NÖ / St. Pölten / Landestheater Niederösterreich:
WEH DEM, DER LÜGT von Franz Grillparzer
Premiere: 25. Jänner 2014,
besucht wurde die Generalprobe
Das kommt davon, wenn man zu lange der „Nationaldichter“ war, bei jedem staatlichen Repräsentationszweck hervorgeholt. Heute hingegen – die Zeiten haben sich geändert, Patriotismus, nationale Literatur, hehre Dichtung haben abgedankt – interessiert sich faktisch niemand mehr für Franz Grillparzer. Wenn Hartmann im Burgtheater die „Ahnfrau“ zeigte, machte er ein schamloses Geblödel daraus, das vermutlich nur er selbst lustig findet. Sonst kommt in Wien niemand diesem wunderbaren, spröden, genialen Dichter auch nur in die Nähe. Da muss man eben nach St. Pölten fahren. Immerhin weiß dort ein Regisseur, mit wem er es zu tun hat.
Dabei kann man nicht sagen, dass Regisseur Alexander Charim (in deutschen Landen vor allem für Opern unterwegs) „Weh dem, der lügt“ unbeschädigt belassen hätte – bei einer Spieldauer von nicht viel mehr als 80 Minuten hat er ungefähr die Hälfte des Stücks und mehr „weggeschlägert“. Dafür hat er sich für die verbliebene Hälfte ausreichend den Kopf zerbrochen. Und nach Grillparzer im Zusammenhang mit gerade diesem seinem Stück gefragt – sein einziges Lustspiel, bei der Premiere so erfolglos, dass der Dichter sich umdrehte und nie wieder ein Stück von sich auf der Bühne sehen wollte (glücklicherweise schrieb er wenigstens weiter).
Ein Lustspiel, das, so wie Charim es sieht, kaum mehr eines ist. Eine Geschichte, an der er auch weniger die titelgebende Vorgabe (wie, um Gottes Willen, soll man ohne Lüge durchs Leben kommen?) betrachtet, sondern den Hintergrund. Nicht unbedingt die historische Situation irgendwann im 6. Jahrhundert am Rhein, hier die Franken, dort die Barbaren jeweils am anderen Ufer, in feindselige Auseinandersetzungen verstrickt. Im Grunde schildert er an der Geschichte des Küchenjungen Leon, der von Trier nach „drüben“ in den Rheingau aufbricht, um mit List einen Gefangenen zu befreien, den Versuch, mit Geschick und Diplomatie gegen eine Welt der brutalen Gewalt anzukämpfen.
Darüber hinaus aber hat Alexander Charim nach dem Dichter selbst gefragt. Wenn der Küchenjunge Leon im Stück einfach nur dagegen rebelliert, dass er seine Profession wegen des vermeintlichen Geizes seines Herrn, des Bischofs, nicht ausüben kann und die Nase davon voll hat – dann ergänzt Charim als Ausgleich für gewaltige Striche eine Passage aus Grillparzers Tagebuch, die den Überdruss an seinem Leben und an Österreich, wie es sich ihm präsentierte, formuliert: Und so, wie Hauptdarsteller Jan Walter da steht, mit wildem Schopf und empörter Entschlossenheit, ja, da ist er der junge Grillparzer schlechthin. Und wenn am Ende Florentin Groll als Bischof Gregor über Wahrheit oder nicht Wahrheit grübelt (dramaturgisch geschickt mit dem Material des Textes waltend), da gleicht er ganz bewusst den Bildern des alten Grillparzer, des Hofrats, des müden Philosophen: Das Aufbegehren des jungen Grillparzer ist in die Resignation des alten Mannes übergangen – und dazwischen hat er die meisten seiner Kämpfe doch eher verloren als gewonnen. Das ist schön und klug gemacht, ein überzeugendes Bild, ein biographischer Bogen um das Stück geschlungen.
Und weil es also um Grillparzer, den Dichter und sein Stück geht, kann die Aufführung auch in einem Biedermeier-Zimmer (Ivan Bazak) und anfangs auch Biedermeier-Kostümen spielen (die nach und nach so indifferent werden, dass sie keine Zeit mehr widerspiegeln). Ein Bühnenbild übrigens, das ganz fabelhaft zerlegt (und am Ende – ein Kasten! – wieder zusammengesetzt) werden kann. Wobei der Regisseur – außer einmal einem „Regen“ von Schutt von oben herab, außer einem nach vorne getragenen Biedermeier-Landschaftsgemälde – nicht viel szenischen Aufwand braucht (Geräusche und Musik spielen allerdings stark mit). Da wird dann die Geschichte von Leon erzählt, aber nicht als lockerer Scherz, sondern schon eher als Überlebenskampf in feindlicher Welt: Des Bischofs Neffen Attalus beim nicht ungefährlichen Grafen Kattwald finden, sich nebenbei in dessen Tochter Edrita verlieben und sich mit deren tumben Verlobten Galomir anlegen – aber auch der „dumme“ Galomir, den Grillparzer selbst nicht als den Trottel empfunden hat, als der er meist gespielt wird, bleibt hier nicht eindimensional: Wenn er in empörte Ausbrüche über Dreck ausbricht, dann ist das von Rainald Goetz geliehen (wie das Programmheft hilfreich klar macht). Das Happyend gibt es immer noch und es ist beglückend, aber die Frage nach einer so verwirrenden Welt, dass man sie eigentlich nicht verstehen kann, bleibt dem Besucher als Schlusserkenntnis dieses bemerkenswerten Theaterabends…
Wobei Jan Walter (laut Internet schon überraschende 30) einmal wirklich wie ein ganz junger Bursche wirkt, kein mittelalterlicher Burgschauspieler, der den Küchenjungen hüpft. Er kann alles, was er soll (eine so ausgefeilte Sprache – wer hat das heute noch), selbst kochen, obwohl die Gerüche von Zwiebel und Paprika, die er da echt auf der Bühne brutzelt, auf die Dauer nicht so angenehm über dem Zuschauerraum hängen… Bedenkt man, wie wenig er und seine Partnerin Swintha Gersthofer in Nestroys „Jux“ zeigen konnten und wie exzellent die beiden hier sind, sie stark und entschlossen und kämpferisch und dabei reizend, dann wird man doch den Verdacht nicht los, dass gute Schauspieler eben auch gute Regisseure brauchen…
Charims Kürzungen beziehen auch den in letzter Zeit auf der Bühne oft (zu oft) benützten Trick ein, ein- und denselben Schauspieler viele Rollen verkörpern zu lassen. Immerhin, wie Florentin Groll ohne andere Hilfe als seine eigenen Fähigkeiten einen kummervollen fränkischen Bischof und einen barbarischen Fürsten differenziert, letzteren nicht als ungeschlachten Wilden, sondern als gefährlich coolen Diktator zeigend (nur das Handy mit Kopfhörer wäre hochgradig verzichtbar gewesen), dann weiß man wieder, was St. Pölten an ihm hat. (Besser hier große Rollen als im Burgtheater keine, nicht wahr?) Zwar sind die Gestalten des Atalus und des Galomir durch die Kürzungen so reduziert, dass vor allem von Ersterem wenig übrig bleibt, aber Pascal Groß und vor allem Tobias Voigt sorgen für die Präsenz ihrer Figuren.
Es ist natürlich eine Inszenierung für „Fortgeschrittene“, wenngleich sie der Geschichte des Stückes ausreichend verpflichtet bleibt, um sie – wenn auch gewissermaßen im „schnellen Durchlauf“ – zumindest zu erzählen. Aber für die Fortgeschrittenen ist „Nachdenken über Herrn Grillparzer“ angesagt, und mehr Respekt kann man einem Autor kaum erweisen.
Renate Wagner