Opern-Streams rund ums Osterfest, 19.04.2020
Ein persönliches Stimmungsbild
Streamen – das war für mich bisher kein Thema, geht doch nichts über ein Live-Erlebnis. Schon das Stimmen der Instrumente erweckt Vorfreude, gepaart mit der Hoffnung, dass die Menschen im Umkreis nicht bis in die Ouvertüre hinein surfen, miteinander quatschen und ihre Husterei stoppen. Mitten ins Pianissimo zu husten, war lange vor Corona für viele offenbar ein Muss.
Solche Störungen entfallen beim Streamen daheim, und alle Häuser haben zusammen mit den Sendeanstalten blitzschnell die Initiative ergriffen. Sie holen Perlen aus ihren Schatzkästen, senden sie kostenlos und machen mit den ins Netz gestellten Programmen 2020/21 Appetit auf die nächste Saison.
Denn die jetzige wird sich vermutlich nicht komplett zu Ende führen lassen. Das äußerte schon vor Ostern Oliver Reese, Intendant des Theaters Berliner Ensemble. Inzwischen wurden in Deutschland Großveranstaltungen bis Ende August untersagt. Abstand halten ist weiterhin gefordert und vonnöten. Die Bestuhlung der Opernhäuser, Theater und Konzertsäle lässt solches jedoch nicht zu, es sei denn, man würde nur wenige Menschen hineinlassen. Romeo und Julia mit Mundschutz schmusend – das wäre auch mal was Neues.
Andererseits ergibt sich durch die Streams die Chance, Versäumtes nachzuholen, vor Jahren Erlebtes aufzufrischen und sogar Neues zu entdecken. Ähnlich wie bei „Oper im Kino“ lässt sich nun ein genauer Blick auf die Instrumentalisten sowie auf die Gesichter der Sängerinnen und Sänger werfen. Genau ist jetzt zu erkennen, wer die Rolle echt lebt und nicht nur Töne singt.
Für meinen Start ins Streamen sorgte die Berliner Staatsoper, die folgendes veröffentlichte: „Damit Sie auch in Corona-Zeiten nicht auf Opern und Konzerte verzichten müssen, haben wir einen Spielplan zusammengestellt, für den Sie nicht auf die Straße gehen müssen. Erleben Sie zuhause Aufzeichnungen mit Ihren Lieblingskünstlerinnen und -künstlern aus der Staatsoper Unter den Linden. Hier finden Sie die Übersicht zu unserem digitalen Spielplan und den Link zum aktuellen Video-on-Demand-Angebot. Jeden Tag um 12 Uhr wechseln wir unser Programm, das Ihnen dann 24 Stunden zur Verfügung steht.“
Foto: Monika Rittershaus
Sogleich wählte ich Massenets „Manon“ von 2007 unter der Leitung von Daniel Barenboim mit Anna Netrebko in der Titelrolle und Rolando Villazón als ihr Lover, was ich 2007 durch eine längere Auslandsreise verpasst hatte.
Der Stream konnte nun diese Lücke füllen und das in erstaunlicher Qualität. „Die Staatsoper hat damals richtig Geld in die Hand genommen und diese Aufführung in Fernseh-Qualität von Profis aufzeichnen lassen“, weiß Chefdramaturg Dr. Detlef Giese. Heute kann diese „Manon“ nochmals abgerufen werden!
Dass dieses damalige Traumpaar alle sofort begeistert hat, versteht sich von selbst. Die junge Anna – welch eine schlanke Schönheit, welch ein sexy Girl, welch eine überzeugende Schauspielerin.
Foto: Robert Millard
Ihr Sopran, 2007 noch von leichterem Wohlklang, zeigt in den dramatischen Schlussakten, wie viel Ausdruckskraft diese nie schrill werdende Stimme schon damals besaß und welches Potenzial – auch in den tieferen Bereichen – in Annas Sopran bereits enthalten war. Doch wer hätte 2007 erwartet, dass der Glanz von Rolando Villazóns schönem Tenor durch Überforderung so schnell dahinschwinden würde.
Danach war die Met an der Reihe und ließ mich nicht mehr los. Dieses Haus hatte die Saison vorzeitig beendet und bot sogleich Gratis-Streams in HD-Qualität und mit Suchtpotenzial.
Älteres und fast Neues stand und steht weiterhin zur Verfügung, stets das möglichst Beste vom Besten, mit Starbesetzung, fabelhaften Kostümen und zu den Werken passenden Inszenierungen. Oper wie einst, ein Fest für Augen und Ohren und passend zum eigenen Tagesverlauf wählbar. (www.metopera.org).
Johan Botha, Eva-Maria Westbroek. Foto: Metopera.org
Mein Start wurde die Tannhäuser-Premiere vom 31. Oktober 2015 unter der Leitung von James Levine. Johan Botha in der kraftvoll und variantenreich gesungenen Titelrolle gewann – dem Zwischenbeifall zufolge – sofort die Herzen des Publikums. Dass er aufgrund von Leberkrebs nur noch ein knappes Jahr leben würde, merkte ihm sicherlich niemand an. 2016 wurde er zum Ehrenmitglied der Wiener Staatsoper ernannt und starb, erst 51 Jahre alt, in Wien am 08. Sept. 2016.
Unverwechselbar hat er seinen Part mit Leben erfüllt, die Rom-Erzählung – grandios! Mit Michelle DeYoung als Venus und Eva-Maria Westbroek als Elisabeth hatte er perfekte Partnerinnen. In weiteren Rollen gefielen Peter Mattei als Wolfram und Günther Groissböck als Landgraf Hermann von Thüringen. Wie ein Donnerhall setzte sich der Chor des Hauses in Szene, und auch das Orchester ließ keine Wünsche offen.
Der totale Kontrast dann am folgenden Tag: Poulenc’s „Dialogues des Carmélites“, eine Aufführung vom 11. Mai 2019 unter dem neuen GMD Yannick Nézet-Séguin. Zu diesem Chefdirigenten kann man/frau der Met nur gratulieren. Vor vielen Jahren gab er seinen Einstand bei den Berliner Philharmonikern. Jeden Takt setzte er, ohne zappelig zu wirken, körperlich in Musik um. Selbst die Berliner Philharmoniker zollten ihm stehend Beifall. Eine äußerst seltene Anerkennung für einen Newcomer.
Dieses stille und sich während der Französischen Revolution dramatisch zuspitzende Werk nimmt im Verlauf mehr und mehr gefangen. Die Titelpartie der stets von Ängsten geplagten Blanche de la Force sang Isabel Leonard. Blanche war den Revolutionären entkommen, kehrte aber am Tag der Hinrichtung zu ihren Ordensschwestern zurück und legte als letzte den Kopf unter die Guillotine.
Auch Adrianne Pieczonka, Erin Morley, Karitta Mattila und Karen Cargill machten diese Oper zu einer Hommage für diese tapferen Frauen.
Danach Verdis „Con Carlo“ vom 11. Dezember 2010. Große Liebe, große Freundschaft bis in den Tod, bekanntlich Dramatik pur. Selbst wer das Stück gut kennt, kann sich dieser faszinierenden Met-Variante kaum entziehen.
Die Herren Roberto Alagna (Don Carlo), Simon Keenlyside (Rodrigo) and Ferruccio Furlanetto (Philipp II) waren sämtlich bestens bei Stimme. Die Palme errang jedoch der seinerzeit 61jährige Furlanetto.
Wie oft mochte er schon damals die Arie „Sie hat mich nie geliebt (Ella giammai m´amo)“ gesungen und sofortige Ovationen erhalten haben? Die Damen Marina Poplavskaya als Elisabeth und Anna Smirnova als eifersüchtige Prinzessin Eboli beeindruckten ebenfalls, während Nézet-Séguin für den passenden Verdi-Drive sorgte.
Dass viele Musikfans Bizets „Les Pêcheurs de Perles“ (Die Perlenfischer) lieben, zeigte sich sofort in der voll besetzten Met am 16. Januar 2016. Diana Damrau als Priesterin Leila ließ ihre Koloraturen durch den Dschungel strömen, gestaltete aber auch die dramatischen Teile packend. Ein Sopran, kombiniert mit Schauspielkunst, der offenbar alles kann. Auch der Dirigent Gianandrea Noseda engagierte sich hörbar.
Dennoch beherrschen die Arie des Nadir (Matthew Polenzani) „Je crois entendre encore“ und vor allem sein Freundschaftsduett mit Zurga (Mariusz Kwiecien) „Au fond du temple saint“ leitmotivisch das gesamte Stück, das für Bizet leider kein Erfolg wurde. Seit Jahren erobert es nun die Opernbühnen. Viele Stars haben diesen Ohrwurm aufgenommen. Auf Youtube hat die Kombination Hvorostovsky & Kaufmann vom 20.06.2009 bereits rd. 2,7 Millionen Klicks erreicht. Wäre ich Leila gewesen, hätte ich mir den schlanken polnischen Bariton Mariusz Kwiecien (Zurga) erwählt. Von den Männern erhält er zuletzt den größten Beifall.
Doch bei Verdis Schauerstück „Macbeth“ vom 11. Oktober 2014 ist Schluss mit der Ohrenschmeichelei. Ehrgeiz und Mordlust sind angesagt und deutlich wahrzunehmen.
Für die erblondete Anna Netrebko wurde dieses Met-Debüt mit Željko Lučić als Partner zu einem Riesenerfolg, wird doch ihr Sopran selbst in den schlimmsten Szenen nie schrill und gelangt stets ohne Registerbrüche satt in die Tiefe. So wie sie schaffen das nur wenige.
Großartig auch der Bass René Pape als Banquo und der Tenor Joseph Calleja als Malcolm sowie bravouröse Chorsleistungen inklusive. Eine Gänsehaut-Aufführung.
Bescherte Bellinis „Norma“ vom 7. Oktober 2017 ein erleichtertes Aufatmen? Nicht wirklich, denn auch in dieser Oper dominiert das Herzeleid. Sondra Radvanovsky in der Titelrolle – ein Sopran, so rein und klar, mit ganz fein ziselierten und dann wieder dramatischen Nuancen – das war hinreißend und weit mehr als ein perfektes Koloratur-Ereignis.
Eigentlich sollten wir sie jetzt am 18. April als Aida in der Deutschen Oper Berlin erleben. Doch nicht nur diese Vorstellung wurde Corona-bedingt abgesagt.
Als der Römer Sever, der Norma wegen der jüngeren Priesterin Adalgisa verlassen hatte, agiert zunächst betont brutal Joseph Calleja. Erst zuletzt, als er sich wieder Norma zuwendet und freiwillig mit ihr in den Feuertod geht, erhält sein Tenor wieder das warmstrahlende Timbre, für das er international geschätzt wird.
Spannend geraten auch die Duette der beiden Frauen. Beeindruckend singt Joyce DiDonato die Rolle der jüngeren Priesterin Adalhisa als zunächst total in Sever Verliebte. Doch als sie gewahr wird, dass er sich ihretwegen von Norma getrennt hat, will sie von diesem Mann nichts mehr wissen. Resolut widersteht sie seinen Liebesschwüren.
Immerhin gab es stattdessen schon am 06. April den Met-Stream „Aida“, eine Produktion vom Oktober 2018 mit Anna Netrebko in der Titelrolle und der Powerfrau Anita Rachvelishvili (Mezzo) als ihre bitterböse Rivalin Amneris. Aleksandrs Antonenko mit markigem Tenor gab den von beiden Frauen geliebten Radames. Auf Youtube ist er als Otello und mit „Nessun dorma“ aus Turandot zu hören.
Der Aufwand, mit dem die Met diese Aida-Produktion in Szene gesetzt hat, ist fast zuviel des Guten. Vor mächtigen antiken Kulissen tummeln sich Reiter hoch zu Ross, massenhaft siegreiche Krieger oder armselige Gefangene (Chorsänger und Komparsen). Kein Wunder, dass die Met schon länger finanzielle Probleme hat, obwohl großzügige Sponsoren solche Aufführungen ermöglichen.
Weit stärker nehmen die Duette und Terzette vor dunklem Hintergrund gefangen. Wie Quinn Kelsey als Aidas Vater Amonasro seine verzweifelte Tochter erpresst, damit sie dem Radames den Schleichweg des Heeres entlockt, gehört zu den Höhepunkten dieser Aufführung.
Jonas Kaufmann. Foto: Ken Howard/ Metopera
Danach für mich Pause bis zu Wagners „Parsifal“ vom 2. März 2013 mit einem noch sehr jung wirkenden Jonas Kaufmann. Was Bart abrasieren so alles bewirkt. Wie stets hat er sich diese Rolle voll angeeignet. Er ist Parsifal, der reine Tor, der das Geschehen bei den Gralshütern überhaupt nicht versteht und unbeteiligt die blutende Wunde des laut klagenden Amfortas (Evgeny Nikitin!!) von ferne betrachtet.
Ein weißes Hemd verdeckte Nikitins angeblich nazistisches Tattoo aus Jugendzeiten als Black Metall-Musiker. Deswegen unter Druck geraten verzichtete er bekanntlich auf die Rolle des Fliegenden Holländers, die er 2012 in Bayreuth singen sollte. Doch auch ohne die „Bayreuth-Weihe“ gelang ihm seither dank seiner tollen Stimme und Schauspielkunst eine internationale Karriere. An der Met sogar in Wagners Bühnenweihfestspiel.
Mit Jonas Kaufmann in bester Verfassung, René Pape als überzeugender Gurnemanz, Katarina Dalayman als Kundry und Peter Mattei als Klingsor wird dieser gestreamte „Parsifal“ auch zu einem Sängerfest.
Über Ostern haben sich abstandsbedingt sicherlich viele durch die Musik trösten lassen, ich mich durch weitere Met-Streams wie Gounod’s „Roméo et Juliette“ mit Diana Damrau und Vittorio Grigolo sowie durch Donizettis „Don Pasquale“ mit Anna Netrebko als frechen Wirbelwind. John Del Carlo, der sich als reicher alter Mann auf Freiersfüßen lächerlich macht, konnte einem eigentlich leidtun. Am 2. Nov. 2016 mussten die Familie und die Met tatsächlich um ihn trauern.
Und garantiert nicht lustig ist Mozart’s „Cosi fan tutte“, selbst wenn in der Met das Stück vom 31.03.2018 auf einem Rummelplatz spielt und es an Gags, kuriosen Einfällen, Riesenrad und buntem Getier nicht fehlte. Die mir bis auf Christopher Maltman unbekannten Sängerinnen und Sänger machten ihre Sache superb.
Doch welch einen gemeinen da-Ponte-Plot garnierte Mozart mit seiner spritzig-gefühlvollen Musik. Der Inhalt ist desillisionierend. Nach aller Munterkeit bleiben zwei seelisch lädierte Paare übrig, die wohl nie mehr einander voll vertrauen können.
Auch Dvořáks „Rusalka“ vom 08.02.2014, ein Wassernixentraum in allen Grüntönen mit Renée Fleming und Piotr Beczala, hat das schwierige Miteinander zweier Menschen zum Thema. Hinter den weithin verbreiteten Volksmythen verbirgt sich oft viel schmerzlicher Realismus.
Zwei Menschen aus ganz unterschiedlichen Verhältnissen – hier eine kühle schöne Nymphe und ein leidenschaftlich liebender Prinz – passen auf Dauer nicht zusammen. Ihre Liebe scheitert und endet bei ihm in reuevollen Wahnvorstellungen und dem Suizid. Renée Fleming und Piotr Beczala singen und spielen dieses traurige Märchen mit Hingabe und ernten Ovationen.
Rene Pape. Foto: Metopera
Die Ingredienzien Reue und Wahn beherrschen auch Mussorgskys „Boris Godunow“, aufgeführt im Oktober 2010 an der Met. Das Volk vertraut ihm, fast gegen seinen Willen wird er zum Zaren gekrönt. (Der echte Boris herrschte von 1598 – 1605 über Russland).
Glücklich wird er in diesem hohen Amt nicht. Sein Mord am Zarewitsch, um selbst auf den Thron zu gelangen, lastet mehr und mehr auf seiner Seele. Um diese Untat zu sühnen, versorgt er das Volk großzügig, doch in einer Hungersnot knüppeln seine Schergen die um Brot bettelnde Menge nieder.
Boris Godunow ist eine gewaltsame Oper mit einer schillernd gewaltsamen Musik. Bei Valery Gergiev ist sie in besten Händen und bei René Pape als Boris in bester Bass-Kehle. Über einen ebenfalls kräftigen Bass verfügt Mikhail Petrenko als Mönch und Chronist Pimen.
Gegenspieler von Boris wird ein ehemaliger Mönch, der nach Litauen flüchtet ist. Wie der ermordete Zarewitsch nennt er sich Dimitrij und behauptet, den Anschlag überlebt zu haben. Mit einem Heer rückt er gegen Moskau an, um auf den Zarenthron zu gelangen. Der stattliche Aleksandrs Antonenko in dieser Rolle punktet mit einem kraftvollen Tenor.
Das Volk probt den Aufstand, rüde Folterszenen schrecken. Boris Godunow, in Halluzinationen immer häufiger das ermordete Kind sehend, verfällt zunehmend dem Wahnsinn. Genau lässt der Stream erkennen, wie Papes Lippen zittern, seine Augen schielen und er als Wrack zusammenbricht. Er ist jetzt Boris Godunow, und wie er seine fordernde Rolle in dieser Anspannung singt, ist eine Wunderleistung. Donnernder Applaus in der Met und für mich der albtraumhaltige Höhepunkt aller bisherigen Streams.
Lässt sich solch eine Leistung wiederholen? Gesanglich vielleicht in etwa, womöglich auch von René Pape selbst bei der virtuellen „At-Home Gala“ der Met am 25. und 26. April, eine Corona bedingte wagemutige Initiative.
Dann singen 40 internationale Stars live an ihrem Wohnsitz und werden von dort direkt zugeschaltet. Die bisherige alphabetische Liste reicht von Ildar Abdrazakov bis Sonya Yoncheva. Zugeschaltet werden auch General Manager Peter Gelb and Musikdirektor Yannick Nézet-Séguin. Eine Premiere neuer Art.
Ursula Wiegand