Interview mit Olivier Py vom 30.11.2023
Olivier Py. Foto: Christophe Raymond de Lage
Olivier Py geboren 1966 in Grasse ist Schauspieler, Regisseur, Theaterintendant und Dramatiker. Neben einer Ausbildung an der renommierten Pariser Theaterschule Ecole de la rue Blanche und später am Conservatoire National Supérieur d’Art Dramatique, studierte Olivier Py, der gläubiger Katholik ist, auch Theologie.
Seit 2001 inszeniert er auch Opern, so am Grand Théâtre de Genève, am Opéra National de Paris, am Theater an der Wien und der Oper der Stadt Köln. Olivier Py hat eine Vielzahl von Theaterproduktionen entworfen, geschrieben und selbst herausgebracht. 1988 wurde Olivier Py zum Direktor des Centre Dramatique d´Orléans ernannt, anschliessend war er von 2007 bis 2012 Intendant des Pariser Théâtre de l´Odéon. Von 2013 bis 2021 leitete er das Festival d´Avignon und heute ist er Direktor des Théâtre du Châtelet in Paris.
Eine Begegnung mit ihm ergab sich anlässlich seiner Neuproduktion von Orphée aux enfers an der Opera de Lausanne.
Olivier Py, Sie haben ein bisschen was von einem Schweizer Messer, denn Sie sind in Frankreich und international als Regisseur, Autor, Interpret und sogar ein bisschen als Sänger bekannt… Welche dieser Rollen ist in Ihrem Leben wichtiger?
Meine Schweizer Seite besteht vor allem darin, dass ich am Grand Théâtre de Genève mit dem Regieführen begonnen habe, wo ich etwa zehn Produktionen gemacht habe. Die Westschweiz war schon immer ein Teil meines Lebens.
Wie sind Sie auf die Oper gekommen? Was ist Ihre erste Erinnerung daran?
Ich hatte eine Urgrossmutter, die Musikerin war (Gesang und Klavier), und sie war es, die mich in die Oper eingeführt hat. Als ich im Alter von 17 Jahren nach Paris kam, begann ich, die Oper zu besuchen. Ich erinnere mich besonders an Alfredo Kraus in Romeo und Julia. Selbst als ich jung war, habe ich diese Kunst nie als verstaubt angesehen. Damals nahm ich Gesangsunterricht, eine Kunst, mit der ich immer einen Dialog geführt habe. Und damals stand man die ganze Nacht an, um einen Platz für 25 Francs zu bekommen … diese billigen Plätze waren sehr begehrt. Der Preis der Plätze ist immer noch das grösste Hindernis für den Zugang zur Oper, meiner Meinung nach gibt es kein anderes.
Wie sieht Ihre musikalische Welt aus?
Ich bin völlig polymorph. Ich höre gleichzeitig Jazz, Klassik, französische Chansons, Rap… ich höre alles. Deshalb ist es wie eine Logik des Schicksals, dass ich mich am Châtelet wiederfinde, denn es ist der Schauplatz aller Musiken.
Ich habe das Montreux Jazz Festival immer sehr genossen.
Wenn Sie in der Zeit zurückreisen könnten, welchem Opernsänger/welcher Opernsängerin würden Sie zuhören?
Zuerst Leonie Rysanek, dann Shirley Verrett und Gwynneth Jones, Maria Ewing. Es sind vor allem Frauen, die ich mir anhören würde, weil sie mich alle sehr beeindruckt haben. Nicht nur wegen ihrer Stimmen, denn ein Opernkünstler ist mehr als nur eine Stimme, er ist ein Ganzes. Sie repräsentieren das Höchste, was eine Person auf der Bühne sein kann. Durch sie habe ich eine bestimmte Vorstellung vom Theater kennengelernt.
Sie inszenieren Orpheus in der Unterwelt im Dezember in Lausanne. Was sehen Sie in diesem Werk, das bei einem heutigen Publikum ankommt?
Ich bin mir nicht sicher, ob es notwendig ist, dass die Werke mit der Moderne resonieren. Leonardo da Vinci zum Beispiel hallt nicht mit der Gegenwart wider und das ist auch nicht nötig. Wichtig ist, dass es sich um ein grosses Kunstwerk handelt und dass es von der Menschheit spricht, und zwar unabhängig von der Epoche. Man muss über den Zustand des Menschen in seiner universellen und nicht aktuellen Bedeutung sprechen. Dafür ist es besser, ins Theatercafé zu gehen oder noch besser, Journalisten zuzuhören. Ich bin in der Oper sehr misstrauisch: Die Werke mit guten Ideen zu überhäufen, weil sie dem aktuellen Zeitgeist entsprechen.
Orpheus in der Unterwelt handelt von Lügen und ist ein zeitloses Thema. Es geht um eine Gesellschaft, in der die Werte verlogen sind und in der die Mächtigen moralische Werte verkünden, um sie dann nach Belieben zu unterlaufen.
Was gefällt Ihnen an der Entwicklung der zeitgenössischen Inszenierung?
Man sollte nicht versuchen, die zeitgenössische Szene gegen eine klassische Szene auszuspielen – die ich nicht einmal beschreiben könnte. Mir gefällt sehr, was sich derzeit auf den Bühnen abspielt. Es gibt eine Lesart der Werke, die immer intelligenter und lebhafter wird. Die Regisseure haben an Freiheit gewonnen, was eine sehr gute Sache ist. Für mich ist die Oper ein aussergewöhnliches Experimentierfeld und keineswegs eine reaktionäre Kunstform.
Was würden Sie in Wien inszenieren, wenn man Ihnen freie Hand lassen würde? Und würden Sie den Wienern Miss Knife als ersten Teil vorführen?
Ich habe bereits drei Mal in Wien am Theater an der Wien Regie geführt und erinnere mich mit Freude daran. Es ist ein vorbildliches Theater, ideal für Regisseure. Mit Teams, die speziell für die besagte Aufführung zusammengestellt wurden, sehr reaktionsschnell sind und viel Zeit für Proben haben. Ich habe es geliebt dort zu arbeiten.
Wenn ich in Wien freie Hand hätte, würde ich natürlich den Ring inszenieren! Meine persönliche Note ist, dass ich den Ring als Spiegel der Geschichte des 20. Jahrhunderts aufführen würde. Ich bin mir bewusst, dass dieses Jahrhundert seit über zwanzig Jahren vorbei ist, aber ich finde es notwendig, daran zu erinnern, was dieses Jahrhundert war. Für mich ist der Ring eine Prophezeiung des 20 Jahrhunderts.
Miss Knife würde nicht dazu gehören, da sie einer anderen Welt angehört, nämlich der des Kabaretts. Ich hatte das Glück, für grosse Gesangs- und Theaterinstitutionen arbeiten zu können, und Miss Knife diente mir als „Gegenpol“. Sie ermöglicht es mir, eine spielerischere Seite der Bühne mit einer intimeren und unmittelbaren Beziehung zum Publikum anzugehen. Ich mag es, dass es neben meiner „offiziellen“ Karriere eine „heimliche“ Seite behält. Trotzdem werde ich nächstes Jahr wahrscheinlich wieder Miss Knife singen, wenn ich die Kraft dazu habe. Ich habe übrigens nicht viel in der Schweiz gesungen, nur in Lausanne im Théâtre de Vidy.
Danke für das Interview.
Marcel Emil Burkhardt