ORANGE/ Théâtre Antique: GUILLAUME TELL von Gioacchino Rossini und DON GIOVANNI von Wolfgang Amadée Mozart
am 12.7. und am 6.8. 2019
Wir glauben ja immer, wir hättens erfunden, die sommerlichen Musikfestivals, aber Salzburg wird 2020 gerade einmal 100 Jahre alt. Und die Bayreuther Festspiele wurden zwar schon 1976 gegründet, werden dabei aber noch von einer anderen Veranstaltung geschlagen, die schon 1869 ihren Anfang nahm: den Chorégies d’Orange, die somit das älteste sommerliche Festival der Welt sind – und heuer ihr 150jähriges Jubiläum feierten.
Orange ist ein Nest in der Provence mit dem wahrscheinlich kleinsten Bahnhof Frankreichs.
In der „Stadt“ selbst ist auch nicht viel los – es sei denn, es findet am Abend eine Vorstellung im „Théatre Antique“ statt. Dann platzt der Ort aus allen Nähten, dann sind alle Plätze, Cafés, Bars, Restaurants bummvoll mit Horden von Touristen, die vor Beginn der Oper noch rasch ihr überteuertes „Formule“-Menu hinunterschlingen.
Das „Théatre Antique““ist das besterhaltenste römische Theater Europas und es ist eine wahre Wucht. Nicht nur wegen seiner 9000 Sitze und seiner tollen Akustik, sondern vor allem wegen seiner erstaunlicherweise fast vollkommen intakten „Skene“ mit der darin in der Mitte thronenden Augustus-Statue (eine Seltenheit !). Es ist somit einklassiger Fall für die „Bucket-List“ : einmal im Leben sollte man hier schon vorbeigeschaut haben…
Guillaume Tell. Foto: Philippe Gromelle
Zum 150 Jahr-Jubiläum wollte Intendant Jean-Louis Grinda seinem Publikum etwas Besonderes bieten und setzte daher ein hier noch nie gespieltes Werk aufs Programm: Maestro Rossinis letzte(französische) Oper GUILLAUME TELL, zwar nicht in der sechsstündigen, doch zumindest in der vierstündigen Fassung.
Grinda inszenierte selbst, und er macht seine Sache gut und ordentlich. Er ist kein großer Revolutionär, sein Geschmack ist so konventionell wie die Kostüme, aber er versteht es ausgezeichnet, die Chöre zu führen und zu arrangieren und die Protagonisten in diesem Riesenraum geschickt zueinander zu positionieren.Bühnenbild im engeren Sinn gibt es keines, aber genialische Videoprojektionen verwandeln die Theaterrückwand in faszinierender Weise immer wieder in die glaubwürdigsten Schauplätze.
Natürlich wäre das alles nichts ohne ein überzeugendes Ensemble, und Grinda hat einen sehr soliden, sehr homogenen Cast zusammengestellt: allen voran Nicola Alaimo in der Titelrolle, aber auch Annick Massis als revolutionäre Habsburger-Prinzessin Mathilde und Celso Albelo als die eigentliche Hauptfigur Aroldo. Bemerkenswert überbesetzt: Jodie Devos als Tell jr.
Das alles zusammengehalten von der energischen und aufmerksamen Stabsführung Gianluca Capuanos.
Obwohl sich der Tell natürlich nie so einen Platz im Herzen der Zuschauer verschaffen wird wie etwa Aida, Carmen oder Tosca, wurde der Abend zu einem einhellig bejubelten Erfolg.
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„Don Giovanni“. Foto: Festival Orange
Einem dieser populären Herzens-und Ohrwürmer, dem unsterblichen DON GIOVANNI, galt die zweite Premiere der heurigen Saison.
Inszeniert hat Davide Livermore, von dem an zB. in Pesaro unglaublich geniale Regien (u.a. L’Italiana in Algeri oder Ciro in Babilonia) gesehen hat. Hier, wie auch zuletzt bei der Scala-Eröffnung („Attila) ist ihm nicht besonders viel eingefallen, was ja auch am strengen Rahmen dieses Ortes und den Publikumserwartungen dieser Ereignisse liegen mag, die man irgendwie bedienen muss.
Jedenfalls war in Orange sein stärkster Eingriff in die kanonisierte Aufführungstradition die Tatsache, dass Don Giovanni am Anfang von Leporello in einem gelben Taxi mit quietschenden Reifen auf die Bühne chauffiert wird Der.Rest war dann – einschließlich der (sehr schönen) Kostüme aus der Entstehungszeit(Rudy Sabounghi ! – so wie immer…
Was aber nichts zur Sache tat, denn Livermore hatte hier ein so hochkarätiges Ensemble(noch ein paar Karat mehr als das des Tell) zur Verfügung, dass sich der Abend fast von selbst spielte.
Zuvörderst Erwin Schrott als berühmtester Sexualtriebtäter der Operngeschichte. Schrott, der einzige Mann, dem seine Ex nach der Trennung je ein ausgezeichnetes sexuelles Führungszeugnis ausgestellt hat (dazu noch live im russischen Fernsehen), brachte dafür von vornherein die absolute stage credibility mit ( und in der Pause konnte man vielen Damen der Gesellschaft dabei zuhören, wie sie einander versicherten, dass sie nichts dagegen hätten, vom virilen Erwin bei Gelegenheit ein wenig belästigt zu werden.)
Aber Schrott ruht sich auf seinem Ruf nicht aus, sondern singt, spielt, tänzelt und charmiert sich mit nie nachlassender Verve durch das ganze dreistündige dramma giocoso. Ein südamerikanisches Energiebündel, ein darstellerisches Naturereignis.
Mariangela Sicilia in der leeren Arena. Foto: Webseite Sicilia
Nicht minder agil und kraftvoll: Adrian Sâmpetrean als sein alter ego Leporello. Furchterregend die zwei Furien: Karine Deshayes (Donna Elvira) und Mariangela Sicilia (Donna Anna).Verführerisch: Annalisa Stroppa (Zerlina). Patschert: Igor Bakan (Masetto). Mitleidend: Stanislas de Barbeyrac (Don Ottavio). Tödlich: Alexei Tikhomirov (als in einer schwarzen Limousine hereinbrausender Mafiapate-Commendatore).
Die Zügel souverän immer fest in den Händen hielt der verlässliche Altmeister Frédéric Chaslin.
Eine überwältigende, ins Blut gehende Produktion, eine unvergesslich, magische Sommernacht im Süden Frankreichs.
Ps: Am Ende der Vorstellung trat Erwin Schrott vors Publikum und bat es. zu Ehren seiner an diesem Tag Geburtstag feiernden wunderschönen iranischen Gattin „Happy Birthday“ zu singen. was die 9000 Zuschauer dann auch prompt taten. Das soll dem unwiderstehlichen Charmeur mal einer nachmachen…
Robert Quitta, Orange