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PARIS: „GALA-KONZERT 10 JAHRE PBZ“Théâtre des Champs-Elysées

08.10.2019 | Konzert/Liederabende


Zum Schluss ein Stück Geburtstagstorte für Jeden. Stehend von links nach rechts: Cyrille Dubois, Judith van Wanroij, Emmanuel Ceysson, TassisChristoyannis, Chantal Sanson-Jeffery und Véronique Gens. Hinter ihnen der Dirigent Hervé Niquet mit dem Orchestre de Chambre de Parisund dem Choeur du Concert Spirituel. Copyright: Palazzetto BruZane / Nicola Bertasi

Paris:„GALA-KONZERT 10 JAHRE PBZ“Théâtre des Champs-Elysées – 7 102019

Zum zehnjährigen Jubiläum des PalazzettoBruZane ein Galakonzert und eine erstaunliche CD Box mit zehn Platten voller französischen (Opern)Raritäten.

 Es ist kaum zu glauben, was in zehn Jahren schon alles passiert ist. Als vor zwölf Jahren der Dirigent Hervé Niqueteine der vermögendsten Frauen FrankreichsDr Nicole Bru darauf aufmerksam machte, das es viele Stiftungen gibt, die sich erfolgreich für Barockmusik einsetzen (wie das staatlich unterstützte „CentreMusiqueBaroque de Versailles“), abergar nichts für die romantische Musik, entstand die Idee dieses Forschungszentrums für französische Musik, beginnend mit der Gluckschen Opernreform um1780 und endend mit dem Ausklang der Belle Epoque um 1920. Der logische Platz für eine solche Stiftungwäre eines der vielen leerstehenden Theater oder Opernhäuser in Paris gewesen, doch MmeBru entschied sich für ein Palazzo mit Musiksaal in Venedig, um dem Projekteine internationale Dimension zu geben. Und da das Palazzetto keinen eigenen Theater-Saal besitzt, touren seine Opernproduktionendurch die Welt, inzwischen auch schon durch Deutschland und Österreich, worüber wir oft lobend im Merker berichtet haben. Von den über 100 Publikationen ganz zu schweigen und den Tonnen Musik-Material, dassich inzwischen frei zugänglich auf der Data-Base bruzanemediabase.com befindet und das man sich jeden Tag 24/24 Stunden auf dem Webradio bruzane.com anhören kann.Für diese riesigeArbeit bekam das Palazzetto dieses Jahr den „Opera Award“ in London, von den vielen Plattenpreisen ganz zu schweigen: im letzten Monat noch den „ Gramophoneclassicalmusicaward“in London für die „Reine de Chypre“ von Halévy und den ersten „Oper! Award“ in Berlin für das beste Soloalbum „Offenbach Colorature“ von Jodie Devos.

Der künstlerische Leiter des Palazzetto Alexandre Dratwicki bekam nun die schwierige Aufgabe, soviel Verschiedenes unter einen Hut zu bringen, in einem großen Galakonzert in Paris und in einer CD Box mit zehn dick gefüllten Platten. Für das zweistündige Galakonzert, das live im Radio übertragen wurde, wählte er 16 Sänger, die dem Palazzetto seit Jahren verbunden sind unter Leitung von Hervé Niquet, der mit dem Münchner Rundfunk Orchester und dem BrusselsPhilharmonicviele seltene Opern für das Palazzetto aufgenommen hat. Jetzt trat er an mit dem Orchestre de Chambre de Paris, mit dem er auch gerade den „Preis der deutschen Schallplattenkritik“ für die „Reine de Chypre“ von Halévy bekommen hat.Sie eröffneten den Abend mit der Ouvertüre von Offenbachs „Madame Favart“, im Juni zu seinem 200. Geburtstag zum ersten Mal seit über 100 Jahren wiedergegeben (wir haben darüber berichtet). Es folgte eine große Trauerarie aus der „Phèdre“ (1786) von Jean-Baptiste Lemoyne, womit die französische Musik aus ihrem klassischen Rahmen ausbrach. Wunderbar gesungen durch Judith van Wanroij. Einer der großen Opern des französischen „Wagnérisme“ war „Lancelot“ von Victorin Joncières (1890 komponiert, aber erst 1900 an den Pariser Oper gespielt und seitdem nie wieder aufgenommen). Eine großartige Szene, dramatisch verkörpert durch Véronique Gens und Cyrille Dubois. Weiter gab es noch eine Arie aus der Oper „Charles VI“ (1843) von FromentalHalévy, das dramatische Finale des ersten Aktes der Oper „Adrien“ (1791 und später für Napoleon neu bearbeitet) von Etienne-Nicolas Méhul und das für ein deutsches Publikum besonderes lustige Finale des ersten Aktes der „Mystèresd’Isis“ von Ludwig Wenzel Lachnith. Denn das war die erste und lange Zeit einzige Fassung von Mozarts „Zauberflöte“ in Frankreich, in der man sich nicht scheute umdeutend in die Handlung einzugreifen und die Königin der Nacht ganz vergnüglich mit ihrem drei Damen undMonostatosauch Arien aus den „Nozze di Figaro“ und dem „Don Giovanni“ singt. Der Opern-Höhepunkt des Abends war ein Duo aus der Oper „Dante“ (1890) von Benjamin Godard, mit der den ganzen Abend überall hervorragenden VeroniqueGens und dem ebenso überall hervorragendenlitauischen Tenor EdgarasMontvidas (der im Februar die Titelrolle in der neuen UA „Egmont“ von Christian Jost im Theater an der Wien singen wird).

Musikalischer Höhepunkt war für uns alle ganz überraschend das „Konzertstück“ (1903) für Harfe und Orchester von Gabriel Pierné, ein Stück, das wir noch nie im Konzertsaal gehört haben, weil es ursprünglich für die chromatische Harfe komponiert wurde, als man um 1900 versuchte die beschränkten chromatischen Möglichkeiten des Instrumentes zu erweitern. (Auf eine Harfe wird eine Note mit Pedal in allen Oktaven einen halben Ton tiefer oder höhergestellt, so erfand man eine „Piano-Harfe“ mit einer Klaviertastatur und eine doppelbespannte „chromatische Harfe“mit weißen und schwarzen Seiten wie auf dem Klavier.) Nun werden auch diese Partituren durch das Palazzetto neu erstellt (und umgearbeitet für die Pedal-Harfe, die sich schließlich durchgesetzt hat). Ein wahnsinniges Stück, ganz wunderbar gespielt durch Emmanuel Ceysson, viele Jahre der durch uns öfters gelobte Solo-Harfenist der Pariser Oper und jetzt der „PrincipalHarp“ an der Metropolitan Opera in New York.

Einziger Minuspunkt war, dass man dem Abend auch noch Operetten-Fröhlichkeit undChampagner-Seligkeit geben wollte mit durch Romain Gilbert inszenierten Slapstick-Einlagen zwischen der „ernsten Musik“.Das war noch lustig, wenn im Liedchen „J’viensd’perdremongibus“ („Ich habe meinen Hut verloren“) von Félix Chaudoir (um 1890), große Opern Arien in einem anderen Kontext eingeschoben werden, glitt aber schon nah an die Gürtellinie in dem Lied „Ich habe meine Hosenträger verloren“ in der „Faust“-Parodie von Frédéric Barbier „Faust et Marguerite“ (1869) und entgleiste völlig in die unteren Regionen, in den Travestie-Einlagen des (Opern) Regisseurs Olivier Py, der ein Gedicht von Victor Hugo verballhornte und dabei versuchteden besonders gut aussehenden Harfenisten zu entkleiden. Das war ein erstaunlicher Stil-, Geschmacks- und Taktfehler bei so einem festlichen Anlass, mit solch hochkarätigen Künstlern vor der „haute volée“ der französischen Musikwelt. Doch sobald der Transvestitden Harfenisten in Ruhe ließ und dieser mit dem Bariton TassisChristoyannis die wunderbare „Melodie für Sänger und Orchester“ von Camille Saint-Saëns „Extase“ (1860) ansetzte, konnte man dies auch wieder vergessen. Der Abend endete mit dem Champagner-Finale aus Offenbachs „La Vie Parisienne“ und einer Standing Ovation aller Beteiligten (Künstler und der ganze Saal) für die sichtlich gerührte Madame Nicole Bru.


Cover der Jubliäums CD Box „The French Romantic Experience“ (10 Platten, 70 €). Copyright: Palazzetto BruZane / Nicola Bertasi

Man kann sich dies nun alles im Live-stream und noch viel besser in der dicken CD Box anhören. 10 Platten für 10 Jahre, nicht chronologisch, sondern interessant und vielseitig nach Genre geordnet. Die Oper bekommt den „Löwenanteil“, die beiden ersten Platten. Nach einer wunderschönen Arie aus „La Toisond’or“ von Johann Christoph Vogel (1756-1788), folgen Arien und Szenen aus ebenso wenig bekannten Opern: „Uthal“ von Méhul, „La Mort d’Abel“ von Rodolphe Kreutzer, „Sémiramis“ von Charles-Simon Catel, „Roméo et Juliette“ von Daniel Steibeltund „Lodoïska“ von Luigi Cherubini – der erste Komponist von dem man zumindest schon mal den Namen kennt. Aber wer kennt diese Oper? Diese Frage kann man sich gleich 32 Mal bei den ersten beiden Plattenstellen. Auf Opern folgen Operetten, Kantaten, Geistliche Musik, Orchester Musik, Konzerte (Solo-Instrument + Orchester), Kammermusik, Klavier und Melodie. Es ist natürlich nicht möglich, diese über 100 verschiedenenWerke in wenigen Sätzen zu rezensieren. Die größte Überraschung waren für mich die „Kantaten“. Diese sind nicht vergleichbar mit Bachkantaten, sondern kleine Opernszenen, die meist geschrieben wurden für den „Prix de Rome“ (und danach meist in den Archiven verschwanden). Debussy zeigte sich unerwartet dramatisch in „Le Gladiateur“ und Bizet schoss energisch übers Ziel hinaus in „La Vendetta“, die man zurecht wohl nie auf einer Opernbühne sehen wird. Aber die schöne „Velléda“ von Xavier Boisselot, die „Clytemnestre“ von André Wormseroder „La Réligieuse“ von Théodore Gouvy scheinen absolut bühnentauglich. Die andere große Überraschung sind die Melodien für Sänger und Orchester. Die Partitur der im Jubiläumskonzert gespielten„Extase“ (1860), wurde erst 2016 mit 18 anderen Melodien für Gesang und Orchestervon Camille Saint-Saëns durch das Palazzetto (wieder)entdeckt. Das sind wirkliche Juwelen, die hoffentlich nun bald wieder auf die Konzertbühnen kommen. Saint-Saëns schrieb, dass es eigentlich verboten sein sollte, um Opernarien auf einer Konzertbühne zu spielen und es doch viel intelligenter sei, um direkt Konzert-Arien zu komponieren. Viele Komponisten folgten seinem Beispiel (u.a. Gounod, Massenet undRaynaldo Hahn –dem der diesjährige Schwerpunkt des Palazzettos gewidmet ist), doch in den Konzertsälen begegne ich nur den Melodien von Berlioz und Duparc. Hoffentlich wird diese CD Box nun vieleMusikfreunde aber auch Konzert- und Operndirektoren auf neue unbekannte Werke aufmerksam machen!

Waldemar Kamer

 

 

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