NÜRNBERG /Staatstheater: LA TRAVIATA

Chor des Staatstheaters Nürnberg und Elisa Verzier (Mitte). Foto: Pedro Malinowski
16.10.2025 (Werner Häußner)
Das Konzept, nach dem Ilaria Lanzino ihre Regiearbeiten entwickelt, ist so einfach wie schlüssig: Sie untersucht die Stoffe vergangener Epochen auf die zugrunde liegenden gesellschaftlichen und moralischen Konflikte und übersetzt sie konsequent in die Gegenwart. Giuseppe Verdis Violetta Valéry stirbt in ihrer Nürnberger Inszenierung nicht an Schwindsucht, sondern an Depressionen, verbunden mit Alkohol und Drogen. Das ist nicht neu – schon Peter P. Pachl ließ 2003 in Halle seine Protagonistin in giftiger Chemie untergehen. Aber Lanzino geht einen Schritt weiter: Verdi und Francesco Maria Piave fanden den tiefsten Grund für das Zerbrechen der „Traviata“ in starren gesellschaftlichen Konventionen und sozialen Schranken. Heute stirbt sie an den Folgen eines Stigmas, das ihr in der digitalen Welt verpasst wird – unauslöschlich, unausweichlich, unbarmherzig. Sie ist zur #whore gestempelt.
Wie es dazu kommt, erfahren wir im Vorspiel, in schmerzhaftem Kontrast zur wehmütigen Melodie des Orchesters: Eine Party ist im Gang, eine junge Frau trinkt zu viel und wird von einer Männerhorde vergewaltigt. Der Missbrauch wird gefilmt und verbreitet sich im Netz, begleitet von hämischen Kommentaren. Ab jetzt ist das Opfer hilflos ausgeliefert. Eine digitale Hetzjagd, victim blaming, Ächtung: Beispiele für solche Schicksale gibt es in der Realität genug. Lanzinos Zugriff holt „La Traviata“ gnadenlos zurück ins Jetzt, die Oper wird zu dem, was sie 1853 war – ein Zeitstück.
Das Fest zu Beginn ist der erste Schritt der Violetta, sich das Leben zurückzuholen, wieder Kontrolle über ihre Existenz zu erlangen. Alfredo, der junge Mann, der nichts weiß und sich verliebt, schlägt eine scheu ertastete Brücke in eine neue Realität. Das schmierige Ambiente einer Toilette ist der Schutzraum, in dem das Trauma überschritten, authentisches Gefühl zugelassen werden kann. Beim „sempre libera“ zieht Violetta ihren Schutzanzug, ein Bunny-Kostüm aus. Wie auch in anderen Passagen des Librettos liest Lanzino die Worte neu, stellt sie in andere Zusammenhänge: Hier geht es nicht um die ungezügelte Lust am Vergnügen, sondern um die Freiheit von den inneren Belastungen.
Aber das Netz vergisst nicht: Lanzino holt die jungen Verliebten im zweiten Akt mitten hinein in die wohlgesetzte Lebenswelt der Familie Alfredos, zu der die „Traviata“ nur zu gerne gehören würde. Martin Hickmann implementiert seiner schwarzen, in vier funktionale Ebenen gegliederten Bühne ein helles, altmodisches Esszimmer – in seiner Art auch ein Gefängnis. Die Schwester Alfredos (Sophia Czerwinski) herzt Violetta, die Mutter (noch eine stumme Rolle: Andrea Schwendtner) grüßt huldvoll. Doch der Verlobte des „reinen Engels“ (stumm, aber beredt agierend: Godwin Thomas) entdeckt das kompromittierende Video, stürmt moralempört weg von Braut und Suppenterrine. Vater Germont, anfangs ganz der milde Patriarch, rettet Reputation und Tochterglück. Während oben das Mädchen mit dem Hochzeitsschleier posiert, zertrümmert der wohlmeinende Alte unten Violettas letzte Chance auf ein Leben jenseits des Stigmas.
Ilaria Lanzino inszeniert solche Szenen mit aufmerksamer Detailarbeit und profundem Blick auf psychologische Nuancen bis in die letzte Zuckung der Mundwinkel ihrer Darsteller. Damit das Konzept aufgeht, muss Verdis Partitur einige Straffungen über sich ergehen lassen. Nebenfiguren fallen weg, Texte werden angepasst. Wenn Vater Germont von seiner Tochter erzählt, die vorher schon mit Violetta geschäkert hat, wird der Wortlaut des Textes marginalisiert; auch die Arie „Di Provenza il mar …“ verblasst zu einem allgemeinen Trostgesang für Alfredo. Je tiefer Violetta in Sucht und Trauma versinkt, desto irrealer wird ihre Welt: Im letzten Bild, mit einem Krankenbett in gleißender Helle (atmosphärisch packende Lichtregie: Susanne Reinhardt) steht Violetta außer sich, betrachtet ihre in den Kissen sterbende Hülle. Die Personen nehmen sich nicht mehr wahr – „Parigi o cara“ ist längst der Realität enthoben; nur für einen Moment führt das Duett die beiden Liebenden zusammen, während Alfredo längst eine neue Frau an seiner Seite hat.
Björn Huestege ist für die musikalische Seite dieser Produktion mit Mut zum Risiko verantwortlich. Er tendiert mit der Staatsphilharmonie Nürnberg eher zu einem symphonisch kompaktem als zu einem duftig-lyrischem Stil. Das bedeutet jedoch keinen Verzicht auf die bei Verdi so essenzielle sensible Detailarbeit. Die Holzbläser bezaubern mit Finesse in der Abstimmung mit den Stimmen – so die Klarinette in „croce e delizia al cor …“ – und mit pulsierenden Rhythmen jenseits knalliger Direktheit. Die Abmischung mit den Streichern klappt vorzüglich und kreiert leuchtende Harmonien. Huestege ist in Tempo und Phrasierung ganz bei den Stimmen. Ein Abend, der die Qualitäten der Staatsphilharmonie wieder einmal strahlen ließ.
Das gilt entsprechend für den Chor, den Tarmo Vaask mit straff-kantigem Klang nicht auf pure Schönheit, sondern auf szenische Glaubwürdigkeit getrimmt hat: Die fröhliche Bande in den kunterbunten Kostümen von Carola Volles ist eben nicht nur ein unbeschwert beschwipstes Feiervölkchen, sondern auch eine aggressive Meute mit stiergehörnten Kerlen und rücksichtslos die grellen Lichtpunkte ihrer Handycam zückenden Bitches. Die andere Facette der alternativen Clique ist eine besorgte Loyalität, wie sie exemplarisch von der Flora Sara Šetars verkörpert wird. Wie stets lässt Ilaria Lanzino auch die Randfiguren nicht außer Sicht: Laura Hildens ein bisschen verhuschte Annina, Kellan Dunlaps sympathisch abgedrehter Gastone, Demian Matushevskyis gefährlicher Douphol, Nicolai Karnolskys wackerer Doktor Grenvil und Wonyong Kang als Obigny setzen bewusste szenische Akzente.
In der Besetzung der Hauptpartien spielen in einer so zugspitzten Inszenierung Stimme und Typ eine gleichwertige Rolle: Dass deshalb keine musikalischen Kompromisse eingegangen werden mussten, spricht für das Ensemble des Nürnberger Staatstheaters. Elisa Verzier durchlebt vom koketten Girlie über die hoffnungsvolle junge Frau bis zum zerrütteten Opfer die Stadien ihrer Existenz mit vollem Körper- und Stimmeinsatz. Sie brilliert in den delikaten lyrischen Zwischentönen, im feinfühligen Mezzoforte, weniger in den Momenten der Exaltation oder der dramatischen Bögen. Reserven bringt Verzier nicht ein, aber das Sfumato und die weiche Biegsamkeit in „Addio del passato“ ist zauberhaft. Ihre schmale, zerbrechliche Erscheinung passt zum Rollenbild; der körperliche Zerfall – analog zum seelischen Ersterben – ist erschütternd.
Die Rolle des Alfredo so zu gestalten, dass daraus eine Person jenseits des typischen, leicht verpeilten Verdi-Tenorliebhabers wird, ist vielleicht die schwierigste unter den Herausforderungen der „Traviata“. Sergei Nikolaev gelingt es exemplarisch, diesen unsicheren, in seinen sozialen Bezügen gefesselten jungen Mann Statur und Stimme zu geben. Sein Tenor ist nicht gesegnet mit dem strahlenden „squillo“ eines Alfredo Kraus, hat nicht den dramatischen Rückhalt eines Placido Domingo oder die feinen Lasuren eines Tito Schipa. Aber er hat von all dem etwas und mischt daraus eine in sensible Töne gefasste Rollenstudie, die den Konflikt dieses jungen Menschen in der physischen wie vokalen Darstellung durch und durch überzeugend ausdrückt. Sangmin Lee hegt als wohlmeinender Familienpatriarch Germont Sympathien für Violetta, die mit der Denunziation Violettas umschlagen: Seine balsamischen, eher in sanfter Piano-Kultur als in brillanter Baritonpracht gesponnenen Phrasen täuschen nicht darüber hinweg, dass er in aller Konsequenz die Familienkonvention durchsetzen will.
Mit diesem überzeugenden Transfer einer der beliebtesten Opern des Repertoires in ein Problemfeld des 21. Jahrhunderts hat Ilaria Lanzino erneut bewiesen, dass sie in die Spitzengruppe regieführender Personen der Gegenwart aufgestiegen ist. Der internationale Opern-Regiepreis 2023 für ihre Inszenierung von Stanislaw Moniuszkos „Jawnuta oder Roma Erzählungen“ am Teatr Wielki Poznan und die Nominierung für den International Opera Awards 2024 für Thea Musgraves „Mary, Queen of Scots“ an der Oper Leipzig sind dafür ebenso eindrucksvolle Belege wie die Auszeichnung mit dem Europäischen Opern-Regiepreis 2020 für Stanislaw Moniuszkos „Straszny Dwór“ („Das Gespensterschloss“). Demnächst von ihr zu erwarten sind die Wiederaufnahme von Verdis „Nabucco“ an der Deutschen Oper am Rhein in Duisburg (8. November), eine Neuinszenierung des „Barbier von Sevilla“ in Weimar (24. Januar 2026) und Korngolds „Die tote Stadt“ (9. Mai 2026) in Hannover.
Werner Häußner

