, um sechs weitere Komponistinnen vorzustellen. Der Abend wurde eröffnet mit der Ouvertüre der Erstlingsoper von Louise Bertin „Le Loup-garou“ (auf Deutsch „Der Werwolf“, 1827), einer Einaktigen komischen Oper (opéra comique) wahrscheinlich im Geiste des „Freischütz“. Das war schon viel mehr eine eigene Tonsprache als „Fausto“, aber sehr viel mehr kann man auch nicht über diese 6 Minuten sagen. Es folgten viele kürzere, angenehme Stücke, wie eine Art „Aperitif“ um auf diese vollkommen unbekannten Komponistinnen einzustimmen. Als erste die sinnliche Orchester-suite „La Nuit et l’Amour“ von Augusta Holmès (1847–1903). Wie oben schon erwähnt war sie eine bärenstarke Frau, die mutig mit allen damaligen Konventionen brach. Von englisch-irischer Abstammung kam sie nach Paris zu ihrem Patenonkel, dem Schriftsteller Alfred de Vigny, der ihr ein sehr breites Studium ermöglichte – sie hatte neben ihrer offensichtlichen musikalischen Begabung auch noch Talent für Malerei und Literatur und schrieb selbst die Mehrzahl ihrer Libretti – ohne dass sie anscheinend je eine Kunstschule oder ein Konservatorium besucht hat. Sie bekam exzellenten Privat-Unterricht, u. A. von César Franck wurde, mit dem sie eine Affäre gehabt haben soll (so die damaligen eifersüchtigen bösen Zungen, die damals in gleicher Art über viele Komponistinnen herzogen) und war zwanzig Jahre lang die Lebensgefährtin des (verheirateten) Schriftstellers und Wagnerianers Catulle Mendès, mit dem sie fünf Kinder bekam. Sie ging in die Musikgeschichte ein mit ihrer „Ode triomphale en l’honneur du centenaire de 1789“ während der Weltausstellung von 1889 (100 Jahre französische Revolution) mit mehr als 1000 Mitwirkenden (!), doch ihre großen Opern „Astarté“, „Lancelot du lac“ und „Héro et Léandre“ wurden zu ihren Lebzeiten niemals aufgeführt – und auch danach nicht. Nur „La Montagne noire“ 1895 kam auf die Bühne der Pariser Oper und soll nur nächstes Jahr in Dortmund wieder gespielt werden. Was für eine Frau und was ein Werk! Man hört es leider nicht raus aus diesem sinnlichen „Lied“, das mich erstaunlicherweise etwas an das (viel spätere) „Dein ist mein ganzes Herz“ von Franz Lehàr erinnerte.

Ähnlich erging es mit dem lieblichen Stück von Louise Farrenc (1804–1875), die 1821 den Flötisten Aristide Farrenc geheiratet hatte, der seinen Musikerberuf aufgab, um sich der Herausgabe von Noten zu widmen, vor allem der Veröffentlichung der Werke seiner hochbegabten Frau. Farrenc gilt als Wegbereiterin in der französischen Musikgeschichte mit ihren beiden Klavierquintetten op. 30 und 31, sowie allgemein für ihre Klaviermusik: sie war von 1842 bis 1873 Professorin für Klavier am Pariser Konservatorium und, vor allem, anscheinend die einzige Frau, die ganze Sinfonien komponiert hat, die damals auch in Deutschland gespielt wurden – Franz Liszt fand sie „genial“! – und die man sich in der CD Box nun anhören kann (tolle Musik!). Von Clémence de Grandval (1828–1907) gab es nur drei Tänze aus (oder nach?) ihrer Oper „Mazeppa“ (1892 in Bordeaux, die nun nächstes Jahr in Deutschland wieder gespielt werden soll) und von Jeanne Danglas (1871–1915) einen lieblichen Walzer: „Du coeur aux lèvres“. Auch für Mel Bonis (1858–1937) gab es nur eine „Suite en forme de valses“, obwohl es da wohl inhaltvolleres gegeben hätte. Aber dafür eröffnet sie die CD Box, wo sie den „Löwinnen-Anteil“ nimmt, mit ihren „Orchesterträumen“ „Le rêve de Cléopâtre“, „Ophélie“ und „Salomé“ und hat das Palazzetto ihr 2020 ein dickes Buch gewidmet und schon 2012 ein Platte mit Klavierstücken. Der Abend endete mit dem Klavierkonzert N°2 von Marie Jaëll (1846–1925). Ein sehr „kräftiges“ Stück (also keineswegs „lieblich“ oder „weiblich“), denn Jaëll verstand etwas von Klaviertechnik und galt als brillante Solistin. Nachdem sie 1883–85 Mitarbeiterin (?) von Franz Liszt in Weimar gewesen war – zuvor war sie die „Sekretärin“ von Camille Saint-Saëns – war sie die erste Pianistin, die in Paris 1891 Liszts „Gesamtwerk“ zur Aufführung brachte und danach (1892-94) alle 32 Klaviersonaten von Beethoven spielte. David Kadouch hat ihr hoch-virtuoses Konzert wunderbar gespielt und – obwohl danach „seine Finger müde waren“ – danach noch eine Zugabe: ein berührendes Klavierstück von Fanny Mendelssohn. Hervé Niquet dirigierte das sehr motivierte Orchestre de chambre de Paris mit „Bonhomie“ und einer überbordenden guten Laune, mit als Zugabe einen weiteren Walzer von Jeanne Danglas: „Sur l’aile d’un rêve“. Danach bestürmten die Besucher den riesigen Tisch mit Editionen des Palazzetto Bru Zane im Foyer des Theaters, um mehr über diese unbekannten Komponistinnen zu erfahren, und das war genau der Sinn des Konzerts.

 

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Wer mehr dazu lesen will: „Women Composers in New Perspectives, 1800-1950“ (Herausgeber: Mariateresa Stornio und Susan Wollenberg) und „Lettres de Charles Gounod à Pauline Viardot“ (editiert durch Melanie von Goldbeck). © Palazzetto Bru Zane

 

Eine CD-Box mit 165 Werken (!) und zwei Bücher

Sie haben richtig gelesen: 165 unbekannte Werke von 21 meist unbekannten Komponistinnen.

Erst einmal alle Achtung für die Herkules-Aufgabe, die Etienne Jardin, „director of research and publications“ und sein Team des Palazzettos geleistet haben. Denn es handelt sich meist um Ersteinspielungen, für die in beinahe allen Fällen erst einmal die Partituren hergestellt und Werkkataloge aufgestellt werden mussten, was gerade bei den vielen Komponistinnen, die erst unter verschiedenen (männlichen) Pseudonymen auftraten, eine wirkliche Detektivarbeit war. Fünf Jahre Vorlauf für eine CD-Box! Dann alle Bewunderung für den künstlerischen Leiter Alexandre Dratwicki, der hier für die passenden Interpreten und Orchester gefunden hat, die bereit waren, sich auf diese unbekannten Werke einzulassen (insgesamt 35 Namen – zu viel um sie jetzt alle zu nennen). Drei Jahre lang Aufnahmen! Es ist unmöglich 8 CDs mit über 10 Stunden Musik „en detail“ zu rezensieren, sicher bei so einer Vielfalt von Werken, die man schwierig auf einen Nenner bringen kann. Soviel nur dazu: Wie erwartet gibt es viele Romanzen und Lieder (für Klavier und Gesang), Klavierstücke (kleine Sonatinen) und Kammermusik – wie man sich das bei Damen vorstellt. Aber eben nicht nur das: wenn es folgen virtuose Konzerte für Gesang oder Instrument mit Orchester (Klavier, Geige, Cello, Flöte), groß angelegte Orchesterstücke und die schon erwähnte Sinfonie n°3 von Louise Farrenc (mit 4 Sätzen fast 40 Minuten). Und diese Werke entsprechen überhaupt nicht dem, was damals als „weiblich“ empfunden wurde. Wie es dazu kam, ist ein hochinteressantes Thema, zu dem in letzter Zeit sehr viel veröffentlicht wird. Auch ein delikates Thema, denn man muss historisch genau vorgehen und kann nicht so schnell verallgemeinern. So ist es z.B. nicht so, dass Frauen prinzipiell der Zugang zum Konservatorium „verweigert“ wurde. Als das Pariser „Conservatoire“ 1795 eröffnete – als erstes öffentliches in der Welt – geschah dies natürlich nach dem revolutionären Prinzip von „Liberté-Égalité-Fraternité“, also Mädchen wurden genauso zugelassen wie Jungs. Doch das Durchschnittsalter der Schüler war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts 10-15 Jahre – da hatten also die Eltern das Sagen, sprich die damaligen gesellschaftlichen Erwartungen an eine zukünftige (Ehe-)Frau und Mutter. Die erste Klavierdozentin am Konservatorium 1795 war übrigens eine Frau, Hélène de Montgeroult (1764–1836, auch als Komponistin in der CD-Box), die behauptete, sie wäre während der Revolution als Aristokratin von der Guillotine verschont Geblieben, weil sie vor dem Comité de salut public einwandfrei über die „Marseillaise“ improvisierte hätte. Sie gab natürlich auch Jungens Unterricht. Aus welchen Gründen auch immer, Tatsache ist, dass zwischen 1822 und 1906 in den Kompositionsklassen des Pariser Konservatoriums nur 8 % der Studierenden Mädchen/Frauen waren – was sicherlich Einfluss hatte auf ihre künstlerische Entwicklung, wenn man nicht so „bärenstark“ war wie die oben erwähnten Louise Bertin oder Augusta Holmès. Das wird man sicher in Zukunft noch genauer untersuchen. Die 21 Komponistinnen der CD Box werden weder chronologisch oder alphabetisch noch nach Genre vorgestellt, sondern jede der acht Platten ist wie ein Konzert gestaltet, mit erst kleineren und dann größeren Stücken. Das Booklet beschränkt sich auf ihre Biografien ohne genauer auf ihre 165 Werke einzugehen – das wäre in diesem Format auch nicht möglich gewesen. Einige Bekanntere, wozu es schon Aufnahmen gibt, wurden ausgelassen, so wie die Opern, die einzeln aufgenommen werden sollen – mit neuen CD Büchern natürlich. Es geht bei dieser CD-Box also um eine Präsentation der vorhanden Vielfalt, um ein „Kennenlernen“.

Wer mehr dazu wissen möchte, findet beim Palazzetto mehrere interessante Bücher: Biographien von Mel Bonis und Augusta Holmès und das wissenschaftliche Buch Women Composers in New Perspectives, 1800-1950. In diesem wird viel weiter ausgeholt als Frankreich (das Forschungsgebiet des Palazzettos) und liest man auch noch über andere französische Komponistinnen aus der Zeit. So sehr interessant über Sophie Gail (1775-1819), eine für damalige Verhältnisse stark emanzipierte Frau, die sich 1801 von ihrem Mann scheiden ließ, danach drei uneheliche Kinder mit drei verschiedenen Männern bekam und alle ihre vier Söhne durch die Väter erziehen ließ, damit sie sich ganz ihrer Karriere widmen konnte. Und diese war nicht klein: ihre Erstlingsoper „Les Deux Jaloux“ (1813) gehörte mit über 300 Aufführungen zu den zehn meist gespielten Werken der Opéra Comique (bis 1830) und wurde schon gleich nach der Uraufführung in ganz Frankreich gespielt, auch in Brüssel, Lausanne und Wien: 1814 am Kärtnertor-Theater (Vorläufer der Hof-, nun Staats-Oper) als „Die beyden Eifersüchtigen“. Ihre oben erwähnte Oper „Serenade“ (1818), mit der dieses „Frauen-Jahr“ des Palazzettos im Januar in Avignon anfing, war schon ihre fünfte und soll in den nächsten Jahren noch öfters gespielt werden. Last but not least gibt es ein (neues) Buch zu Pauline Viardot-Garcia (1821–1910). In einer Sängerfamilie geboren, war Pauline nur 15 als ihre ältere Schwester Maria, die legendäre „Malibran“ 28-jährig vom Pferd stürzte und (quasi) auf der Bühne starb. Daraufhin musste Pauline, die eigentlich Pianistin werden wollte und exzellenten Unterricht bei Franz Liszt bekam, sich als Sängerin ausbilden um den Platz ihrer Schwester einzunehmen. Was ihr absolut gelungen ist. Aber wenn ein Komponist wie Charles Gounod, wie man es jetzt lesen kann, ihr an die 500 Seiten Briefe schreibt, dann war sie deutlich mehr als „nur“ eine Sängerin. Sie nutzte ihre Kontakte in ganz Europa, um junge oder „schwierige“ Komponisten zu fördern (Charles Gounod, Hector Berlioz, Camille Saint-Saëns, Gabriel Fauré, Jules Massenet etc), leitete von 1863 bis 1870 ein eigenes Theater in Baden-Baden, dass durch sie ein Musikzentrum wurde, war eine hoch angesehene Musikpädagogin (auch wenn es darum ging wie man Chopin spielt) und natürlich auch eine Komponistin (bald will das Palazzetto ihre Oper „Der letzte Zauberer“, Baden-Baden 1867, aufnehmen). Melanie von Goldbeck, die nun die Briefe von Gounod veröffentlicht, arbeitet nun an einer Ausgabe der Briefe von Pauline Viardot-Garcia – eine Riesen-Arbeit, da sie fließend fünf Sprachen beherrschte und in denen auch schrieb. Quelle femme! In diesem Sinne sind diese Hülle und Fülle an Informationen über Komponistinnen nur ein Eintauchen in einen ganzen Kosmos, der sich nun erst langsam für uns erschließt – und wo sicher noch viele Entdeckungen in den nächsten Jahren auf uns warten.

Waldemar Kamer

 

Partitur „Fausto“ und das CD-Buch beim Palazzetto Bru Zane: www.bru-zane.com

Ab 27. Januar 2024 szenisch im Aalto-Musiktheater in Essen (mit Tenor) im Rahmen des Komponistinnenfestival „Her voice“

+ CD-Box „Compositrices, New light on French Romantic Woman Composers“

+ Buch „Women Composers in New Perspectives, 1800-1950bei Brepols

+ „Lettres de Charles Gounod à Pauline Viardot“ (Melanie von Goldbeck) bei Actes Sud

+ viele Opernprojekte für 2024/25 in Deutschland

 

 — Notizen für den Opernfreund —

 Fausto von

Louise Bertin

Théâtre des Champs-Elysées, Paris

Besuchte Vorstellung: 20. Juni 2023

Musikalische Leitung: Christophe Rousset

Orchester: Les Talens Lyriques

Chor: Vlaams Radiokoor

 

 

 

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